Putins und Xi Jinpings unheilvolle Allianz

Peking und Moskau verbindet eine strategische Partnerschaft und der gemeinsame Feind, „der Westen“. Der Diplomat Johannes Regenbrecht analysiert für uns, worin diese Allianz besteht, welche Interessen Xi Jinping im Ukraine-Krieg verfolgt und vor welchen Herausforderungen die russisch-chinesische Allianz durch einen erratischen Präsidenten im Weißen Haus steht. Die USA und die Europäische Union müssen sich darüber im Klaren sein, dass Einschränkungen der Souveränität der Ukraine von erheblicher Präzedenzwirkung auch für den indo-pazifischen Raum sein werden.
Inhalt
1. Xi Jinping und Putin – Ein ungleiches Paar
2. Die Ursachen der „Ukraine-Krise“ und die „Sieben Übel“
3. Xis Trauma vom Zusammenbruch der Sowjetunion und der KPdSU
4. „Recht“ und „Macht“ und der Primat der Kommunistischen Partei Chinas
5. Chinas 12-Punkte-Plan zur Ukraine – Anspruch und Wirklichkeit
1. Xi Jinping und Putin – Ein ungleiches Paar
Chinas Politik gegenüber Russland und Putins Großangriff gegen die Ukraine wird gemeinhin als geschicktes Lavieren zwischen Unterstützung des „strategischen Partners“ in Moskau und Vermeidung von Schäden in den Beziehungen zum „Westen“ beschrieben, kurz als „pro-russische Neutralität“[1]. Ein Scheitern Putins, gar ein Zusammenbruch des Regimes in Moskau wären aus chinesischer Sicht ein geopolitisches Desaster. Es würde Chinas territoriales Bollwerk in der Landmasse Nordasiens aufreißen und dem strategischen Rivalen USA ein Einfallstor öffnen. Deswegen gewährt China seinem Nachbarn umfangreiche politische und wirtschaftliche Unterstützung. Ohne China als „decisive enabler“ könnte Putin seinen Angriffskrieg in dieser Form nicht führen.[2] Partei‑, Militär- und Staatschef Xi Jinping hat dem aus seiner Sicht schwer berechenbaren Juniorpartner Putin allerdings auch „rote Linien“ aufgezeigt, um eine globale Eskalation des Konflikts zu verhüten.[3]
Gleichzeitig bleibt Beijing darauf bedacht, seine lebenswichtigen Exportmärkte in Europa und Nordamerika weiter dynamisch auszubauen, gefürchtete Drittlandsanktionen zu vermeiden und weltweit, besonders auch vom Globalen Süden als ausgewogener, um eine friedliche Konfliktlösung bedachter Partner wahrgenommen zu werden. Im Kern geht es um Minimierung der politischen und wirtschaftlichen Kosten, die mit der Unterstützung Russlands verbunden sind. „Im Rahmen der Vereinten Nationen hat sich China zu Resolutionen mit Verurteilung Russlands in der Regel konsequent enthalten, zuletzt bei den beiden unterschiedlichen von der Ukraine bzw. den USA in die Generalversammlung eingebrachten Beschlussentwürfen zum dritten Jahrestag des russischen Großangriffs am 24. Februar 2025.[4] Im Sicherheitsrat hingegen stimmt Beijing am gleichen Tag (gemeinsam mit den USA und Russland!) ausnahmsweise dem von Washington eingebrachten minimalistischen, durch seine Nichtbenennung des Aggressors pro-russischen, Text zu.[5] In seinen politischen Erklärungen vermeidet China jegliche Verurteilung Russlands, weist gleichzeitig aber immer wieder abstrakt auf das Prinzip der Unantastbarkeit von Souveränität und territorialer Integrität von Staaten hin.
Die Bilanz des chinesischen Kurses kann sich sehen lassen: Der Anschein chinesischer Äquidistanz verfängt bei vielen Ländern des Globalen Südens. Die Unterstützung der Ukraine bindet weiter, Trump zum Trotz, militärische US-Ressourcen und schränkt damit Washingtons Spielraum mit Blick auf den potenziellen Großkonflikt der Zukunft um Taiwan ein. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas im Nahen Osten hat die Kluft zwischen dem „Westen“ und Globalen Süden vertieft und kommt somit indirekt China zugute. Das Regime in Moskau sitzt fest im Sattel, wird dabei aber immer stärker von Beijing abhängig. Gleichzeitig bleibt China nach den USA zweitgrößter Handelspartner der Europäischen Union mit einem stabilen Anteil am EU-Außenhandel von 15 Prozent.[6] Darüber hinaus spielen das aktuelle Chaos in Washington, die Kehrtwende der US-Ukraine-Politik unter Trump und der Zerfall des politischen Westens China in die Hände.
Es ist wie verkehrte Welt: Der Vorsitzende der ZK-Kommission für Außenpolitik und chinesische Außenminister Wang Yi pries bei seiner Pressekonferenz am 7. März 2025 anlässlich des diesjährigen Plenums des Nationalen Volkskongress sein Land als unersetzlichen Stützpfeiler von UNO-Charta und internationaler Ordnung. „Wir werden eine gerechte Macht sein, um den Frieden und die Stabilität in der Welt zu erhalten.“ Der globalen Unsicherheit werde Beijing „chinesische Verlässlichkeit“ entgegensetzen.[7]
Dennoch kann Beijing sich nicht zurücklehnen und abwarten, sondern muss Vorsorge treffen, um von der Dynamik des Zeitgeschehens nicht überrollt zu werden. Zum unberechenbaren Führer von Chinas „strategischem Partner“ Russland hat sich ein mindestens ebenso unberechenbarer Präsident an der Spitze seines strategischen Rivalen USA gesellt. Schon dieses irrlichternde Zweigestirn läuft dem Bedürfnis der Führung des „Reichs der Mitte“ nach strategischer Planbarkeit zutiefst zuwider. Die Trump’schen Waffenstillstandsinitiative und intensive Gespräche zwischen Washington und Moskau können China nicht unberührt lassen. Eine Einstellung der militärischen Unterstützung der Ukraine und möglicher Rückzug aus Europa durch die USA würden zwar die NATO schwächen, den Graben zwischen Amerika und Europa vertiefen und damit Xis Agenda einer noch stärkeren wirtschaftlichen, vor allem aber auch politischen Anbindung Europas an China fördern. Die damit freiwerdenden Ressourcen könnten aber eine Bündelung des politisch-militärischen Fokus Washingtons auf Nordostasien und Taiwan, einen militärischen pivot to Asia, fördern und damit die Aussichten auf Realisierung des „chinesischen Traums“, zu dem eine möglichst unblutige „Wiedervereinigung“ Taiwans mit dem chinesischen „Mutterland“ gehört, zu Xis Lebzeiten eintrüben.[8]
Damit trifft das Schicksal der Ukraine trotz der geographischen Entfernung tief ins geopolitische Herz Chinas: Es geht, egal wie sich Trump in einem „Peace Deal“ letztlich positionieren wird, um die geopolitische Vermessung von Einflussräumen und die Herausforderung durch den einzigen strategischen Gegner auf Augenhöhe Chinas, die USA. Dabei macht die Unberechenbarkeit Trumps einen rational kalkulierten Umgang mit dem Spannungsverhältnis zwischen den Großmächten noch deutlich schwieriger. Dass die strategische Partnerschaft mit Moskau trotz der immer wieder vorgetragenen Behauptung, sie richte sich nicht gegen ein drittes Land, auf die USA abzielt[9], räumte China in einer gemeinsamen Erklärung mit Russland im Mai 2024 öffentlich ein. In der wortreichen, in englischer Übersetzung rund 8000 Wörter umfassenden Grundsatzerklärung anlässlich des 75. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vom 16.5. 2024 erklären beide Länder ihre Absicht, gegen die „nicht konstruktive und feindliche US-Politik“ der „doppelten Eindämmung“ („dual containment“) Chinas und Russlands vorzugehen.[10] Damit wird unmissverständlich klar gemacht: Ziel ihrer „umfassenden strategischen Partnerschaft der Zusammenarbeit für das Neue Zeitalter“ (China-Russia Comprehensive Strategic Partnership of Coordination for the New Era) ist es, den gemeinsamen systemischen Rivalen USA in die Schranken zu weisen.
