Quo vadis, Israel?
Am ersten November wird in Israel ein neues Parlament gewählt. Wieder einmal ist es eine Schicksalswahl für den jüdischen Staat – nichts weniger als die Demokratie steht auf dem Spiel.
Die fünfte Wahl in drei Jahren. Eine Folge der tiefen Spaltung der Gesellschaft, der es letztlich nur um ein einziges Thema geht: „Bibi“ – ja oder nein, will heißen: Soll Benjamin Netanyahu, der rechtskonservative Ex-Premier mit populistischen Zügen, der Mann, gegen den ein Prozess wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen läuft, soll „King Bibi“, wie ihn seine Anhänger, die „Bibisten“ (in Parallele zu den Trumpisten), nennen, wieder Regierungschef werden? Schon jetzt hat es keinen israelischen Politiker gegeben, der länger Premier war als Netanyahu, nicht einmal David Ben Gurion. Über Netanyahu ist schon alles gesagt. Zu seinen politischen Buddies zählten in seiner Amtszeit natürlich Donald Trump, aber auch Viktor Orbán oder auch Brasiliens Bolsonaro. Er will, er muss unbedingt zurück an die Macht. Denn worum es ihm dabei geht – mal abgesehen von der Lust auf Macht – ist vor allem, seinen Prozess zu beenden. Und das bedeutet, dass Netanyahu als Premier das politische System verändern und die Macht der Gerichte, wahrscheinlich sogar des Obersten Gerichts, so einschränken will, dass ihn niemand mehr behelligen kann. Dass er „durchregieren“ kann, so wie er es will. Er wird versuchen, das demokratische System anzugreifen.
Die Knesset, das israelische Parlament, verfügt über 120 Sitze. 61 Mandate sind also mindestens nötig, um regieren zu können. Um das zu erreichen, hat Netanyahu gerade die beiden Rechtsextremisten Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich mit ihren beiden Parteien „Jüdische Macht“ und „Religiöser Zionismus“ überredet, in einer gemeinsamen Liste anzutreten, um nur ja nicht als Einzelparteien unter der 3,25%-Hürde zu landen. Ben Gvir hätte auch allein ins Rennen gehen können. Der Extremist, der ganz in der Tradition des rassistischen Rabbi Meir Kahane mit seiner „Kach“-Partei aus den 1980er Jahren steht, schwimmt gerade in Richtung Mainstream. Sein Hass auf Araber, sein „Jewish Supremacy“-Denken dringen immer tiefer in die israelische Gesellschaft ein. Bezalel Smotrich ist ihm da ganz ähnlich, doch Ben Gvir ist bei den einfachen Leuten beliebter. Viele von ihnen sind misrachische, orientalische Juden. Auch Ben Gvir ist Misrachi und obendrein ein praktizierender Jude, was ihn für junge, misrachische Ultraorthodoxe interessant macht, die mit ihren Rabbinern und der orientalischen „Schas“-Partei nicht mehr zufrieden sind. Netanyahu ist also bereit mit solchen Politikern zu koalieren, wenn dies die einzige Option zurück an die Macht ist. Wird es soweit kommen?
Das Problem ist seit Jahren dasselbe: Das Mitte-Links Lager hat keine herausragende Führungspersönlichkeit, die Netanyahu wirklich Paroli bieten könnten. Auch wenn der derzeit amtierende Interims-Premier Jair Lapid mit seiner „Yesh Atid“-Partei zweitstärkste Kraft hinter Netanyahus Likud werden dürfte, wird es für ihn schwer sein, eine neue Koalition zu bilden. Die Linke – Arbeitspartei und Meretz – sind nur noch Randparteien, die froh sein können, wenn sie es überhaupt noch in die Knesset schaffen. Verteidigungsminister Benny Gantz, einst Lapids Weggefährte und jetzt sein politischer Konkurrent, hat kürzlich seine Partei „Blau-Weiß“ mit Gideon Sa’ars „New Hope“-Partei zu einer neuen Liste zusammengeführt. Auch er hat Ambitionen, Premier zu werden. Und er hat möglicherweise bessere Chancen als Lapid, obwohl Lapids Partei auf 23 Mandate kommt und Gantz‘ nur auf etwa 13. Doch Gantz ist besser positioniert. Er steht im Mitte-Rechts Lager, er kann mit allen koalieren, auch mit den ultraorthodoxen Parteien, die Lapid hassen, weil dieser in seinen Anfängen als Politiker vor zehn Jahren einen strikt säkularen Kurs gefahren ist und Ultraorthodoxe zum Militärdienst zwingen wollte, von dem sie kollektiv befreit sind.
Gantz hofft, am Ende eine breite Koalition aufstellen zu können. Mit den Frommen, mit einem Likud ohne Netanyahu, mit anderen rechten Parteien, die jetzt noch mit den Linken, Lapid und der arabischen Partei „Ra’am“ koalieren. Die noch amtierende Regierung, die aus acht Parteien besteht, hielt zusammen, weil sie alle ein gemeinsames Ziel hatten: Netanyahu zu verhindern. Das war ihnen ein Jahr lang gelungen, dann hatten ideologische Zwistigkeiten die Regierung von Premier Naftali Bennett platzen lassen, Lapid ist jetzt erst einmal nur bis zur Wahl Regierungschef. Wenn Gantz also die einzige Möglichkeit für eine Koalition ohne „Bibi“ wäre, würden alle rechten Parteien sich sofort hinter ihm versammeln. Er könnte dann bequem regieren, in der Knesset haben alle rechten Parteien zusammen mit den orthodoxen Parteien längst eine überwältigende Mehrheit.
Was auf dem Spiel steht, ist also klar. Politisch würde sich die Politik eines Premiers Gantz allerdings von der eines Netanyahu kaum unterscheiden. Er würde das demokratische System nicht anrühren, das nicht. Aber ansonsten sind seine Positionen gegenüber den Palästinensern, dem Iran und anderen Brennpunkten israelischer Politik denen Netanyahus sehr nahe.
Was also geschieht am 1.November, dem Wahltag: Werden die israelischen Bürger Netanyahu das Mandat geben, die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ massiv zu beschädigen? Dass das Vertrauen in die Demokratie gesunken ist – wie fast überall in der demokratischen Welt – ist auch in Israel ein Fakt. Dass das System kaputt ist, wie viele Beobachter aufgrund der permanenten Neuwahlen behaupten, ist jedoch nicht ganz richtig. Wenn Netanyahu aus dem politischen Leben verschwunden wäre, würden die Menschen wieder nach Überzeugungen und Themen wählen. Und es gäbe sofort eine funktionsfähige Regierung. Wie lange dieser Weg bis dahin noch ist, wird sich bald zeigen. Sollte Netanyahu verlieren, wäre es wohl sein endgültiges Aus in der Politik. Netanyahu wird im Oktober 73 Jahre alt. Bei einer Niederlage im November wäre ein zweiter Comeback-Versuch wohl aussichtslos, wenngleich „Bibi“ immer für Überraschungen gut ist. Denn eines muss man ihm lassen: Er gibt nie auf, er kämpft. Um nicht zuletzt zu verhindern, dass er möglicherweise in seinem Prozess verurteilt wird und dann ins Gefängnis müsste.
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