Polen vor den Parlamentswahlen
Am 15. Oktober wählt Polen ein neues Parlament. Für die Opposition ist klar: Wenn PiS weiter regiert, kommt die Demokratie im Lande noch weiter ins Rutschen. PiS hingegen behauptet: Kommt die Opposition an die Macht, verliert Polen seine nationale Souveränität an ausländische Mächte, vor allem an Deutschland. Der Ausgang der Wahl wird in jedem Fall gravierende Folgen haben: für Deutschland – und für ganz Europa.
Die meisten Passanten in der Fußgängerzone der südschlesischen Stadt Bielsko-Biala winken ab. Sie wollen sich an den Ständen der verschiedenen Parteien nicht in Gespräche über die Parlamentswahlen am 15. Oktober verwickeln lassen. Nicht nur wegen der Hitze, sondern vor allem wegen der politischen Lage. Sie sind unwillig, enttäuscht, erschöpft, vor allem aber: der Politik überdrüssig. Der erbitterte Grabenkampf zwischen den beiden großen politischen Lagern zieht sich bereits durch viele Monate, ja Jahre: Kaczynski gegen Tusk. Die rechtspopulistische Partei PiS gegen das konservativ-liberale Wahlbündnis Bürgerkoalition KO mit der Bürgerplattform PO als Kern.
Wichtigste Wahl sei 1989
Doch trotz des Überdrusses liegt Spannung in der Luft. Alle politischen Parteien sind sich einig: Seit dem friedlichen Systemwechsel 1989 hatte keine andere Wahl eine derartige Bedeutung für die Zukunft des Landes wie die diesjährige. Und das Rennen scheint noch nicht endgültig entschieden. Die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit PiS bildet zwar unangefochten die stärkste Partei. Doch wird sie wieder allein regieren können wie nach 2019? Oder wird sie einen Koalitionspartner brauchen – und auch finden? Oder könnte es der oppositionellen Bürgerplattform PO noch gelingen, mit einer Anti-PiS-Koalition eine Parlamentsmehrheit zu erreichen? Der Countdown läuft, der Ton wird immer rauer. Und noch nicht alle wissen, wo sie ihr Kreuz setzen werden.
Die rechtspopulistische PiS streut soziale Wohltaten aus
Für die Lehrerin Monika M. im Beskidendorf Istebna unweit der tschechischen Grenze ist die Sache klar: Sie wird so wählen wie vor vier Jahren. Aus Überzeugung. Einst setzte sie auf die Liberalen, aber dann störte sie sich an deren Arroganz. „Ihnen waren die einfachen Menschen egal.“ PiS hingegen habe für eben diese einfachen Leute gesorgt. Seit das Kindergeld 500+ ausgezahlt wird, (das jetzt auf 800+ erhöht wird), fahren Schüler aus dem Dorf manchmal sogar ins entfernte Bielsko-Biala ins Kino. Seit das Ministerium von Zeit zu Zeit Zuschüsse gibt, nehmen nicht nur die Kinder von besser Verdienenden an Klassenfahrten teil. In diesem Jahr haben zudem alle Viertklässler einen Laptop erhalten. Die Digitalisierung des Unterrichts soll beschleunigt werden. „Die Verbesserung unter der PiS-Regierung ist offenkundig.“
Die rechtspopulistische PiS streut soziale Wohltaten aus, wie sie nicht einmal von einer sozialdemokratischen Regierung zu erhoffen wären. 2019 wurde die dreizehnte Rente beschlossen, 2023 die vierzehnte, beide sind inzwischen in feste jährliche Zahlungen umgewandelt. Eine Reihe von Medikamenten wird kostenlos an Rentner und Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre ausgegeben. Versprochen sind die Abschaffung der Autobahngebühren und die Einführung von Schulbons, die zur Erkundung des Landes genutzt werden sollen. Es lohnt sich ganz offenkundig, PiS zu wählen.