2. Die Ursachen der „Ukraine-Krise“ und die „Sieben Übel“
Auch in der Analyse der Ursachen der euphemistisch von Beijing so genannten „Ukraine-Krise“[11] stimmen Moskau und Beijing überein: Die eigentlichen Kriegstreiber sind in der internen Analyse Beijings die USA und ihre westlichen Alliierten. Ihre Waffe sei die Ausdehnung der NATO und Instrumentalisierung der Ukraine als Speerspitze, womit sie Russlands und mittelbar auch Chinas Sicherheit bedrohten.[12] Im Fall der Ukraine geht es für Xi Jinping noch weiter, nämlich um die Notwendigkeit der Abwehr einer angeblichen Einmischung des Westens in innere Angelegenheiten des Landes durch Anzettelung einer „Farbenrevolution“.[13] Damit stilisiert Xi die Aggression Putins gegen den souveränen Nachbarstaat Ukraine zum Abwehrkampf gegen einen übergriffigen Westen hoch, der dem Land seine Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überstülpen und es anschließend als Vehikel für den Export dieser Ideen in weitere Länder missbrauchen wolle.
Damit knüpft Xi an eine zentrale Weisung aus den ersten Monaten seiner Amtszeit an, das „Kommuniqué zur aktuellen Situation im Bereich der Ideologie“ oder kurz Dokument Nr. 9/2013. Es ist ein programmatischer Grundsatztext, den Xi wenige Monate nach seiner erstmaligen Wahl zum Generalsekretär des ZK der KPCh[14] am 22. April 2013 regierungsintern zu Weisungs- und Schulungszwecken herausgegeben ließ. Er wurde nach einem Leak im August 2013 veröffentlicht.[15] Das Dokument, an dessen Redaktion Xi selbst und sein Chefideologe Wang Huning[16] federführend beteiligt gewesen sein sollen, ist eine Kampfansage an den Westen und seine Werte. Im Kern werden „sieben Übel“ angeprangert, deren Ausbreitung in China verhindert werden müsse. Die KPCh sieht sich durch „westliche antichinesische Kräfte“ angegriffen, welche die Partei durch „Verwestlichung“ zu vernichten suchten. Existenziell bedrohlich für die Partei seien insbesondere
- das Propagieren von westlicher liberaler Demokratie, vor allem deren Konzepte von Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem, allgemeinem Wahlrecht und Unabhängigkeit der Justiz;
- das Werben für „westliche Werte“ mit dem Anspruch, diese als universelle Normen auszugeben und die Definition von Begriffen wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit im Sinne „sozialistischer Werte“ durch die KPCh zu diskreditieren;
- Propagieren des Neoliberalismus mit der Absicht, das Wirtschaftssystem Chinas zu ändern;
- Das Propagieren einer „westlichen Auffassung“ von Pressefreiheit und Hinterfragen des Prinzips der Kontrolle der Medien durch die Partei.
Schlussfolgerung:
„Solange wir an der Führung durch die Kommunistische Partei Chinas und am Sozialismus chinesischer Prägung festhalten, werden die antichinesischen Kräfte im Westen nicht von ihrer Position abweichen, uns zu einem Wandel zu drängen. Sie werden immer darauf abzielen, China zu verwestlichen, zu spalten und eine „Farbrevolution“ zu starten. Diesbezüglich dürfen wir niemals unaufmerksam werden und wir dürfen diese Aufgabe nicht auf die leichte Schulter nehmen.“
Als Therapie zur Bekämpfung dieser Übel werden zum Schluss des Dokuments vier Maßnahmen angeordnet, unter anderem die Anleitung von Parteimitgliedern und Kadern zur Unterscheidung zwischen „richtigen“ und „falschen“ Theorien, das Verbot der Verbreitung von der politischen Linie der Partei zuwiderlaufenden Ansichten und die Stärkung der Kontrolle der Massenmedien durch die Partei.
Von dem Dokument Nr. 9 (2013) wenige Monate nach erstmaliger Wahl von Xi zum Parteichef führt eine gerade Linie zur „Krönungsrede“ Xis beim XIX. Parteitag im Oktober 2017. Auf dem Parteitag kommt der de facto schon auf Lebenszeit wiedergewählte „Chairman of Everything“ nach Ausschaltung zahlreicher innerparteilicher Rivalen[17] sowie der ganz China erfassenden Unterdrückung von Kritikern und Resten unabhängiger Zivilgesellschaft auf dem Zenit seiner Macht an.[18] In seinem Bericht an den Parteitag erhebt er das „Xi Jinping-Denken zum Sozialismus chinesischer Prägung im neuen Zeitalter“ und die „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ zu verbindlichen Parteilinien von Verfassungsrang. Außerdem prägt er die Phrase von der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“[19] als Ausdruck globalen Gestaltungswillens oder Chiffre für die geoökonomische Expansion Chinas.
Vor dem Hintergrund der Transformation Chinas in einen totalitären Überwachungsstaat unter Beseitigung des von Deng Xiaoping eingeführten Prinzips kollektiver Führung, die sich im Wesentlichen während Xis erster Amtszeit als Parteichef von 2012 bis 2017 vollzieht, wird der enge Schulterschluss mit dem Diktator Putin aus der inneren Entwicklung Chinas heraus nachvollziehbar. Es geht bei dem ungleichen Paar des risikobewussten und von strategischer Geduld geprägten Xi und des politischen Hasardeurs Putin nicht nur um Zusammenwirken bei der geopolitischen Konfrontation mit den USA, sondern um gemeinsamen ideologischen Abwehrkampf gegen Liberalismus, konstitutionell verfasste Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Dabei bilden auch die Vorgänge in der Ukraine den Hintergrund für politisches Handeln in China. Nicht nur Putin, sondern auch Xi nimmt die orangene Revolution in der Ukraine im Herbst 2004 und den „Euromaidan“ 2013/2014 in Kyjiw als Risiko für sein eigenes Herrschaftssystem wahr.
- Der Aufstieg Xis mit Wahl zum Generalsekretär der KPCh sowie Vorsitzenden der mächtigen Zentralen Militärkommission und Staatspräsidenten im November 2012 bzw. März 2013,
- die darauffolgende Konsolidierung des Machtmonopols der Partei und Eliminierung zahlreicher innerparteilicher Rivalen,
- die Erringung der Alleinherrschaft durch Xi qua Wiederwahl im Oktober 2017 als Generalsekretär und im März 2018 als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission und Staatspräsident (potenziell) auf Lebenszeit,[20]
- und die geoökonomische Expansion Chinas entlang der „Seidenstraße“
vollziehen sich zeitlich parallel zu
- Euromaidan,
- der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim und Intervention in der Ostukraine durch Moskau im Frühjahr 2014,
- der fortgesetzten Annäherung der Ukraine an die EU (Inkrafttreten des Assoziationsabkommens am 1. Juli, visafreier Reiseverkehr mit dem Schengenraum seit Juni 2017)
- dem Großangriff Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022.
