Grüne: Die Scheu vor Neuwahlen
Wenn die SPD die Große Koalition ablehnt, könnten Neuwahlen anstehen. Die Grünen würden nach Umfragen deutlich zulegen. Doch bei der Vorstellung von Wahlen wird ihnen mulmig zu Mute – Warum?
An einem Frühabend im Februar sitzt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg in der Bibliothek der Villa Reitzenstein hoch über Stuttgart und trauert einer „historischen Chance“ hinterher. Die sieht er aber nicht in der an der FDP gescheiterten Regierungssondierung des letzten Herbstes, sondern in jener davor. „Die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn wir 2013 Schwarz-Grün gemacht hätten“, sagt Winfried Kretschmann. Und dass man abgestraft würde, wenn man solche historischen Chancen verstreichen lasse. Das werde FDP-Chef Christian Lindner auch noch merken.
Nur Grüne und Union regierungsbereit
Worüber er indes überhaupt nicht redet, ist die Möglichkeit eines erneuten Kairos im Falle von Neuwahlen. Union und Grüne sind die beiden einzigen Parteien im deutschen Bundestag, denen man eindeutige Regierungsbereitschaft unterstellen kann. Die SPD wird stärker denn je von ihrer „bipolaren Störung“ geschüttelt, wie Daniel Cohn-Bendit ihr Schwanken zwischen Depression und Euphorie, Abgesang und Aufbruch, staatspolitischer Verantwortung und radikaler Eigenbeschäftigung nennt. Die FDP will keine Kompromisse machen, was in der politischen Realität nur in der Opposition geht, die Linkspartei ist notorisch regierungsunfähig und mit der AfD regiert zumindest bis auf weiteres niemand.
Die Grünen haben plötzlich einen klaren Wettbewerbsvorteil durch ihre in den Sondierungen gezeigte Bereitschaft, das Land vor die Partei zu stellen und den realen Kompromiss vor die Anbetung des Absoluten. Sie erscheinen in einem breiteren Spektrum derzeit als Partei der Vernunft, der Verlässlichkeit und des Gemeinwohls. Ich sage: Erscheinen. Aber darum geht es ja schon auch in einer Gesellschaft, in der sich die meisten Leute maximal zehn Minuten in der Woche mit Politik beschäftigen, wie Kretschmann seinen Leuten einzubläuen pflegt.
Die Bindungskräfte der Ex-Volksparteien schwinden, die Wähler entscheiden situativ-emotional, warum also nicht auf Verdopplung der 8,9 Prozent gehen?
Doch keiner bei den Grünen würde derzeit eine relativ schnelle Regierungsmöglichkeit strategisch forcieren. Das hat eine Reihe von Gründen. Zum einen geht man bei allem potentiellen Irrsinn davon aus, dass die SPD-Mitglieder am Ende für den von der SPD-Spitze vereinbarten Koalitionsvertrag stimmen werden. Klar, die Jungen wirbeln für den ganz heißen neuen Kevinismus, aber das Gros der Mitglieder sind Rentner, die auf ihre alten Tage keine Revolution mehr machen. Falls doch, gibt es die Möglichkeit, dass der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel dann eben doch zunächst eine Minderheitsregierung gelingt, indem sie den von der SPD gutgeheißenen Koalitionsvertrag ohne Regierungsbeteiligung der SPD angeht.
Manche Grüne hängen noch an moralischer Unbefleckheit
Der dritte Grund ist, dass die Grünen fürchten, dass nach Neuwahlen die CDU nicht mehr die Merkel-CDU der Sondierungen wäre, sondern geschrumpft und weniger liberal. Und der Vierte, dass die AfD zulegt. Und dann ist es halt schon auch so, dass die Grünen zwar mächtig stolz darauf sind, wie sie in den Sondierungen die Kompromisse hingekriegt haben. Mit der Union, aber vor allem auch untereinander. Manche sind indes gleichzeitig auch nicht richtig unglücklich, dass sie ihre neuen Tugenden nicht in einer Realität voller Schwierigkeiten täglich gegen die schöne Kultur der moralischen Unbeflecktheit durchsetzen müssen.