Duda: Verteidigung als Schlüsselelement des polnischen Staatsinteresses
Die Dozentin Monika T. aus Thorn wird PiS aber nicht wegen ihres Sozialprogramms wählen, sondern wegen ihrer Sicherheitspolitik. Die Regierungspartei gibt ihr das Gefühl größerer Sicherheit. Hat Donald Tusk in seiner Zeit die Wehrpflicht nicht abgeschafft? Hat er nicht eine Annäherung an Moskau versucht und sich der westlichen Nachsicht gegenüber Moskau zu sehr angenähert? Hat nicht auch er die 2‑Prozent-Zielmarke für Verteidigungsausgaben ignoriert? PiS hingegen will Polen zu einer militärischen Großmacht in Europa ausbauen. Sie fährt die Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren auf fünf Prozent des Bruttosozialprodukts hoch, kauft Panzer, Flugzeuge und andere Waffen in den USA und Südkorea und strebt eine Aufstockung der Streitkräfte einschließlich der neu eingerichteten Heimatschutzeinheiten auf 300.000 Personen an. Verteidigung, so Staatspräsident Duda, sei „heute ein Schlüsselelement des polnischen Staatsinteresses“. Deswegen wird auch die Zusammenarbeit mit den USA intensiviert. Denn Polen spürten, sagt die Thorner Dozentin, „dass sie sich im Fall eines Falles nicht auf Westeuropa verlassen können.“
Referendum zeitgleich zu Parlamentswahlen
„Für eine sichere Zukunft in Polen“ hat PiS denn auch als zentrale Wahlkampfparole ausgegeben. Wer keine Angst haben will, dass soziale Zuwendungen gestrichen werden, dass er arbeitslos wird oder umgekehrt viel länger als augenblicklich arbeiten muss, wer sich dagegen wehrt, dass Polen von Fremden überrannt wird oder die nationale Sicherheit an der Ostgrenze leidet, der muss mit „Vier Mal Nein!“ beim Referendum stimmen, das die Regierung zeitgleich zu den Parlamentswahlen angesetzt hat. „Nein“ zum „Ausverkauf“ staatlichen Vermögens – wie es angeblich Tusk tat, als er ausländisches Kapital ins Land holte. „Nein“ zu einer Erhöhung des Rentenalters – wie es Tusk einführte, um den demographischen Problemen zu begegnen. „Nein“ zur Aufnahme illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika – wie sie Brüssel dem Land angeblich aufzuzwingen versucht. „Nein“ zu einer „Liquidierung der Barriere“ an der ostpolnischen Grenze zu Belarus – wie sie angeblich durch Tusk zu befürchten wäre.
Tusk als Feindbild der polnischen Rechten
Nicht nur, dass PiS Gelder spart, wenn sie ihren Wahlkampf als Information zum Referendum ausgibt und dadurch aus der Staatskasse bezahlen kann. Ihr steht zur Verbreitung ihrer Sicht auch der staatliche Fernsehsender TVP zur Verfügung, der als kostenlose Wahlkampfmaschine jeden Tag aktualisierte parteiliche Propaganda betreibt. Fast täglich flimmern Bildern von riesigen Fabrikhallen über den Fernsehschirm, die leer stehen, weil die Betriebe in Zeiten des wirtschaftlichen Umbruchs stillgelegt wurden und Hunderte, gar Tausende ihre Arbeit verloren – natürlich unter der Tusk-Regierung. Regelmäßig tauchen auch Bilder von dunkelhäutigen „Wilden“ auf, die halbnackt vor der Kamera tanzen und später in Deutschland, Belgien und Frankreich terroristische Attacken verüben, Straßenkämpfe gegen die Polizei in Brüssel, Paris oder Berlin ausfechten und Frauen vergewaltigen – ein Schreckensszenario auch für Polen, wenn die Opposition die Wahl gewinnen würde.
Jedenfalls kann PiS auf eine breite Stammwählerschaft setzen, die nicht einmal von der Partei abrückt, wenn sie in Skandale verwickelt ist. So stellte sich beispielsweise erst jüngst heraus, dass der rassistische Populismus die Regierungspartei nicht davon abhielt, gleichzeitig massenhaft Arbeitsmigranten anzuwerben – auch aus muslimischen Ländern – und die Visa oftmals gegen Bestechungsgeld zu vergeben.