Es lohnt sich daher, einen Blick auf die innenpolitische Entwicklung Chinas in den Jahren seit Übernahme der Macht durch Xi Jinping 2012 zu werfen. Eine Zeit, in der die Steuerung von Staatsorganen und Übernahme der Alleinherrschaft durch die Partei über alle Lebensbereiche unter Ausschaltung von Kontrolle durch die Justiz dynamisch vorankommt. Bei gewichtigen Parteiideologen und Theoretikern ist dabei auch der Einfluss des antiliberalen und antidemokratischen deutschen Verfassungsrechtlers und NS-Apologeten Carl Schmitt nachweisbar, der in Russland noch wesentlich tiefere Spuren hinterlässt.[21]
Ausgangspunkt und Auslöser für die zeitgenössische chinesische Diskussion über das Verhältnis von „Recht“ und „Macht“ ist meist eine perzipierte Bedrohung von „außen“, ein externer „Feind“, oft in Gestalt von „westlichen Werten“. Diesen werden dann Normen „chinesischer Prägung“ entgegengesetzt. Die Schmitt’sche Dichotomie von „Freund/Feind“ als Wesenskern des Politischen und das Verhältnis von Legalität und Legitimität als potenziell systemgefährdende Spannung gelten im intellektuellen Diskurs in China als wichtige erkenntnisleitende Parameter.[22]
Unter dieser Perspektive erscheinen auch die „Friedensinitiativen“ Chinas zur Konfliktregelung zwischen der Ukraine und Russland in einem neuen Licht. Sie werden in der Literatur meist als unverbindliche, in ihrer Allgemeinheit wenig zielführende Vorschläge beschrieben, deren Hauptziele nicht konkrete Beiträge zur Konfliktlösung seien, sondern im Wesentlichen der Selbstinszenierung Beijings als „neutraler“ Konfliktvermittler (unter Verschweigen seiner Voreingenommenheit zugunsten Russlands) und als Appell zum Stopp weiterer Eskalation dienten.[23] Betrachtet man die chinesischen Papiere aber durch die Brille des „Xi Jinping-Denkens“, werden sie auch zum Ausdruck grundsätzlicher ideologischer Überzeugungen des chinesischen Partei- und Staatschefs. Und des enormen globalen Gestaltungswillens Chinas.
3. Xis Trauma vom Zusammenbruch der Sowjetunion und der KPdSU
Das zentrale „Trauma“, welches das Denken und Handeln des aufstrebenden Parteifunktionärs Xi Jinping[24] seit Ende der achtziger Jahre leitet, ist der Kollaps der UdSSR und vor allem das sang- und klanglose Eingehen der ausgelaugten und delegitimierten Kommunistischen Partei der Sowjetunion Ende 1991.Das Narrativ von der schmachvoll-kampflosen Kapitulation des sowjetischen Sozialismus und des Ostblocks im Systemwettstreit mit einem „überheblichen“ Westen zieht sich wie ein roter Faden durch das Denken Xis. Die Lehre: Wir müssen alles tun, damit sich so etwas nicht in China wiederholt – das wäre Selbstaufgabe und das Ende der politischen Existenz des durch die Partei verfassten chinesischen Volkes. Es wäre ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als das Reich der Mitte unter der Qing-Dynastie schutzlos den westlichen Kolonialmächten ausgeliefert war und durch die „ungleichen Verträge“ am Boden gehalten wurde.[25] Xis Befund deckt sich dabei nur teilweise mit dem bekannten Diktum Putins, für den der Zerfall der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ ist.[26] Anders als bei Putin steht bei Xi das Versagen der Kommunistischen Partei an erster Stelle der Ursachen für den Zusammenbruch des Sowjetimperiums. Ihre Unfähigkeit, ihre innere Erosion und vor allem ihr mangelnder Glaube an sich selbst sind aus seiner Sicht schuld daran, dass der Westen den Kalten Krieg gewinnen konnte.[27]
Ausführlich auf den Punkt bringt Xi seine Analyse der „Urkatastrophe“ in einer Eröffnungsrede eines Kurses für junge Kader der Zentralen Parteischule (Nationale Akademie für Verwaltung) in Beijing zum Beginn des Frühjahrssemesters 2022. Sie wurde am 30.6. 2023 als Namensartikel Xis in der Parteizeitung Qiúshì 求是[28] veröffentlicht. Hier lohnt sich ein längeres Zitat:
„Zahlreiche Fakten zeigen, dass eine politische Partei, wenn sie ihre Ideale und Überzeugungen verliert, ihre spirituellen Bindungen verliert, zu einem bloßen Mob wird und sich bei Sturm zerstreut. Parteimitglieder und Kader, die ihre Ideale und Überzeugungen verlieren, verlieren ihre politische Seele und werden in Prüfungen besiegt. Das Wichtigste für den Erfolg junger Kader ist, wie Genosse Deng Xiaoping einmal sagte, den ‚heroischen Geist zu bewahren, der der Richtung des revolutionären Kampfes folgt‘. Das bedeutet, erfolgreich am Glauben an den Marxismus festzuhalten und für die Ideale des Kommunismus und Sozialismus chinesischer Prägung zu kämpfen. Wir brauchen eine Generation, die nach gemeinsamen Idealen strebt.
Wenn die Menschen, die wir erzogen haben, nicht mehr an den Marxismus und Kommunismus glauben und nicht das Banner des Sozialismus chinesischer Prägung hochhalten, wird es eine Tragödie geben wie die drastischen Veränderungen in Osteuropa, den Zusammenbruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und den Zerfall der Sowjetunion.“[29]
In seiner Schlussfolgerung mahnt Xi die Nachwuchsfunktionäre, ihren Glauben an den Marxismus-Leninismus zu stärken und abweichende Meinungsäußerungen unerbittlich zu ahnden. Es fällt auf, dass er in seinem Appell an die Jungkader bewusst religiös konnotiertes Vokabular wie „spirituelle Bindungen“, „politische Seele“, „Ideale“ oder „Glaube“ einsetzt, die gestärkt werden müssten, um nicht in einem dunklen Morast von Selbstaufgabe und Zerfall zu versinken und darin zugrunde zu gehen.
Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Der mutige und gewaltlose Aufstand der Menschen für Freiheit und Demokratie in Mittel- und Osteuropa, bahnbrechend für die Vereinigung Deutschlands, ist für Xi nichts als ein tragisches Desaster, das ihn fast physisch zu schmerzen scheint. Dem Gift westlicher Werte (und Religionen!) setzt er den tiefen Glauben an den Marxismus und vor allem an die Kommunistische Partei entgegen, der in Xis Rede wie eine Säkularreligion aufleuchtet.[30] Ins Geopolitische gewendet heißt das: Es war das Versagen der KPdSU, welches das Ende der Sowjetunion und den Fall der Mauer heraufbeschworen und die Bresche für die räumliche Expansion des Westens geschlagen hat. Der Sieg des politischen Westens im Kalten Krieg führte zu Expansion der NATO gen Osten und dem – horribile dictu - „unipolaren Moment“ Anfang der neunziger Jahre mit den USA als einziger übriggebliebener Großmacht, die ihre Werte von Demokratie und Menschenrechten der ganzen Welt als Standard auferlegen konnte.
Mehr als drei Jahrzehnte nach dem friedlichen Umbruch in Mittel- und Osteuropa einerseits und der gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen beim Tiananmen-Massaker am 3./4. Juni 1989 in Beijing andererseits setzt Xi, gestärkt durch das systematische und skrupellose Vorgehen der Partei gegen ihre Kritiker und den fulminanten Aufstieg Chinas zur zweiten globalen Supermacht nach Amerika, sein Konzept einer multipolaren Welt mit China im Zentrum und dem chinesischen Modell als leuchtendes Vorbild für die Welt entgegen.
