Der „Deutsche Herbst“ 1977: Wende­punkt der radikalen Linken in der Bundesrepublik

Dialektik der Aufklä­rung: Michael Sont­heimer beschreibt, wie der mora­li­sche Bankrott der RAF die poli­ti­sche Reso­zia­li­sie­rung der Links­ra­di­kalen beför­derte – bis hin zur Gründung der „Grünen“.

Am Nach­mittag des 19. Oktobers 1977 geht im Redak­ti­ons­sitz der „Libé­ra­tion“ in Paris ein Kommu­nique des „Kommandos Siegfried Hausner“ der Roten Armee Fraktion (RAF) ein. Darin heißt es: „Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Helmut Schmidt, der in seinem Mach­kalkül von Anfang an mit Schleyers Tod speku­liert hat, kann ihn sich in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi mit Bad Homburger Kenn­zei­chen abholen.“ Fran­zö­si­schen Poli­zisten finden den entführten Arbeit­ge­ber­prä­si­denten und vorma­ligen SS-Unter­sturm­füh­rers tot an dem bezeich­neten Ort. Erschossen. Das Drama des bald so genannten „Deutschen Herbstes“ hat sein Ende gefunden.

Am 5. September 1977 hatten vier RAF-Mitglieder in Köln Schleyer entführt und vier Poli­zisten, die ihn beglei­teten, erschossen. Als Bedingung für die Frei­las­sungs Schleyers forderte die Terro­gruppe die Frei­las­sung von elf inhaf­tierten RAF-Mitglie­dern, darunter das inof­fi­zi­elle Führungs­paar Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Nachdem klar war, dass Bundes­kanzler Helmut Schmidt (SPD) und seine Regierung dieser Forderung nicht nachgeben würden, entführten mit der RAF verbün­dete Paläs­ti­nenser am 13. Oktober 1977 den Lufthansa-Jet Landshut mit 86 Passa­gieren und fünf Besat­zungs­mit­glie­dern an Bord in die soma­li­sche Haupt­stadt Moga­di­schu. Ein Bundes­grenz­schutz­kom­mando stürmte die Maschine und befreite die Geiseln, nur wenige Stunden später begingen im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe Suizid.

Helmut Schmidt sagte später: „Wir sahen uns unauf­lös­lich verstrickt – wie in einer grie­chi­schen Tragödie.“ Die große Mehrheit der West­deut­schen stand hinter dem Kanzler und seiner Regierung. Die nach Konsens und Ausgleich strebende Bundes­re­pu­blik hatte ihre bis dahin größte innen­po­li­ti­sche Heraus­for­de­rung zu bestehen. Damals, so regis­trierte der konser­va­tive Histo­riker Ernst Nolte erfreut, „war die Bundes­re­pu­blik zum ersten Mal ein Staat im Vollsinn des Wortes, weil die ungeheure Mehrheit der Bevöl­ke­rung Tag um Tag und Stunde um Stunde mit ihrer Führung bangte und hoffte und schließ­lich trauerte.“ Auch der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Justiz­mi­nister Hans-Jochen Vogel befand im Bundestag: „Die Menschen haben in diesen Tagen und Wochen gespürt, dass der Staat mehr sein muss als eine Schön­wet­ter­ver­an­stal­tung zur Wohlstandsmehrung.“

Die RAF erlitt im Herbst 1977 eine umfas­sende Nieder­lage, ... Sie war moralisch, politisch und mili­tä­risch auf ganzer Linie geschei­tert. Sie hatte den Ordnungs­po­li­ti­kern der etablierten Parteien Argumente für die Einschrän­kung des liberalen Rechts­staats geliefert. Sie hatten den Ruf der radikalen Linken, ja der gesamten Linken, geschädigt. 