Tusk hingegen ist zum Feindbild schlechthin für die polnische Rechte geworden, zur „Personifizierung des Bösen“. Tusk habe ausgeführt, was Merkel und Brüssel befahlen, behauptet Premierminister Morawiecki. Tusk sei von seinen „Sponsoren“ ausgewählt worden, so Jaroslaw Kaczynski, um „schmutzige Aufgaben“ zu erledigen. „Für Deutschland“ sagt Tusk in einer demagogisch zurechtgeschnittenen Sequenz im staatlichen Fernsehen ohne jeden Kontext in die Kamera – und das auf Deutsch. Und der Sender verdoppelt und verdreifacht: „Für Deutschland, für Deutschland, für Deutschland…“ PiS – das gibt die Regierungspartei unmissverständlich zu verstehen – liefert das Gegenprogramm. Als Kaczynski in einem Wahlkampfspot der PiS um ein Telefonat mit Bundeskanzler Scholz gebeten wird, weil jener ihn zu einer Erhöhung des Rentenalters wie zu Zeiten von Tusk zu drängen sucht, lehnt der polnische Vizeministerpräsident ebenso kühl wie eindeutig ab: „Tusk ist weg, und diese Methoden sind vorbei.“ Und er legt auf.
Tusk sei ein Verräter an polnischen Nationalinteressen, wiederholen die regierungsnahen Medien unisono. Ein doppelter Verräter zudem, da er angeblich nicht nur als Fürsprecher von deutschen und EU-Interessen auftritt, sondern auch im Interesse Moskaus agiert: Er schloss ungünstige Verträge über Rohstofflieferungen aus Russland ab. (Dabei bezog auch noch die PiS-Regierung bis zum russischen Überfall auf die Ukraine Kohle und Öl aus Russland.) Er weigerte sich, im Flugzeugabsturz von Smolensk 2010, bei dem aufgrund von dichtem Nebel 96 Menschen einschließlich des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski ums Leben kamen, einen russischen Anschlag zu sehen. (Der polnische Untersuchungsbericht führte menschliches Versagen als Unglücksursache an.) Auf Hauswänden tauchen riesige Wahlkampfplakate auf: Drei Mal das Gesicht von Tusk in drei Etappen seines angeblich immer gleichen Wirkens: „Er hat alles kaputt gemacht.“ (in Polen) „Er ist geflohen.“ (nach Brüssel) „Er wird es wieder machen.“ Die Schlussfolgerung kann nur heißen: „Er verdient keine neue Chance!“
Antideutsche Propaganda im Wahlkampf
Wer Tusk als Büttel von Berlin und Brüssel sieht, meint auch immer Deutschland und die EU, wenn er auf Tusk einschlägt. Und umkehrt: Jede Kritik an Deutschland und der EU fällt auf Tusk zurück. Und Anlass zur Kritik bietet Deutschland zumindest für die PiS-Politik ununterbrochen: Notgedrungen habe sich das Land zwar von seinem putinfreundlichen Kurs verabschieden müssen – aber warum komme die Unterstützung für die Ukraine immer erst sehr spät und aufgrund von Druck? Warte Berlin nicht geradezu darauf, wieder „normale“ Beziehungen zu Moskau aufbauen zu können? Offiziell rühmten sich deutsche Politiker zwar ihrer ökologischen Politik – aber würden sie Polen nicht ganz einfach klein halten wollen, wenn sie gegen den Ausbau des Hafens Stettin-Swinemünde protestierten oder auf die Schließung des Braunkohleabbaus in der Stadt Turów drängten? Reißt der Kohlekonzern RWE in Deutschland seinerseits nicht Windkraftanlagen ein, um den Abbau von Braunkohle zu erweitern? Und vor allem: Mit welchem Recht mischten sich Deutsche in den polnischen Wahlkampf ein? Polen drohe bereits eine Gefahr im Osten durch Putin und die „Gruppe Wagner“, nun drohe ihnen auch noch eine Gefahr im Westen durch die „Gruppe Weber“. Manfred Weber, der Chef der Europäischen Volkspartei, hat PiS mehrfach als antidemokratische Partei gebrandmarkt. Einige rechte Medien fühlen sich durch diesen „Feind“ an den Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 erinnert, in dem Deutschland und Russland vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Aufteilung Polens beschlossen. Dass ausgerechnet Weber zum Feindbild erklärt wurde, dürfte sich aus der kommenden Europawahl erklären: Der CSU-Politiker versucht, den Einfluss von PiS im rechten Spektrum innerhalb des EU-Parlaments zu schwächen.