4. „Recht“ und „Macht“ und der Primat der Kommunistischen Partei Chinas
Auch in der chinesischen Innenpolitik geht es um ideologischen Abwehrkampf gegen den Westen. Dabei stehen die Abwehr und Umdeutung westlich geprägter Begriffe und Normen wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt des Diskurses von chinesischen Parteiideologen und Verfassungsrechtlern. Die konzeptionelle Weiterentwicklung des „chinesischen Rechtsstaats“ mit Verankerung des Primats der Partei und eingeschränkter Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit, zusammengefasst in der Xi-Formel vom „starken sozialistischen Rechtsstaat“, nimmt nach der Wahl von Xi zum Parteivorsitzenden auf dem XVIII. Parteitag im November 2012 kräftig an Fahrt auf. Einer der führenden Rechtstheoretiker Chinas mit starkem Einfluss auf die Diskussionen innerhalb der KPCh, der Rechtswissenschaftler und Exponent des „Xi Jinping-Denkens“ Jiang Shigong (geb. 1967),[31] entwickelte
„ausgehend von einer Kritik am westlichen Überlegenheitsanspruch eines vermeintlich universalen Verständnisses von Konstitutionalismus seinen eigenen Ansatz eines ‚Parteistaats-Konstitutionalismus chinesischer Prägung‘.“[32]
Bei Jian Shigong stehen das Verhältnis von Recht und Politik und der Begriff des „chinesischen Rechtsstaats“ im Mittelpunkt seiner Veröffentlichungen. Der von ihm mitgeprägte Begriff des „‘sozialistischen Rechtsstaats chinesischer Prägung‘ ist entstanden in Kontrast und der entschiedenen Abgrenzung zu einem Rechtsstaatsverständnis, in dem die Gültigkeit und Umsetzung der in der Verfassung garantierten Normen durch eine unabhängige Justiz garantiert wird.“[33]
Den Gedanken der Abgrenzung vom „westlichen“ Begriff der Rechtsstaatlichkeit führt Jiang Shigong in seiner 2018 erschienenen Exegese einer der wichtigsten Reden des Parteivorsitzenden, Xis Bericht an den XIX. Parteitag der KPCh vom 18.10. 2017, aus.[34] Er beklagt zunächst, dass der Aufbau des chinesischen Rechtsstaats „im Zuge des Studiums der westlichen Rechtsstaatlichkeit allmählich auf einen Irrweg“ geriet, weil die Begriffe „Rechtsherrschaft“ und „Personenherrschaft“ fälschlich als antagonistisch angesehen worden seien. Diese seien aber keine Gegensätze, sondern ergänzten sich gegenseitig. Eine rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft dürfe insbesondere die „Schlüsselrolle von Führern und großen Persönlichkeiten, von politischen Parteien und den Volksmassen in der Geschichte“ nicht ignorieren. Daher habe das ZK der KPCh die Richtlinien zum Aufbau des Rechtsstaats seit dem 18. Parteitag (2012) dahin gehend korrigiert, dass es „die Führung durch die Partei als entscheidende Komponente“ begriffen habe. Darüber hinaus habe das ZK auch die Parteinormen und die Parteidisziplinarvorgaben, die sich vom Parteistatut ableiteten, in das Rechtssystem Chinas eingebracht. In diesem Zusammenhang kritisiert Jian Shigong die in westlichen Demokratien „von Geld und Massenmedien manipulierten kompetitiven Wahlen“, welche die „‘Demokratie‘ auf ‚Elektrokratie‘“ reduziert hätten.[35]
Im Ergebnis habe Xi schon früh deutlich gemacht, dass „‘die Führung durch die Partei das grundlegende Merkmal des Sozialismus chinesischer Prägung und die grundlegende Garantie der sozialistischen Rechtsstaatlichkeit ist‘“.[36] Auf dieser Grundlage habe Xi einige Jahre später, auf dem XIX. Parteitag 2017, betont, dass „‘auf allen Arbeitsgebieten einschließlich der Partei, der Regierung, der Armee, der Bevölkerung, der Massenorganisationen und der Bildung sowie in allen Landesteilen die Partei alles führt‘“ und die Partei „‘die höchste politische Führungskraft bildet‘“.[37] Der „sinisierte“ und an die Führungsrolle der Partei gekoppelte Rechtsstaatsbegriff wird vom Nationalen Volkskongress im März 2018 schließlich mit der Formulierung „starker sozialistischer Rechtsstaat“ in die Präambel der Verfassung (Abs. 7) aufgenommen.[38]
Zusammengefasst haben Xi Jinping, die Führungsgremien der KPCh und einflussreiche Verfassungsrechtler wie Jiang Shigong den Begriff der Rechtsstaatlichkeit kopiert und in das System der chinesischen Parteidiktatur integriert, ihn dabei zunächst als Vehikel westlicher Einflussnahme und Versuch der „Verwestlichung“ des chinesischen Systems diskreditiert, dann entkernt und schließlich komplett umgewertet – von der Beschreibung einer Ordnung, in dem eine unabhängige Justiz politische Entscheidungen der Exekutive kontrolliert und ggfs. korrigiert, hin zu einem System, in dem sich Justiz und Exekutive in totaler Abhängigkeit von einer den Staat wie die Gesellschaft vollständig beherrschenden und durchdringenden Partei befinden. Dabei wird die Überlegenheit der „Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung“ gegenüber ihrem „westlichen“ Pendant postuliert, da nur die chinesische Variante den „wirklichen“ Volkswillen verkörpere und damit den Rechtsstaatsbegriff zur Vollendung führe.
Schon in einer früheren Schrift von 2010 hatte Jiang Shigong seinen „historisch-empirischen“ Ansatz als Mittel zur Abwehr einer „Amerikanisierung des chinesischen verfassungsrechtlichen Denkens“ begründet.[39] Die Aufspaltung der Trinität von Partei, Militär und Staat unter Deng Xiaoping im Sinn von „Gewaltenteilung“ habe 1989 zur „politischen Tragödie von Tiananmen“ geführt und sei damit endgültig gescheitert. China habe daraus gelernt und sein einzigartiges Staatsparteisystem entwickelt „combining the system of multiparty cooperation and the people’s congress system, a combination embodied in the trinity system of rule“.[40]
Aus der Negation und Umwertung von Begriffen der „westlichen“ Rechtswissenschaft wird nunmehr eine verbale Waffe geschmiedet, die auf den Westen zurückgerichtet wird: Der neu entwickelte Begriff der Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung soll in die Welt als strahlendes Vorbild zum Zwecke der Nachahmung zurück exportiert werden. Es geht um nichts Geringeres, als „eine neue Ordnung für die menschliche Zivilisation zu schaffen, die die westliche Zivilisation sowohl übersteigt als auch in sich aufnimmt“.[41]
Jiang Shigong führt dazu aus:
„Dies bedeutet nicht nur das Ende der globalen politischen Ordnung, die seit dem Zeitalter der großen geographischen Entdeckungen von der westlichen Zivilisation beherrscht wird, sondern auch das Ende der 500-jährigen globalen Dominanz der westlichen Zivilisation im kulturellen und zivilisatorischen Sinne und damit den Beginn einer neuen Ära der Entwicklung der menschlichen Zivilisation … Klar vom Standpunkt der chinesischen Zivilisation ausgehend, negiert diese Ära die beiden westlichen zivilisatorischen Entwicklungspfade aus der Zeit nach dem Kalten Krieg – das ‚Ende der Geschichte‘ und den ‚Kampf der Kulturen‘ – und zeichnet ein neues Bild von der Entwicklung der menschlichen Zivilisation.“[42]
Zwar ist diese so ehrgeizige wie klare Ansage einer globalen „Zeitenwende“ weg vom „westlichen“ und hin zum chinesischen Entwicklungsmodell die „semi-offizielle“ akademische Interpretation einer Xi-Rede. Sie liegt indessen zahlreichen offiziellen Verlautbarungen oder Xi-Reden zugrunde. Aus dem Bewusstsein der Überlegenheit des „chinesischen Modells“ leitet Xi das in seinem Bericht an den XIX. Parteitag 2017 deklarierte zentrale außenpolitische Politikziel, den Aufbau einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“, ab. Der Begriff dient der Legitimierung einer internationalen Ordnung unter chinesischer Führung. Beijing setzt die Floskel von der Schicksalsgemeinschaft seit 2017 zur Werbung für seinen globalen Propagandafeldzug für Chinas Strategie der geoökonomischen Expansion entlang der „Seidenstraße“ ein (One Belt One Road 一 带 一 路 yi dai yi lu, kurz Belt and Road Initiative/BRI)[43].
5. Chinas 12-Punkte-Plan zur Ukraine – Anspruch und Wirklichkeit
Das im Februar 2023 veröffentlichte chinesische Positionspapier zur Beilegung der „Ukraine-Krise“[44] ist die bisher umfassendste und wichtigste „Friedensinitiative“ Beijings.[45] Wird dieser „12-Punkte-Plan“ dem selbst gesetzten hohen Anspruch, einen genuinen chinesischen Beitrag zur Beilegung des militärischen Konflikts im Sinn der Förderung der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ und des Weltfriedens zu leisten, gerecht?
