Grüne: Die Scheu vor Neuwahlen

Flickr/​Stephan Roehl

Wenn die SPD die Große Koalition ablehnt, könnten Neuwahlen anstehen. Die Grünen würden nach Umfragen deutlich zulegen. Doch bei der Vorstellung von Wahlen wird ihnen mulmig zu Mute – Warum?

An einem Frühabend im Februar sitzt der Minis­ter­prä­sident von Baden-Württemberg in der Bibliothek der Villa Reitzen­stein hoch über Stuttgart und trauert einer „histo­ri­schen Chance“ hinterher. Die sieht er aber nicht in der an der FDP geschei­terten Regie­rungs­son­dierung des letzten Herbstes, sondern in jener davor. „Die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn wir 2013 Schwarz-Grün gemacht hätten“, sagt Winfried Kretschmann. Und dass man abgestraft würde, wenn man solche histo­ri­schen Chancen verstreichen lasse. Das werde FDP-Chef Christian Lindner auch noch merken.

Nur Grüne und Union regierungsbereit

Worüber er indes überhaupt nicht redet, ist die Möglichkeit eines erneuten Kairos im Falle von Neuwahlen. Union und Grüne sind die beiden einzigen Parteien im deutschen Bundestag, denen man eindeutige Regie­rungs­be­reit­schaft unter­stellen kann. Die SPD wird stärker denn je von ihrer „bipolaren Störung“ geschüttelt, wie Daniel Cohn-Bendit ihr Schwanken zwischen Depression und Euphorie, Abgesang und Aufbruch, staats­po­li­ti­scher Verant­wortung und radikaler Eigen­be­schäf­tigung nennt. Die FDP will keine Kompro­misse machen, was in der politi­schen Realität nur in der Opposition geht, die Links­partei ist notorisch regie­rungs­un­fähig und mit der AfD regiert zumindest bis auf weiteres niemand.

Die Grünen haben plötzlich einen klaren Wettbe­werbs­vorteil durch ihre in den Sondie­rungen gezeigte Bereit­schaft, das Land vor die Partei zu stellen und den realen Kompromiss vor die Anbetung des Absoluten. Sie erscheinen in einem breiteren Spektrum derzeit als Partei der Vernunft, der Verläss­lichkeit und des Gemein­wohls. Ich sage: Erscheinen. Aber darum geht es ja schon auch in einer Gesell­schaft, in der sich die meisten Leute maximal zehn Minuten in der Woche mit Politik beschäf­tigen, wie Kretschmann seinen Leuten einzu­b­läuen pflegt.

Die Bindungs­kräfte der Ex-Volks­par­teien schwinden, die Wähler entscheiden situativ-emotional, warum also nicht auf Verdopplung der 8,9 Prozent gehen?

Doch keiner bei den Grünen würde derzeit eine relativ schnelle Regie­rungs­mög­lichkeit strate­gisch forcieren. Das hat eine Reihe von Gründen. Zum einen geht man bei allem poten­ti­ellen Irrsinn davon aus, dass die SPD-Mitglieder am Ende für den von der SPD-Spitze verein­barten Koali­ti­ons­vertrag stimmen werden. Klar, die Jungen wirbeln für den ganz heißen neuen Kevinismus, aber das Gros der Mitglieder sind Rentner, die auf ihre alten Tage keine Revolution mehr machen. Falls doch, gibt es die Möglichkeit, dass der geschäfts­füh­renden Kanzlerin Angela Merkel dann eben doch zunächst eine Minder­heits­re­gierung gelingt, indem sie den von der SPD gutge­hei­ßenen Koali­ti­ons­vertrag ohne Regie­rungs­be­tei­ligung der SPD angeht.

Manche Grüne hängen noch an morali­scher Unbefleckheit

Der dritte Grund ist, dass die Grünen fürchten, dass nach Neuwahlen die CDU nicht mehr die Merkel-CDU der Sondie­rungen wäre, sondern geschrumpft und weniger liberal. Und der Vierte, dass die AfD zulegt. Und dann ist es halt schon auch so, dass die Grünen zwar mächtig stolz darauf sind, wie sie in den Sondie­rungen die Kompro­misse hinge­kriegt haben. Mit der Union, aber vor allem auch unter­ein­ander. Manche sind indes gleich­zeitig auch nicht richtig unglücklich, dass sie ihre neuen Tugenden nicht in einer Realität voller Schwie­rig­keiten täglich gegen die schöne Kultur der morali­schen Unbeflecktheit durch­setzen müssen.