Jaroslaw Klimaszewski, der Stadtpräsident von Bielko-Biala, Mitglied der oppositionellen PO, ist sich zwar genauso sicher wie die PiS-Wählerin aus Istebna, dass die antideutsche Propaganda allein dem Wahlkampf geschuldet sei und den Menschen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus gehe. Aber bleibt bei Teilen nicht doch etwas hängen, wenn es täglich wiederholt wird, demagogisch entstellt ist und ein altes Muster bedient: Deutschland, der ewige Feind? Der zudem unbelehrbar ist? Zum Gedenken an die polnische Familie Ulma, die Juden vor der deutschen Besatzungsmacht versteckte und dafür mit ihrem Leben bezahlte, wird die polnische Bahn in Abstimmung mit dem polnischen Präsidenten in den nächsten Wochen Intercity-Züge nach Berlin mit der Aufschrift schicken: „Von Deutschen im II. Weltkrieg ermordet für die Rettung von Juden“. Schon im letzten Jahr hat die PiS-Regierung mit den Reparationsforderungen gegenüber Deutschland ein Instrument entwickelt, das bei Bedarf nicht nur als Erpressungsmittel eingesetzt werden kann, sondern auch zur Mobilisierung dienen kann. Den Forderungen stimmten nicht nur die meisten Oppositionspolitiker zu; auch über die Hälfte der polnischen Bürger hält sie für berechtigt.
Was kann die Opposition anbieten?
Er werde allein schon deswegen für die oppositionelle Bürgerkoalition stimmen, sagt der Arzt J. in Thorn, damit all die Lügen, Manipulationen und Hassbotschaften aufgedeckt würden, die die staatlichen Medien und Regierungsvertreter ungehindert jeden Tag verbreiteten. Damit Gesetze, Institutionen und Personalentscheidungen rückgängig gemacht würden, mit denen die Unabhängigkeit der Justiz aufgehoben und die Meinungsfreiheit eingeschränkt wurden. Damit das rigide Abtreibungsverbot falle, das dazu führte, dass Frauen starben, weil Ärzte aus Angst vor Strafe bei Schwangerschaftsproblemen zu spät eingriffen. Polen brauche einen Regierungswechsel, ist der Arzt überzeugt, damit Demokratie und Menschenrechte im Land wieder geachtet würden.
Ist Populismus für eine „gute Sache“ legitim?
Doch im Übrigen ist der Arzt enttäuscht von der Opposition. Für ihn und etliche andere ist sie nur das kleinere Übel. Zu opportunistisch und zu unentschieden, so das Urteil. Müssen dem Hauptziel des Wahlkampfs „Weg mit der PiS-Regierung!“ wirklich alle taktischen Schritte im Wahlkampf untergeordnet werden? Ist Populismus für eine „gute Sache“ legitim? Warum gesteht Tusk beispielsweise einem Bauernpolitiker einen Spitzenplatz auf der Liste der Opposition zu, der in der Vergangenheit nicht vor gewalttätigen Straßenblockaden zurückschreckte, mehrfach das politische Lager wechselte und durch pro-russische und antieuropäische Kommentare auffiel? Wird das Bündnis mit einem fragwürdigen Politiker der Opposition tatsächlich mehr Stimmen unter den Bauern bringen als es unter Umständen bei anderen Wählern kostet?