Die Antwort ist prima facie ein klares Nein. Zwischen der konzeptionellen Flughöhe der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“, aber auch dem ehrgeizigen Anspruch der politischen Ankündigungsrhetorik Beijings um den euphemistisch so genannten „Friedensplan“ und der operativen Eignung des Papiers als Roadmap zur Konfliktlösung liegen Welten. Allerdings griffe es zu kurz, den Text lediglich als „Nebelwand“ zur Verdeckung der pro-russischen Voreingenommenheit Beijings, als Sammlung banaler Allgemeinplätze zur Streitschlichtung oder nur „weitgehende Übernahme“ der russischen Positionen zu bezeichnen[46]. Diese Wertungen sind richtig, werden in der Gesamtschau dem Papier aber nicht gerecht. Beijing lässt in ihm grundsätzliche geostrategische Positionen erkennen. Es macht klar, dass es ein genuines und nicht nur aus seinem Bündnis mit Moskau abgeleitetes Interesse an einer zeitnahen Konfliktlösung hat.
Die in dem Papier zusammengeführten Vorschläge sind auf fünf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt, die allgemein und unverbindlich sind, solange sie operative Einzelheiten von Verhandlungen oder Waffenstillstand betreffen. Sie werden aber konkret fassbar, sobald sie globale oder sektorale chinesische Interessen widerspiegeln. Das Papier weist damit insgesamt einen stark selbstreferentiellen Charakter auf.
- Vage-unverbindlich und China zu nichts verpflichtend sind die Vorschläge in der Sache zu
(1) Waffenstillstand (Pkt. 3): Aufruf an die Parteien zu „Zurückhaltung“ und Ermunterung zur Aufnahme direkter Gespräche
(2) Aufnahme von Friedensverhandlungen (4): Beide Seiten sollen sich zusammensetzen und miteinander sprechen
(3) humanitärer Hilfe (5), die unter Koordinierung der UN geleistet werden soll
(4) Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen (6): Modalitäten bleiben offen;
(5) Förderung des Wiederaufbaus nach dem Krieg (12).
- In vier der genannten Teilbereiche signalisiert China immerhin seine Bereitschaft, logistische (nicht politische!) Beiträge zu leisten:
(1) China ist bereit, eine „konstruktive Rolle“ bei Schaffung von Voraussetzungen und „Plattformen“ für Verhandlungen zu leisten (Pkt. 4)
(2) Leistung von Hilfe beim Gefangenenaustausch (6).
(3) Unterstützung beim ukrainischen Getreideexport im Rahmen einer von China vorgeschlagenen „Cooperation initiative on global food security“ (9).[47]
(4) Bereitschaft zur Leistung von Hilfe und Übernahme „konstruktiver Rolle“ beim Wiederaufbau (12).
- Ablenkung von der chinesischen Parteinahme zugunsten Russlands und Behauptung angeblicher Äquidistanz Beijings gegenüber Kyjiw wie Moskau, um den „Globalen Süden“ von der Rolle Chinas als „Friedensstifter“ einzunehmen und die internationale „soft power“ Chinas zu stärken. Die Ursache des Konflikts, die Aggression Putins gegen die Ukraine, wird zugunsten der Wiedergabe des russischen Narrativs verschwiegen (vgl. insbesondere Pkt.2, „abandoning the cold war mentality“). Damit bedient Beijing auch traditionelle, im Globalen Süden verbreitete antiamerikanische Klischees.
- Seine unmittelbaren Wirtschaftsinteressen sieht China durch „einseitige (nicht vom UN-Sicherheitsrat gebilligte) Sanktionen“, vor allem Drittlandsanktionen („long-arm jurisdiction“), beeinrächtigt, vgl. Pkt. 10. Außerdem durch Zusammenbruch oder Beschädigung von industriellen u.a. Lieferketten, Pkt. 11.
- Geltendmachung chinesischer strategischer Kerninteressen:
(1) Hinter der Rhetorik gegen den „kalten Krieg“ in Pkt. 2 verbirgt sich die chinesische Sorge und Xis oben geschildertes Trauma vom Sieg des „Westens“ oder westlicher Werte wie Demokratie und Freiheit, was aus Beijings Sicht nicht nur das angestrebte US-chinesische „Duopol“ gefährden, sondern letztlich auch das Machtmonopol der Kommunistischen Partei in China untergraben würde (vgl. Kap. 3,4). In Beijing dominiert daher wie in Moskau die Perzeption des Kriegs gegen die Ukraine als Funktion des Systemkonflikts mit der Großmacht USA.
(2) Warnung vor Einsatz oder Drohung mit Einsatz von ABC-Waffen (Pkt. 8). Dies ist das das zweite strategische Kernanliegen Chinas. Beijing ist alles daran gelegen, eine unkontrollierbare und zu einer globalen Katastrophe führende Eskalation zu verhüten und hat dies Moskau durch Aufzeigen „roter Linien“ mehrfach klargemacht.[48] Ebenfalls von sicherheitsrelevanter Bedeutung ist für China die Sicherheit von Kernkraftwerken in der Ukraine, vor deren Beschädigung deutlich gewarnt wird (Pkt. 7).
Die letztgenannten Kernanliegen tauchen wieder in einem 6‑Punkte-Papier mit Chinas BRICS-Partner Brasilien vom Mai 2024 auf[49], einer verkürzten Version des 12-Punkte-Plans. Absicht ist, den Globalen Süden von Chinas Friedenswillen und angeblicher Unparteilichkeit einzunehmen.[50] Ganz im Vordergrund stehen die strategischen Sorgen Chinas, nämlich Stopp der Eskalation (Punkt 1), kein Einsatz von Massenvernichtungswaffen und Verhinderung nuklearer Proliferation (4), keine Angriffe auf Kernkraftwerke (5) und Wiederherstellung der Stabilität globaler Lieferketten und Handelswege (6). Neu ist die explizite Unterstützung für die Abhaltung einer internationalen Friedenskonferenz unter inklusiver Beteiligung „aller Parteien“, also auch der Ukraine.[51] Relativiert wird dies allerdings durch Chinas Boykott der von der Schweiz im Juni 2024 ausgerichteten Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock und Begrüßung von US-Gesprächen mit Russland unter Ausschluss Kyjiws.
Vor diesem Hintergrund können wir folgende Schlussfolgerungen zur Rolle Chinas im Rahmen eines politischen Konfliktbearbeitungsprozesses ziehen:
- Angesichts der auf dem Spiel stehenden strategischen und wirtschaftspolitischen Interessen Chinas dürfte Beijing Interesse an einem baldigen Kriegsende haben, selbst wenn Washington dadurch Ressourcen für eine stärkere militärische Fokussierung auf Nordostasien freimachen könnte.
- Trump wird es nicht schaffen, durch sein Umwerben Putins Russland von China „abzuwerben“ („reverse Nixon“). Dafür sind die gemeinsamen geostrategischen Interesses Russlands und Chinas an einer Zurückdrängung der NATO aus der russischen „Einflusssphäre“ und die wirtschaftliche Abhängigkeit Moskaus von Beijing zu groß. Beijing wird im Rahmen eines Verhandlungsprozesses darauf bedacht sein, immer in enger Abstimmung und gemeinsam mit Moskau zu agieren. Es wird sich von Trump, der in Zhongnanhai wegen seiner Unberechenbarkeit eher als Risiko denn als Chance gesehen wird, nicht in die Parade seiner Bündnispolitik fahren lassen.
- Ob und wie aktiv sich China in einen politisch-diplomatischen Prozess einbringen und damit politische Risiken und gegebenenfalls Sicherheitsrisiken eingehen wird, hängt von einem kühlen Kosten-Nutzen-Kalkül ab.