Und dann ist es schlicht so, dass die neuen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck ja für den internen Kulturwandel und eine gesellschaftliche Verbreiterung gewählt wurden, aber damit gerade erst anfangen. Es wird auch nicht ohne eine neue Art von Führung gehen. Wenn jetzt jemand anderes noch mindestens ein Jahr regiert, und dann wird gewählt, so könnte jedenfalls die Kalkulation in der Parteizentrale sein, dann haben wir das so entwickelt, dass wir bereit sind.
Aber da ist noch eine andere Dimension. Die Lage wird zusehends ernster, die Gesellschaft brüchiger und an unterschiedlichsten Stellen arbeitet man an einer Rückkehr in das alte politische Rechts-Links-Schema. Von Wagenknecht über Kühnert zu Lindner, Spahn und Dobrindt. AfD sowieso.
Wenn die Anti-Establishment-Bewegung der SPD ihr „endlich wieder links“-Sentiment ernst meinte, dann müsste sie sich nach Verweigerung der Regierungsverantwortung umgehend an die Bildung einer linken Sammlungsbewegung machen. Man kann an Melenchon sehen, dass so etwas in Richtung antieuropäisch und antiliberal geht. Die sozialdemokratisch-liberal agierende CDU-Kanzlerin Merkel ist geschwächt und würde es in einer Kulturkampf-Konstellation im alten Rechts-Links-Modell sehr wahrscheinlich noch mehr.
Egal ob Links oder Rechts – Verlierer ist die Freiheit
Die entscheidende Dynamik entsteht aber nicht im Rechts-Links-Verteilungsschema, so sehr klassische Linke sich das auch wünschen mögen. Sondern in der Identitätsfrage zwischen liberal und national. Wer bin ich, zu wem gehöre ich, wodurch steht mir das zu, das ich verdiene? Das sind die Fragen der Gegenwart. Egal, wer sich in einer Konfrontation zwischen Links und Rechts durchsetzte, der Verlierer wäre die liberale europäische Gesellschaft. Gleichzeitig ist eine Rückkehr in die alte Ordnung der sicherste Weg, die schicksalhaft miteinander verknüpften Zukunftsfragen völlig aus den Augen zu verlieren: Erderhitzung, Klima- und Ressourcenkriege, Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und ihre Auswirkung auf Erwerbsarbeit und Freiheit, Ende der alten Weltordnung.
Wer da jenseits der über fast alle Parteien verteilten Anti-Establishment-Wütenden demnächst mit anderen eine demokratische und liberale Mehrheit bilden möchte, die zudem willens ist, Zukunftspolitik in der Regierung in Kompromissen zwischen den unterschiedlichen Interessen voranzutreiben, der kann und darf nicht selbst zur Eskalation der Lage beitragen.
„Radikale Sprüche produzieren bringt nichts“, sagt Winfried Kretschmann in seiner Bibliothek in Stuttgart. Er redet über Sokrates, über Kant, über „Politkitsch“ von „Möchtegern-Konservativen“ wie Dobrindt und wie sie in Baden-Württemberg die Hegemonie gewonnen haben. Der Ministerpräsident hat seine Grünen als ökosozialliberale Partei positioniert, auf die die Leute sich verlassen können. Robert Habeck hat das in Schleswig-Holstein genauso gemacht. Gegen die Eskalierer in allen Parteien versuchen sie das Gemeinsame zu benennen und zumindest in ihren Bekundungen politisch zu stärken.
Nun wird bestimmt sofort jemand sagen, im Angesicht der bipolaren Grünen Kultur und Dagegen-Geschichte sei das ja wohl ziemlich ironisch. Aber vielleicht würden sie damit am Ende ja auch doch noch auf der Höhe der Zeit ankommen.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.