Nicht wenige reiben sich auch daran, dass frühere Positionen der Tusk-Partei ohne Debatte aufgegeben oder bewusst unscharf gehalten werden. Vor zwei Jahren beispielsweise stimmten fast alle PO-Abgeordneten noch gegen den Bau einer Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze, über die der belarussische Präsident Lukaschenka gezielt Flüchtlinge ins Nachbarland drängte. Heute möchte eine Europaabgeordnete der PO die Mauer bei einem Wahlsieg der Opposition einreißen lassen, ein Abgeordneter der PO im polnischen Parlament hingegen hält sie inzwischen für erforderlich. Tusk selbst twitterte sibyllinisch: Da durch den Grenzzaun täglich eine Rekordanzahl von Menschen gelange, müsste im Referendum eigentlich gefragt werden: „Bist du für den Bau einer wirklichen Barriere an der Grenze zu Belarus?“
Auch die Opposition vermeidet heikle Themen im Wahlkampf
Bisher hat sich die Opposition hauptsächlich darauf konzentriert, die inhumane Behandlung von Flüchtlingen anzuprangern. Für ihrem Film „Grüne Grenze“, in dem das brutale Vorgehen im polnisch-belarussischem Grenzland aufgedeckt wird, erhielt die polnische Filmregisseurin Agnieszka Holland in Venedig gerade den Spezialpreis der Jury. Doch Empathie und Solidarität ersetzen kein kohärentes Programm. Auch auf Seiten der Opposition gibt es keine Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Wirtschaftsflüchtlingen. Auch die Opposition verweist nicht darauf, dass Polen genauso wie Deutschland ein demographisches Problem hat und in Zukunft Zehntausende von Fachkräften wird aufnehmen müssen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. (Nur durch die Arbeit der vielen ukrainischen Flüchtlinge konnte der Arbeitskräftemangel bisher verdrängt werden.) Im Wahlkampf sollen heikle Themen lieber nicht berührt und erst recht nicht kontrovers diskutiert werden. „Im Wahlkampf brauchen wir Hierarchie“, sagt die PO-Senatorin Agnieszka Gordon-Kramer aus Bielsko-Biala, „und ich vertraue Donald Tusk.“
Tusk hat eine schwierige Aufgabe
Tusk würde sehr gut navigieren, bescheinigt auch der dem unabhängigen linken Spektrum zuzuordnende Publizist Slawomir Sierakowski dem Oppositionsführer. Er habe eine „superschwierige Aufgabe”: Einerseits dürfe er nicht völlig zum Populisten werden, andererseits den Populisten aber auch nicht das Feld überlassen. Ohne gewisse populistische Versprechen, so ist Sierakowski überzeugt, werde auch der Oppositionsführer nicht auskommen, um die Chance der Machtübernahme nicht zu verspielen. „Hier muss man gegen die Rote Armee gewinnen (gemeint ist PiS), und nicht gegen elegante, raffinierte Intellektuelle.“
Für viele Frauenrechtlerinnen ist der Opportunismus der PO allerdings nicht mehr akzeptabel. Noch im Sommer 2022 hatte Tusk versprochen, dass auf der Liste der Bürgerplattform PO niemand würde kandidieren können, der sich nicht gegen das Abtreibungsverbot einsetze und für die Möglichkeit einer Abtreibung bis zur 12. Woche plädiere. Doch entgegen diesem Versprechen nahm er den Rechtsanwalt Roman Giertych auf, einen ehemals ultrakonservativen Politiker und Kabinettskollegen von Jaroslaw Kaczynski, der aus seiner Ablehnung von Abtreibung und seiner Antipathie gegenüber Homosexuellen und Transsexuellen niemals einen Hehl machte und macht. Allerdings war er in letzter Zeit in Konflikt zur PiS-Regierung geraten. Reicht es inzwischen schon, gegen PiS zu sein, um von der Bürgerkoalition willkommen geheißen zu werden?