Wichtigster Parameter ist die Frage, welche geopolitische Präzedenzwirkung eine Waffenstillstands- und Friedensregelung zur Ukraine aus Sicht Beijings für Chinas Peripherie in Nordostasien entfalten könnte, vor allem mit Blick auf Chinas seevölkerrechtswidriges Vorgehen im Südchinesischen Meer und die im Zuge der Verwirklichung des „chinesischen Traums“ angestrebte „Wiedervereinigung“ mit Taiwan, für die Xi Jinping die Anwendung militärischer Gewalt explizit nicht ausschließt.[52] Genauso wie China „Beinfreiheit“ und Hoheit der Regelsetzung in „seiner“ Peripherie respektiert sehen will, wird Beijing darauf achten, dass Moskau die Entscheidungshoheit im „russischen“ Einflussbereich (zu dem China die Ukraine zählt) verbrieft bekommt.
-
Beijing unterstützt Moskaus Kriegsziel einer „Neutralisierung“ und Verweigerung einer NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine. Ebenso stimmt China mit Russland darin überein, dass keine Truppen aus NATO-Ländern („Koalition der Willigen“) in der Ukraine als internationale Garantie zur Absicherung eines Waffenstillstands stationiert werden sollten. Beijing teilt hier die Sicht Moskaus, dass eine Dislozierung europäischer Truppen in der Ukraine als „direkte Verlängerung des NATO-Einflusses“ aufzufassen und daher für Russland inakzeptabel seien.[53] Ob China so weit geht, in Abstimmung mit Moskau eine eigene Garantenrolle zur Absicherung eines Waffenstillstands anzubieten, wird Beijing zu gegebener Zeit entscheiden. Auf der diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz brachte ein chinesischer Sicherheitsexperte ein gemeinsames chinesisch-indisches Kontingent als „kollektive Sicherheitsgarantie“ ins Spiel mit der Begründung, Truppen aus „neutralen“ Ländern seien für Moskau akzeptabel.[54]
- Im Vergleich zu dem überragenden Interesse Xi Jingpings an der globalen Präzedenzwirkung einer Abgrenzung von Interessenssphären in Mittel- und Osteuropa im Interesse Russlands (und damit der Verhinderung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine) erscheinen die anderen Ziele Chinas als nachgeordnet, bleiben aber wichtig. Dazu zählen vor allem das Offenhalten von Exportmärkten und Rückkehr zu wirtschaftlicher Globalisierung durch Beendigung der Sanktionsregime oder Wiederherstellung unterbrochener Lieferketten.
Die USA und die Europäische Union müssen sich vor diesem Hintergrund im Klaren darüber sein, dass eine Einschränkung der Souveränität und außenpolitischen Entscheidungsfreiheit der Ukraine eine weit über Mittel- und Osteuropa hinausreichende Strahlkraft haben wird. China wird daraus das Recht ableiten, im selbst definierten eigenen „Großraum“[55] chinesische Regeln setzen und das Völkerrecht ignorieren zu dürfen. Es dürfte damit sein Vorgehen bei der Militarisierung des Südchinesischen Meers oder Widerstand gegen die Durchfahrt von fremden Militärschiffen durch die Straße von Taiwan legitimieren. Der Universalität von Völkerrecht und regelbasierter Ordnung, aber auch dem unmittelbaren US-Interesse am militärischen Schutz seines Verbündeten Taiwan und der Freiheit der Schifffahrt im maritimen Raum Nordostasiens, wären damit schwerer Schaden zugefügt.
Fußnoten
[1] Vgl. Sören Urbansky/Martin Wagner, China und Russland. Kurze Geschichte einer langen Beziehung. Berlin 2025, 244.
[2] Nicht nur durch Lieferung von zivil und militärisch einsetzbaren „dual use“-Gütern, sondern auch durch in China produzierten Drohnen. 70% der russischen Importe von Werkzeugmaschinen und 90 % militärisch relevanter elektronischer Produkte stammen aus China, das damit „key enabler of Moscow’s war machine“ ist. So Grzegorz Stec/Eva Seiwert, China on Peace in Ukraine: What to Expect Based on the Track Record of Beijing’s Narratives, 5.3. 2025, https://www.stopfake.org/en/china-on-peace-in-ukraine-what-to-expect-based-on-the-track-record-of-beijing-s-narratives/. Das reflektiert die Einschätzung der NATO im Gipfelkommuniqué zum 75. Jahrestag der Allianz vom 10.7. 2024, Pkt. 26: „The PRC has become a decisive enabler of Russia’s war against Ukraine through its so-called ‘no limits’ partnership and its large-scale support for Russia’s defence industrial base.”
[3] So hat Xi bei dem Gipfel der Shanghai Cooperation Organization (SCO) am 15./16.9. 2022 in Samarkand klar die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität Kasachstans betont und sich mit Blick auf Moskau und den Krieg in der Ukraine wiederholt gegen Einsatz und Proliferation von Atomwaffen ausgesprochen, nicht zuletzt anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Scholz in Beijing am 4.11. 2022 oder auch gegenüber Putin persönlich im März 2023. Vgl. Michał Bogusz und Witold Rodkiewicz, Three Years of War in Ukraine: The Chinese-Russian Alliance passes the Test. In: Centre for Eastern Studies (OSW) Commentary 639, 20.02. 2025), 3. Außerdem FT vom 5.7. 2023, China warns Putin from using nuclear weapons. https://www.ft.com/content/61262024–4260-4beb-ac7e-0fabda52c145
[4] Während die von der UKR eingebrachte GV-Resolution A/RES/ES-11/7 den russischen Angriffskrieg explizit verurteilt und den sofortigen Abzug Russlands fordert, enthält der von Washington vorgelegte Entwurf nur einen allgemeinen Aufruf zu schneller Beendigung des Konflikts und dauerhaftem Frieden, der allerdings auf Betreiben der Europäer um eine Verurteilung Russlands und Forderung der Wiederherstellung territorialer Integrität der Ukraine erweitert wurde. https://press.un.org/en/2025/ga12675.doc.htm
[5] “The Security Council … 1. Implores a swift end to the conflict and further urges a lasting peace between Ukraine and the Russian Federation.” Bei dieser Resolution 2774 (2025) vom 24.2. 2025 dürfte es sich um einen der kürzesten Resolutionstexte in der Geschichte des Sicherheitsrats handeln. https://docs.un.org/en/S/RES/2774(2025)
[6] Vgl. Bogus/Rodkiewicz, a.a.O., 5. Laut EU-Kommission belief sich das Handelsvolumen im Jahr 2024 auf 731,2 Mrd. Euro. China war der drittgrößte EU-Exportmarkt (8.3%) und größter Lieferant von Gütern mit 21.3% aller Importe in die EU. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?oldid=667358
[7] https://scheerpost.com/2025/03/07/chinese-foreign-minister-wang-yi-press-conference/
[8] Die friedliche “Wiedervereinigung” mit Taiwan ist integraler Bestandteil des von Xi Jinping erstmals im November 2012 deklarierten “chinesischen Traums” (中国梦 Zhōngguó Mèng). In seiner letzten Neujahrsansprache am 31.12. 2024 drohte Xi, niemand könne Chinas “Wiedervereinigung” mit Taiwan aufhalten. Die Menschen diesseits und jenseits der Straße von Taiwan bildeten „eine Familie“. https://www.reuters.com/world/china/xi-says-no-one-can-stop-chinas-reunification-with-taiwan-2024–12-31/ Der am 15. Juni 1953 geborene Xi Jinping ist jetzt 71 Jahre alt. China-Experten vermuten, er habe die Begrenzung der Amtszeit als Parteivorsitzender und Präsident auf zweimal fünf Jahre qua Änderung der Parteistatuten und Verfassung auch deswegen aufheben lassen, um diesen wichtigen Teil des „chinesischen Traums“ noch zu seinen Lebzeiten realisieren zu können.
