Israel: Vier Wahlen und ein Gerichtsprozess
Das grundsätzliche politische Programm der israelischen Oppositionsparteien: EGO. Ganz großes EGO. Deshalb ist keineswegs ausgemacht, dass Langzeitpremier Netanjahu abtreten muss, obwohl seine Koalition unvereinbare Partner zusammenbringen müsste. Doch der Reihe nach.
Die vierten Wahlen in Israel innerhalb von zwei Jahren haben erneut kein eindeutiges Ergebnis gebracht. Oder doch: Premier Benjamin Netanyahu hat eigentlich – eigentlich – krachend verloren. Seine Likud-Partei ist immer noch stärkste Partei mit 30 Mandaten, aber sie hat dennoch einige Sitze eingebüßt. Und mit den anderen Parteien, die fest zu Netanyahu stehen – die orthodoxen Parteien und die Rechtsextremisten – hat Netanyahu gerade mal 52 Mandate, d.h. die Mehrheit der Israelis will Netanyahu nicht mehr. In der 120 Sitze umfassenden Knesset braucht es mindestens 61 Mandate, um eine Regierung bilden zu können. Und die anderen? Die haben 57 Mandate erhalten. „Unentschieden“ sind zwei Parteien: die ultrarechte Yamina-Partei von Naftali Bennett mit sieben Sitzen und die „Ra’am“ Partei von Mansour Abbas, die der Muslimbruderschaft nahesteht und mit vier Sitzen in der Knesset vertreten sein wird.
Um dieses Durcheinander zu verstehen, muss man wissen, dass die Oppositionsparteien in diesem Wahlkampf so gut wie kein Programm hatten.
Es ging ausschließlich darum, den Premier loszuwerden, der wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen vor Gericht steht und in den letzten Jahren zunehmend autokratische Züge annahm, wenngleich das israelische System bislang seinem Versuch, die Demokratie restlos zu unterminieren, Widerstand leisten konnte. Noch.
Die Opposition besteht aus Parteien, die vom linken bis zum ultrarechten Spektrum reichen.
Bei den ultrarechten Parteien ist vor allem Naftali Bennetts Yamina interessant. Wie Gideon Saar mit der „Neuen Hoffnung“ oder Avigdor Lieberman mit „Yisrael Beiteinu“, ist Yamina ideologisch Netanyahus Likud nahe, beziehungsweise noch weiter rechts zu verorten als der Premier. Doch wie Saar und Lieberman gehört auch Bennett zu jenen Politikern, die einst eng mit Netanyahu zusammengearbeitet hatten, aber von ihm dann jeweils ausgetrickst und hintergangen wurden, so dass sie gehen mussten und gehen wollten, um eine Alternative aufzubauen. Bennett, ein ehemaliger Elite-Soldat und Millionär dank seiner High-Tech-Firma, die er vor Jahren für eine dreistellige Millionensumme verkauft hatte, sieht sich als legitimen Nachfolger Netanyahus an, als zukünftiger Führer der gesamten israelischen Rechten. Obwohl er schon mehrfach Ministerposten inne hatte, ist diese Hybris durch nichts gerechtfertigt, schon gar nicht durch das mickrige Wahlergebnis für seine Partei. Aber Bennett hat sich selbst zum „Königsmacher“ emporgeschwungen, in dem er zwar ebenfalls „Bibi“ enthronen will, aber anders als die anderen nicht ausgeschlossen hat, mit ihm möglicherweise doch zu koalieren. Nur, selbst mit Yamina, hat Netanyahu immer noch keine 61 Mandate, die Opposition hätte sie mit Bennett aber schon.
Bibis neue Hoffnung: Die Muslimbruderschaft.
So kommt ein weiterer, überraschender Player ins Spiel: Die Muslimbruderschaft, ausgerechnet. Netanyahu hatte im Wahlkampf erfolgreich die vier arabischen Parteien, die in der „Joint List“ vereint waren, und in der letzten Knesset beachtliche 15 Mandate hatte, gespalten. Er versprach Mansour Abbas von „Ra’am“ mehr Geld für soziale und sonstige Projekte für die israelischen Araber bereit zu stellen. Abbas argumentierte, er werde eventuell mit Netanyahu paktieren, weil man endlich einmal die Realitäten im Lande anerkennen und mit dem Premier zusammen arbeiten müsse, der nun mal an der Macht ist. Wunschdenken würde die Probleme der israelischen Araber nicht verschwinden lassen.