Die Opposition kann nur mit dem „Dritten Weg“ gewinnen
Jenen, die ihr Vertrauen zur Tusk-Partei verloren haben, bleibt noch die Wahl von zwei kleineren Blöcken, der „Linken“ (Lewica) einerseits und dem „Dritten Weg“ andererseits. Scheint der Einzug der Linken ins Parlament mit 8 bis 10 Prozent in den Umfragen als relativ sicher, so könnte der Dritte Weg unter Umständen scheitern. Denn als Bündnis zweier Parteien braucht er mindestens acht Prozent der Stimmen. Bliebe er unter der erforderlichen Prozentzahl würde er die Opposition um ihren Sieg bringen. Denn nur mit dem Dritten Weg kann die Opposition gewinnen. Der ehemalige Staatspräsident Bronislaw Komorowski, obwohl selbst Mitglied von PO, forderte deshalb schon zur Wahl des Dritten Weges auf.
Überraschender Aufschwung für die rechts-libertäre „Konfederacja“
Im rechten Spektrum gibt es allerdings ebenfalls einen Unsicherheitsfaktor. Wie stark wird die Konföderation-Partei (Konfederacja) werden, eine Partei, die aus drei verschiedenen Strömungen besteht? Jahrelang bildete sie unter einem eher skurrilen Führer nur eine Randerscheinung im politischen Leben. Mit zwei jungen neuen Vorsitzenden erfuhr sie in den letzten Monaten allerdings einen überraschenden Aufschwung, erhielt in Umfragen bis zu 15 Prozent und pendelt sich inzwischen bei 8 bis 10 Prozent ein.
Ihre Anhängerschaft findet die Konföderation vor allem unter Männern zwischen 18 und 40. Das Programm ist radikal: wirtschaftlich libertär – für einfache und niedrige Steuern, Auflösung der Krankenversicherung, Schluss mit dem Kindergeld und der 13. und 14 Rente! Kein Sozialismus! Jeder soll selbst entscheiden, wofür er sein Geld ausgibt. Seid selbstbewusst und traut euch etwas, lautet die Botschaft. Boleslaw Foltyn, der Kandidat der Konföderation in Bielsko-Biala, lebt es vor. Er begann mit dem Handel von Handys, inzwischen gehören ihm vier große Restaurants und Klubs in der Stadt: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“ Dann ist da allerdings noch die andere Seite der Konföderation: zumindest in Teilen sind ihre Mitglieder nationalistisch, euroskeptisch, antiukrainisch, prorussisch, antisemitisch, frauenfeindlich und fremdenfeindlich – mit einem Wort: reaktionär. Wie lange das libertäre Wirtschaftsverständnis als überwölbender Programmpunkt kulturell durchaus unterschiedliche Strömungen zusammenhalten kann, muss sich erst noch zeigen.
„Konfederacja“ setzt auf ein Scheitern der Regierungsbildung
Aufgrund des libertären Denkens verstehen sich aber alle Strömungen der Konföderation als Anti-These zu den beiden großen politischen Lagern. Auf keinen Fall, erklärt ihr Vorsitzender Mentzen beharrlich auf jeder Wahlkampfveranstaltung, werde seine Partei eine Koalition mit PiS eingehen. Auch nicht, wenn PiS zum Wahlsieg einen Partner brauche. Stattdessen setzt die Konföderation auf das Scheitern der Regierungsbildung, so dass Neuwahlen nötig würden. Dann erhielte die Partei mehr Zeit, um ihre Vorstellungen unter das Volk zu bringen und selbst Einfluss auf die Regierungsbildung nehmen zu können.
Es gibt aber noch andere Szenarien: Auch wenn die Konfederacja keine Koalition mit PiS bilden würde – es könnte doch einzelne Überläufer geben? Manche imaginieren noch radikaler: Könnten einzelne Überläufer der Konfederacja nicht auch der Opposition zum Sieg verhelden?
Es wird spannend am 15. Oktober 2023. Für die Opposition ist klar: Wenn PiS weiter regiert, kommt die Demokratie im Lande noch weiter ins Rutschen. PiS hingegen behauptet: Käme die Opposition an die Macht, würde Polen seine nationale Souveränität an ausländische Mächte, vor allem an Deutschland verlieren. So oder so: Deutschland kann der Ausgang nicht gleichgültig sein, denn er wird in jedem Fall gravierende Folgen haben: für Deutschland und für ganz Europa.
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