[9] So zuletzt Außenminister Wang Yi bei seiner Pressekonferenz am Rande des Nationalen Volkskongresses am 7. März 2025 in Beijing. China und Russland hätten einen Weg gefunden, miteinander auszukommen, der „bündnisfrei, nicht konfrontativ und nicht gegen eine dritte Partei gerichtet“ sei, wobei sie an der Spitze einer neuen Art von Großmachtbeziehungen stünden und ein Beispiel für die Beziehungen zwischen Nachbarländern darstellten. Reife, widerstandsfähige und stabile chinesisch-russische Beziehungen änderten sich nicht aufgrund eines einzigen Ereignisses, geschweige denn würden sie von einer dritten Partei gestört werden. Sie seien eine konstante Kraft in einer turbulenten Welt. http://german.china.org.cn/txt/2025–03/07/content_117753119.htm
[10] Schon ganz am Anfang der umfassenden Grundsatzerklärung wird die Stoßrichtung der sino-russischen Achse klargestellt: Es gehe darum, Ländern mit hegemonialen Absichten, welche die bestehende internationale Architektur unter dem Deckmantel einer „regelbasierten Ordnung“ aus egoistischen Motiven umkrempeln wollten, entgegenzutreten. Das beste Rezept dagegen sei Chinas Vision einer „Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit“ („community with a shared future for mankind“). Englischer Text der Erklärung in: https://geopoliticaleconomy.com/2024/05/24/china-russia-joint-statement-new-era-75th-anniversary/Originalfassungen in chin. und russ. Sprachversion jeweils auf den Websites beider Regierungen: https://www.chinanews.com.cn/gn/2024/05–16/10217948.shtml und http://kremlin.ru/supplement/6132
[11] In der chinesischen Diktion 乌克兰危机 Wukelan weiji.
[12] Grzegorz Stec/Eva Seiwert, a.a.O., 2. Diese Analyse scheint in zahlreichen amtlichen Äußerungen mit Kritik an der Haltung des Westens auf, vgl. z.B. die Äußerung des Sprechers des Außenministeriums Lin Jian vom 11.7. 2024: „Wir fordern die NATO nachdrücklich auf, über die Ursachen der Krise und ihr eigenes Handeln nachzudenken, aufmerksam auf die aufrichtige Stimme der internationalen Gemeinschaft zu hören und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Deeskalation der Situation zu fördern, anstatt die Schuld abzuwälzen und anderen die Schuld zu geben.“ Unverblümt bringt es das Propagandablatt der KPCh Global Times vom 29.9. 2024 auf den Punkt: “The root cause of the Ukraine crisis is clear. So is the reason why it is dragging on for so long. The US and the West, with their inherent arrogance and self-righteousness, have been pushing forward NATO’s eastward expansion without taking into account the special historical and geographical sensitivities of Russia and Ukraine, which ultimately led to the situation being out of control.” https://www.globaltimes.cn/page/202409/1320539.shtml
[13] Auf dem SCO-Gipfel in Samarkand (vgl. Anm. 2) sagte Xi in einer Rede am 16.9. 2022: „Wir sollten uns vor Versuchen externer Kräfte hüten, eine ‚Farbenrevolution‘ anzuzetteln, uns gemeinsam der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder unter einem Vorwand widersetzen und unsere Zukunft fest in den eigenen Händen halten.“ https://uncutnews.ch/die-vollstandige-rede-von-xi-und-putin-auf-dem-sco-gipfel-in-samarkand/
[14] Auf dem XVIII. Parteitag der KPCh am 15. November 2012.
[15] Deutsche Fassung unter: https://www.neican.org/dokument-nr-9-der-kommunistischen-partei-chinas-kommunique-zur-aktuellen-situation-im-bereich-der-ideologie/
[16] Wang Huning, geb. am 6.10. 1955 in Shanghai, Romanist und Jurist, seit Nov. 2012 Mitglied des Politbüros der KPCh, seit Oktober 2017 auch Mitglied des 7köpfigen Ständigen Ausschusses des Politbüros.
[17] Im Rahmen der von Xi im Jahr 2012 lancierten Anti-Korruptionskampagne, die sich sowohl gegen „Tiger“ (hochrangige Parteifunktionäre) als auch „Fliegen“ (kleine Beamte) richtete, sollen von 2012–2017 insgesamt 1,34 Millionen (!) Partei- und Staatsbedienstete einem Disziplinarverfahren unter Ägide der Zentralen Disziplinarkommission der KPCh (Central Commission for Discipline Inspection, CCDI) unterworfen worden sein. Darunter 134 Funktionäre im Minister- oder Vizeministerrang. Vgl. BBC-Meldung „Charting China’s ‚Great Purge‘ under Xi” vom 23.10.2017, https://www.bbc.com/news/world-asia-china-41670162
[18] Vgl. z.B. die Darstellung bei Klaus Mühlhahn, Geschichte des modernen China von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart, München 2021, 609 ff.
[19] In offizieller englischer Übersetzung „Community with a Shared future for Mankind”.
[20] Durch Änderung der Verfassung (Präsident), aus deren Artikel 79 die Bestimmung entfernt wird, dass der Präsident sein Amt „nicht länger als zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden“ ausüben soll. Vgl. Verfassungstext in engl. Sprache, https://www.chinajusticeobserver.com/law/x/constitution-of-china-20180318. Die Amtszeitbegrenzung des Generalsekretärs der KPCh und Staatsratsvorsitzenden (Präsident) von zweimal fünf Jahren hatte Deng Xiaoping im Jahr 1982 als Bollwerk gegen Exzesse während der 27jährigen Regierungszeit Mao Zedongs eingeführt, Parteivorsitzender von Gründung der VR China 1949 bis zu seinem Tod 1976.
[21] Vgl. Johannes Regenbrecht, Im Schatten von Carl Schmitt: Putins und Trumps Ideen zur Aufteilung Europas. Zentrum Liberale Moderne, 27.02. 2025, https://libmod.de/im-schatten-von-carl-schmitt-putins-und-trumps-ideen-zur-aufteilung-europas/.
[22] Vgl. Ryan Martínez Mitchell, Chinese Receptions of Carl Schmitt since 1929. In: Penn State Journal of Law & International Affairs, 8/1 (2020), 181–263, hier 263: “In general, Schmitt’s status as a source of critical perspectives on liberal constitutional democracy is by now quite firmly established in Chinese intellectual discourse. It is less certain, however, whether his thought will help to build any new special path for Chinese political modernity, or any lasting domestic or international legal structures.”
[23] Grzegorz Steck/Eva Seiwert, a.a.O., 3.
[24] Xi erlebte den Zerfall der Sowjetunion und das Tiananmen-Massaker im Mai 1989 von der südlichen Sadt Ningde aus, wo er als Stadtparteisekretär amtierte. 1990 wurde er Sekretär des Stadtparteikomitees von Fuzhou, einer wichtigen Hafenstadt mit Zugang zum Pazifik und Hauptstadt der Provinz Fujian, nur 255 km über die Straße von Taiwan hinweg von der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh entfernt.
[25] Dazu Klaus Mühlhahn, a.a.O., 100ff.
[26] In seiner Rede zur Lage der Nation am 25.4. 2005. https://laender-analysen.de/russland-analysen/63/putins-botschaft-zur-lage-der-nation-am-25-april-2005/
[27] Auf der gleichen Linie argumentiert der chinesische Verfassungsrechtler und Philosoph Jiang Shigong in einer Exegese des Berichts Xi Jinpings an den XIX. Parteitag der KPCh vom 18.10. 2017. Die Erosion der KPdSU habe nicht erst mit Gorbatschows „neuem Denken“, sondern schon unter Chruschtschow begonnen, unter dem erstmals die „philosophische Waffe des Marxismus-Leninismus“ stumpf geworden sei. China habe deswegen nicht das sowjetische Schicksal erlitten, weil Mao Zedong die „revisionistische Linie“ Chruschtschows von Anfang an kritisiert und auf vollständige Lösung Chinas vom sowjetischen Modell gedrängt habe. Vgl. Jiang Shigong, Philosophie und Geschichte. Eine Interpretation der „Ära Xi Jinping“ auf Basis des Berichts auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. In: Daniel Leese/Shi Ming (Hgg.), Chinesisches Denken der Gegenwart, München 2023, 272–328, hier 318f.