Was dazu führt, dass Israel, dass Netanyahu in eine geradezu absurde Situation geraten sind. Bibi könnte abhängig sein sowohl von homophoben, anti-arabischen Rassisten und Anti-Demokraten wie der rechtsextremen Liste „Religiöser Zionismus“ und gleichzeitig von islamistischen Muslimbrüdern.
Während die jüdischen Rechtsextremen bereits abgelehnt haben, mit Arabern in einer Koalition zu sitzen, hat Netanyahu schon signalisiert, dass er sich das durchaus vorstellen oder aber von ihnen von außen geduldet werden könne. Natürlich, denn sein Ziel ist es, die Gesetze so zu ändern, dass er doch noch Immunität erhält und der Prozess gegen ihn platzt. Und dafür will er auch die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts unterminieren. Also heiligt der Zweck quasi die Mittel.
Doch noch wird Netanyahu versuchen, „natürliche Verbündete“ zurückzugewinnen, etwa die Politiker von Gideon Saars „New Hope“, die alle den Likud verlassen haben und im Grunde Likudniks geblieben sind, wenngleich sie Netanyahu verabscheuen. Doch wenn Bennett sich für Netanyahu entscheidet und der Premier wenigstens zwei Abgeordnete zurückholen kann – dann hätte er seine Mehrheit, er bliebe der ewige Premier.
Potentielle Könige und Königsmacher
Und damit zurück zur Opposition. Ihr Programm: EGO. Denn jeder will Premier werden. Yair Lapid, der mit seiner „Yesh Atid“ Partei zweite Kraft hinter dem Likud geworden ist, eigentlich auch Gideon Saar, doch sein schlechtes Abschneiden lässt das nicht zu. Und natürlich – da ist er wieder – Naftali Bennett. Er hat, wie gesagt, sieben Mandate, Lapid allerdings 17. Doch das spielt in Israel in dieser Situation keine Rolle. Bennett wird versuchen, die Opposition zu erpressen: entweder macht ihr mich zum Premier oder ich koaliere mit Netanyahu. Dabei geht es nur um ein einziges Gesetz, dass die Opposition mit ihrer Mehrheit in der neuen Knesset verabschieden müsste: dass ein Angeklagter nie wieder für das Amt des Premiers kandidieren darf. Damit wäre Netanyahu endgültig erledigt. Doch obwohl alle, wirklich alle beten und hoffen Bibi in die Wüste zu schicken, sind sie – zumindest derzeit – nicht bereit, die entsprechenden Opfer zu bringen. Selbst die kleine Arbeitspartei, die Glück hatte, doch wieder in die Knesset gewählt zu werden, kommt jetzt plötzlich mit Grundsatzforderungen, anstatt einfach zu sagen: wir müssen die Demokratie retten, wir müssen uns zusammentun, um das politische System von Netanyahu zu befreien und dann können wir Neuwahlen ansetzen. Und endlich gegeneinander mit politischen Konzepten antreten, die den Wählern präsentiert werden, um zu entscheiden, wie das Land weitermachen soll.
Eine fünfte Wahl?
Netanyahu hat also in diesem ganzen Chaos durchaus noch Chancen zu gewinnen, wenn er Bennett und Ra’am zu sich holen kann. Und wenn die Opposition weiter so zerstritten bleibt, wie es gerade ausschaut. Was auch noch möglich ist: keine Seite schafft irgendetwas. Na, dann wird es im Sommer zur fünften Wahl innerhalb von zweieinhalb Jahren kommen. Und das Land wird weiter ohne richtiges Budget, ohne richtige Regierung und Verwaltung vor sich hin schlingern. Netanyahu aber wird ab nächster Woche drei Mal wöchentlich vor Gericht erscheinen müssen. Für ihn eine unglaubliche Schmach. Und wie ein waidwundes Tier wird der angeschlagene Premier mit allen Mitteln um sein Überleben kämpfen. Und Israel dafür weiter in Geiselhaft halten.
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