Und dann ist es schlicht so, dass die neuen Partei­vor­sit­zenden Annalena Baerbock und Robert Habeck ja für den internen Kultur­wandel und eine gesell­schaft­liche Verbrei­terung gewählt wurden, aber damit gerade erst anfangen. Es wird auch nicht ohne eine neue Art von Führung gehen. Wenn jetzt jemand anderes noch mindestens ein Jahr regiert, und dann wird gewählt, so könnte jeden­falls die Kalku­lation in der Partei­zen­trale sein, dann haben wir das so entwi­ckelt, dass wir bereit sind.

Aber da ist noch eine andere Dimension. Die Lage wird zusehends ernster, die Gesell­schaft brüchiger und an unter­schied­lichsten Stellen arbeitet man an einer Rückkehr in das alte politische Rechts-Links-Schema. Von Wagen­knecht über Kühnert zu Lindner, Spahn und Dobrindt. AfD sowieso.

Wenn die Anti-Estab­lishment-Bewegung der SPD ihr „endlich wieder links“-Sentiment ernst meinte, dann müsste sie sich nach Verwei­gerung der Regie­rungs­ver­ant­wortung umgehend an die Bildung einer linken Sammlungs­be­wegung machen. Man kann an Melenchon sehen, dass so etwas in Richtung antieu­ro­päisch und antili­beral geht. Die sozial­de­mo­kra­tisch-liberal agierende CDU-Kanzlerin Merkel ist geschwächt und würde es in einer Kultur­kampf-Konstel­lation im alten Rechts-Links-Modell sehr wahrscheinlich noch mehr.

Egal ob Links oder Rechts – Verlierer ist die Freiheit

Die entschei­dende Dynamik entsteht aber nicht im Rechts-Links-Vertei­lungs­schema, so sehr klassische Linke sich das auch wünschen mögen. Sondern in der Identi­täts­frage zwischen liberal und national. Wer bin ich, zu wem gehöre ich, wodurch steht mir das zu, das ich verdiene? Das sind die Fragen der Gegenwart. Egal, wer sich in einer Konfron­tation zwischen Links und Rechts durch­setzte, der Verlierer wäre die liberale europäische Gesell­schaft. Gleich­zeitig ist eine Rückkehr in die alte Ordnung der sicherste Weg, die schick­salhaft mitein­ander verknüpften Zukunfts­fragen völlig aus den Augen zu verlieren: Erder­hitzung, Klima- und Ressour­cen­kriege, Künst­liche Intel­ligenz, Digita­li­sierung und ihre Auswirkung auf Erwerbs­arbeit und Freiheit, Ende der alten Weltordnung.

Wer da jenseits der über fast alle Parteien verteilten Anti-Estab­lishment-Wütenden demnächst mit anderen eine demokra­tische und liberale Mehrheit bilden möchte, die zudem willens ist, Zukunfts­po­litik in der Regierung in Kompro­missen zwischen den unter­schied­lichen Inter­essen voran­zu­treiben, der kann und darf nicht selbst zur Eskalation der Lage beitragen.

„Radikale Sprüche produ­zieren bringt nichts“, sagt Winfried Kretschmann in seiner Bibliothek in Stuttgart. Er redet über Sokrates, über Kant, über „Polit­kitsch“ von „Möchtegern-Konser­va­tiven“ wie Dobrindt und wie sie in Baden-Württemberg die Hegemonie gewonnen haben. Der Minis­ter­prä­sident hat seine Grünen als ökoso­zi­al­li­berale Partei positio­niert, auf die die Leute sich verlassen können. Robert Habeck hat das in Schleswig-Holstein genauso gemacht. Gegen die Eskalierer in allen Parteien versuchen sie das Gemeinsame zu benennen und zumindest in ihren Bekun­dungen politisch zu stärken.

Nun wird bestimmt sofort jemand sagen, im Angesicht der bipolaren Grünen Kultur und Dagegen-Geschichte sei das ja wohl ziemlich ironisch. Aber vielleicht würden sie damit am Ende ja auch doch noch auf der Höhe der Zeit ankommen.

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