[28] 14tätig erscheinendes Organ des Zentralkomitees der KPCh, wörtlich übersetzt „Wahrheit suchen“. Titel des Artikels: „Streben Sie danach, zu einer Säule von Talenten heranzuwachsen, die der Partei und dem Volk gegenüber loyal und zuverlässig und der wichtigen Verantwortung der Zeit würdig sind.“ In: Qiúshì 2023/13, 30.6. 2023, http://www.qstheory.cn/dukan/qs/2023–06/30/c_1129723161.htm
[29] A.a.O. Hervorhebung des letzten Absatzes durch Verf.
[30] So Massimo Introvigne, Xi Jinping: The Ende of the Soviet Union is “Too Painful to Look Back Upon”. In: Bitter Winter. A Magazine on Religious Liberty and Human Rights, 13.07. 2023. https://bitterwinter.org/xi-jinping-the-end-of-the-soviet-union-is-too-painful-to-look-back-upon/
[31] Vgl. Daniel Leese/Shi Ming, a.a.O., 616 und Wikipedia-Artikel, Jiang Shigong, https://en.wikipedia.org/wiki/Jiang_Shigong. Shigong, derzeit Präsident der der Einheitsfront der KPCh angegliederten Minzu-Universität in Beijing (vorher Professor für Rechtswissenschaften an der renommierten Elitehochschule Beijing Universität), ist ein antiliberaler „konservativer Sozialist“. Regierungserfahrung sammelte er von 2004–2008 als Mitarbeiter des Verbindungsbüros des chinesischen Staatsrats (Regierung) in Hongkong. Er gilt als strikter Verfechter der unanfechtbaren Führungsrolle der Kommunistischen Partei, die in einer „ungeschriebenen Verfassung Chinas“ verankert sei, und ist einer der wichtigsten Übersetzer der Werke des antiliberalen deutschen Verfassungsrechtlers Carl Schmitt (1888–1985) und Vertreter von dessen Ideen in China.
[32] Charlotte Kroll, Carl Schmitt in China. Liberalismus und Rechtsstaatsdiskurse, 1989–2018, Diss. phil. Heidelberg 2020, 174. https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/31452/1/Kroll_2022_Carl_Schmitt_in_China.pdf
[33] A.a.O., 196.
[34] In deutscher Sprache abgedruckt in Daniel Leese/Shi Ming (Hgg.), a.a.O. Technisch handelt es sich bei dieser Rede um einen sorgfältig redigierten, über Jahre im Vorfeld abgestimmten und vom ZK-Plenum gebilligten Bericht des vorhergehenden 18. Zentralkomitees an den eine neue Fünfjahresperiode eröffnenden XIX. Parteitag, der das politische Programm für den Fünfjahreszeitraum 2017–2022 verkündet.
[35] Jiang Shigong, a.a.O., 286f. Hier klingt deutlich erkennbar die Kritik von Carl Schmitt an Wahlen und pluralistisch angelegtem Parlamentarismus in dessen Verfassungslehre (1928) und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923) durch.
[36] Jiang Shigong, a.a.O., 325, mit Bezugnahme auf den Bericht Xis an das 4. Plenum des 18. ZK vom 29.10. 2014.
[37] Ebd.
[38] Charlotte Kroll, a.a.O., 186.
[39] Jiang Shigong, Written and Unwritten Constitutions: A New Approach to the Study of Constitutional Government in China. In: Modern China 36 (1), 12–46, hier 41.
[40] A.a.O., 36.
[41] Jiang Shigong, Philosophie und Geschichte. Eine Interpretation der „Ära Xi Jinping“ auf Basis des Berichts auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. In: Daniel Leese/Shi Ming (Hgg.), a.a.O., 306. Erstveröffentlichung 2018 in der ersten Ausgabe der von der Akademie für Sozialwissenschaften in Guangzhou herausgegebenen Open Times.
[42] A.a.O., 306f.
[43] Offizielle chinesische Website auf https://eng.yidaiyilu.gov.cn/. Der 2013 lancierten „Belt and Road Initiative“ (BRI) gehören mittlerweile 149 Staaten an.
[44] China’s Position on the Political Settlement of the Ukraine Crisis, updated February 24, 2023, 09:00h, veröffentlicht auf der Website des chinesischen AM. https://www.mfa.gov.cn/eng/zy/gb/202405/t20240531_11367485.html
[45] Dem Papier sind kürzere Erklärungen vorausgegangen bzw. gefolgt, die sich alle inhaltlich in den 12 Punkten widerspiegeln. Im Mai 2024 gab China gemeinsam mit Brasilien einen „Six-Point Consensus“ zum „Political Settlement of the Ukraine Crisis“ heraus, der ebenfalls keine neuen Inhalte hinzufügt, allerdings mit Blick auf das bilaterale Format und als Initiative zur Einbindung des Globalen Südens einen wichtigen neuen Akzent setzt. Im Mai 2023 ernannte Beijing den Sondergesandten für euro-asiatische Angelegenheiten Li Hui zum Beauftragten für die chinesischen Ukraine-Initiativen. Im Rahmen der Vereinten Nationen betreibt China seit Herbst 2024 eine „Group of Friends for Peace“, vgl. z.B. https://www.mfa.gov.cn/eng/wjbzhd/202409/t20240929_11500459.html
[46] So z.B. Sören Urbansky/Martin Wagner, a.a.O., 249.
[47] Vgl. Xinhua-Meldung vom 8.7. 2022, China proposes cooperation initiative on global food security at G20 meeting, https://english.news.cn/20220708/d0e86c46b7764a38b2320a62b72864dd/c.html
[48] Vgl. oben Anm. 3.
[49] „Common Understanding between China and Brazil on Political Settlement of the Ukraine Crisis”, verkündet am 23.05. 2024 bei einem Treffen zwischen AM Wang Yi und Präsidentenberater Celso Amorim in Beijing. https://www.gov.br/planalto/en/latest-news/2024/05/brazil-and-china-present-joint-proposal-for-peace-negotiations-with-the-participation-of-russia-and-ukraine
[50] Am Rande der UNO-Generalversammlung im September 2024 warb China für die Etablierung einer „Friends of Peace“-Gruppe zur Unterstützung des Plans, den (lt. Aussage des chinesischen Außenministeriums vom September 2024) angeblich über 110 Länder befürworten.
[51] “ … support an international peace conference held at a proper time that is recognized by both Russia and Ukraine, with equal participation of all parties as well as fair discussion of all peace plans.” (Punkt 2)
[52] Xi Jinping in seinem Bericht zum XX. Parteitag am 16.10.2022, 52: „Taiwan is China’s Taiwan. Resolving the Taiwan question is a matter for the Chinese, a matter that must be resolved by the Chinese. We will continue to strive for peaceful reunification with the greatest sincerity and the utmost effort, but we will never promise to renounce the use of force, and we reserve the option of taking all measures necessary.” https://english.www.gov.cn/news/topnews/202210/25/content_WS6357df20c6d0a757729e1bfc.html
[53] So der ehem. PLA-Offizier und Sicherheitsexperte der Tsinghua-Universität Zhou Bo in einem DW-Interview am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz am 17.2. 2025, https://www.dw.com/en/chinese-military-expert-donald-trump-has-asked-china-to-help-make-peace/video-7163318
[54] So Zhou Bo in demselben Interview.
[55] Die Großraumtheorie des antiliberalen Juristen und Nazi-Apologeten Carl Schmitt, erstmals dargelegt in dessen Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht“ (1939), wird in China anders als Schmitts Verfassungslehre erst seit wenigen Jahren breiter rezipiert. Das liegt daran, dass sein einschlägiges Grundsatzwerk Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum erst seit 2017 in einer chinesischen Übersetzung vorliegt. Gleichwohl werden seine Thesen schnell von einflussreichen Politikwissenschaftlern und Juristen wie Jiang Shigong (vgl. oben, Kap. 4) aufgegriffen, da sie sich zur Legitimation des multipolaren Weltbilds der KPCh mit normativem Gestaltungsanspruch in der eigenen Peripherie bestens eignen. Vgl. Ryan Martínez Mitchell, Chinese Receptions of Carl Schmitt since 1929. In: Penn State Journal of Law & International Affairs 8 (1) 2020, 182–263.
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