Die RAF erlitt im Herbst 1977 eine umfas­sende Nieder­lage, von der sie sich nie mehr erholte, auch wenn sie erst 1998 ihre Auflösung beschloss. Die Gruppe, die sich in einem globalen amti­im­pe­ria­lis­ti­schen Kampf an der Seite von Befrei­ungs­be­we­gungen der Dritten Welt sah, hatte in der Bundes­re­pu­blik ihre erklärten Feinde gestärkt. Sie war moralisch, politisch und mili­tä­risch auf ganzer Linie geschei­tert. Sie hatte den Ordnungs­po­li­ti­kern der etablierten Parteien Argumente für die Einschrän­kung des liberalen Rechts­staats geliefert. Sie hatten den Ruf der radikalen Linken, ja der gesamten Linken, geschädigt.

Es klingt absurd, aber der sinnlose Gueril­la­krieg, den die RAF führte, hatte auch positive Auswir­kungen, und zwar auf die radikale Linke, aus der die Mitglieder der RAF gekommen waren. Die aller­meisten der aus der Studen­ten­be­we­gung kommenden Links­ra­di­kalen lehnten zwar die RAF und ihre Strategie schon seit der gewalt­samen Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 in West-Berlin ab, vielfach war ihre Kritik aber nur halb­herzig. Sie teilten das Ziel eines revo­lu­tio­nären Umsturzes und waren auch in der „Gewalt­frage“ nicht zimper­lich. Als die RAF-Kader unter besonders harten Bedin­gungen inhaf­tiert waren, soli­da­ri­sierten sich etliche mit ihnen. Mit der Offensive 77 zerstörte die RAF die letzten Reste von Unter­stüt­zung. Die Ermordung der Begleiter von Gene­ral­bun­des­an­walt Siegfried Buback und Arbeit­ge­ber­prä­si­denten Hanns Martin Schleyer, besonders aber die Geisel­nahme der Urlauber im Lufthansa-Jet Landshut, das ging auch denen, die zunächst bei RAF-Atten­taten eine „klamm­heim­liche Freude“ empfunden hatten, entschieden zu weit.

Auch befördert durch die nach dem Tode Schleyers verschärfte staat­liche Repres­sion gegen Links­ra­di­kale fanden diese zu einer stra­te­gi­schen Neuori­en­tie­rung. Die mora­li­sche Frag­wür­dig­keit und mili­tä­ri­sche Hoff­nungs­lo­sig­keit des Krieges einer kleinen Gruppe gegen den Staat und die Gesell­schaft lag auf der Hand. Im Januar 1978 trafen sich an die 10.000 undog­ma­ti­sche Links­ra­di­kale, allgemein „Spontis“ genannt, zum Tunix-Kongress in West-Berlin. Seine Initia­toren hatten noch mit dem Motto der Bremer Stadt­mu­si­kanten: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ zum Auswan­dern aus dem Modell Deutsch­land aufge­rufen. Tatsäch­lich aber hatte bereits eine alter­na­tive Grün­der­zeit begonnen; allent­halben sprießten in der linken Szene alter­na­tive Projekte aus dem Boden: Buchläden, selbst­ver­wal­tete Kinder­gruppen, Tischler- und Taxi­kol­lek­tive. Bald erfolgte die Gründung der „tages­zei­tung“ und der Vorläufer der Partei „Die Grünen“. Rudi Dutschke, Joschka Fischer, Jürgen Trittin, bald auch Christian Ströbele und Otto Schily enga­gierten sich bei der Partei. Sie war in ihren Anfängen nicht nur eine Ökopartei, sondern auch eine links­ra­di­kale Partei, gemischt mit Bürger­lich-Konser­va­tiven, die das scheinbar fest­ge­fügte Drei-Parteien-System der Bundes­re­pu­blik aufbrach. Der taz-Redakteur Stefan Reinicke schieb 2003: „Die verlo­renen Kinder des Bürger­tums kehrten zaghaft in Bunten und Grünen Listen in die Parla­mente und die Republik zurück.“

Die RAF sorgte also im Deutschen Herbst 1977 dafür, dass sich die Rebellen von 1968 und die Links­ra­di­kalen der Sieb­zi­ger­jahre auf den Weg zurück in die Gesell­schaft machten, aus der sie ausge­bro­chen waren. Sie wandten sich wieder dem Staat zu, den sie so hart bekämpft hatten. Ein histo­ri­sches Verdienst der RAF, wenn auch ein unbeabsichtigtes.

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