Israel: Vier Wahlen und ein Gerichtsprozess

Foto: Shutterstock, Alexandros Michailidis
Foto: Shutter­stock, Alexandros Michailidis

Das grund­sätz­liche politische Programm der israe­li­schen Opposi­ti­ons­par­teien: EGO. Ganz großes EGO. Deshalb ist keineswegs ausge­macht, dass Langzeit­premier Netanjahu abtreten muss, obwohl seine Koalition unver­einbare Partner zusam­men­bringen müsste. Doch der Reihe nach.

Die vierten Wahlen in Israel innerhalb von zwei Jahren haben erneut kein eindeu­tiges Ergebnis gebracht. Oder doch: Premier Benjamin Netanyahu hat eigentlich – eigentlich – krachend verloren. Seine Likud-Partei ist immer noch stärkste Partei mit 30 Mandaten, aber sie hat dennoch einige Sitze eingebüßt. Und mit den anderen Parteien, die fest zu Netanyahu stehen – die ortho­doxen Parteien und die Rechts­extre­misten – hat Netanyahu gerade mal 52 Mandate, d.h. die Mehrheit der Israelis will Netanyahu nicht mehr. In der 120 Sitze umfas­senden Knesset braucht es mindestens 61 Mandate, um eine Regierung bilden zu können. Und die anderen? Die haben 57 Mandate erhalten. „Unent­schieden“ sind zwei Parteien: die ultra­rechte Yamina-Partei von Naftali Bennett mit sieben Sitzen  und die „Ra’am“ Partei von Mansour Abbas, die der Muslim­bru­der­schaft nahesteht und mit vier Sitzen in der Knesset vertreten sein wird.

Um dieses Durch­ein­ander zu verstehen, muss man wissen, dass die Opposi­ti­ons­par­teien in diesem Wahlkampf so gut wie kein Programm hatten. 

Es ging ausschließlich darum, den Premier loszu­werden, der wegen mutmaß­licher Korruption in drei Fällen vor Gericht steht und in den letzten Jahren zunehmend autokra­tische Züge annahm, wenngleich das israe­lische System bislang seinem Versuch, die Demokratie restlos zu unter­mi­nieren, Wider­stand leisten konnte. Noch.

Die Opposition besteht aus Parteien, die vom linken bis zum ultra­rechten Spektrum reichen. 

Bei den ultra­rechten Parteien ist vor allem Naftali Bennetts Yamina inter­essant. Wie Gideon Saar mit der „Neuen Hoffnung“ oder Avigdor Lieberman mit „Yisrael Beiteinu“, ist Yamina ideolo­gisch Netan­yahus Likud nahe, bezie­hungs­weise noch weiter rechts zu verorten als der Premier. Doch wie Saar und Lieberman gehört auch Bennett zu jenen Politikern, die einst eng mit Netanyahu zusam­men­ge­ar­beitet hatten, aber von ihm dann jeweils ausge­trickst und hinter­gangen wurden, so dass sie gehen mussten und gehen wollten, um eine Alter­native aufzu­bauen. Bennett, ein ehema­liger Elite-Soldat und Millionär dank seiner High-Tech-Firma, die er vor Jahren für eine dreistellige Millio­nen­summe verkauft hatte, sieht sich als legitimen Nachfolger Netan­yahus an, als zukünf­tiger Führer der gesamten israe­li­schen Rechten. Obwohl er schon mehrfach Minis­ter­posten inne hatte, ist diese Hybris durch nichts gerecht­fertigt, schon gar nicht durch das mickrige Wahler­gebnis für seine Partei. Aber Bennett hat sich selbst zum „Königs­macher“ empor­ge­schwungen, in dem er zwar ebenfalls „Bibi“ enthronen will, aber anders als die anderen nicht ausge­schlossen hat, mit ihm mögli­cher­weise doch zu koalieren. Nur, selbst mit Yamina, hat Netanyahu immer noch keine 61 Mandate, die Opposition hätte sie mit Bennett aber schon.

Bibis neue Hoffnung: Die Muslimbruderschaft.

So kommt ein weiterer, überra­schender Player ins Spiel: Die Muslim­bru­der­schaft, ausge­rechnet. Netanyahu hatte im Wahlkampf erfolg­reich die vier arabi­schen Parteien, die in der „Joint List“ vereint waren, und in der letzten Knesset beacht­liche 15 Mandate hatte, gespalten. Er versprach Mansour Abbas von „Ra’am“ mehr Geld für soziale und sonstige Projekte für die israe­li­schen Araber bereit zu stellen. Abbas argumen­tierte, er werde eventuell mit Netanyahu paktieren, weil man endlich einmal die Reali­täten im Lande anerkennen und mit dem Premier zusammen arbeiten müsse, der nun mal an der Macht ist. Wunsch­denken würde die Probleme der israe­li­schen Araber nicht verschwinden lassen.

Was dazu führt, dass Israel, dass Netanyahu in eine geradezu absurde Situation geraten sind. Bibi könnte abhängig sein sowohl von homophoben, anti-arabi­schen Rassisten und Anti-Demokraten wie der rechts­extremen Liste „Religiöser Zionismus“ und gleich­zeitig von islamis­ti­schen Muslimbrüdern. 

Während die jüdischen Rechts­extremen bereits abgelehnt haben, mit Arabern in einer Koalition zu sitzen, hat Netanyahu schon signa­li­siert, dass er sich das durchaus vorstellen oder aber von ihnen von außen geduldet werden könne. Natürlich, denn sein Ziel ist es, die Gesetze so zu ändern, dass er doch noch Immunität erhält und der Prozess gegen ihn platzt. Und dafür will er auch die Unabhän­gigkeit des Obersten Gerichts unter­mi­nieren. Also heiligt der Zweck quasi die Mittel.

Doch noch wird Netanyahu versuchen, „natür­liche Verbündete“ zurück­zu­ge­winnen, etwa die Politiker von Gideon Saars „New Hope“, die alle den Likud verlassen haben und im Grunde Likudniks geblieben sind, wenngleich sie Netanyahu verab­scheuen. Doch wenn Bennett sich für Netanyahu entscheidet und der Premier wenigstens zwei Abgeordnete zurück­holen kann – dann hätte er seine Mehrheit, er bliebe der ewige Premier.

Poten­tielle Könige und Königsmacher

Und damit zurück zur Opposition. Ihr Programm: EGO. Denn jeder will Premier werden. Yair Lapid, der mit seiner „Yesh Atid“ Partei zweite Kraft hinter dem Likud geworden ist, eigentlich auch Gideon Saar, doch sein schlechtes Abschneiden lässt das nicht zu. Und natürlich – da ist er wieder – Naftali Bennett. Er hat, wie gesagt, sieben Mandate, Lapid aller­dings 17. Doch das spielt in Israel in dieser Situation keine Rolle. Bennett wird versuchen, die Opposition zu erpressen: entweder macht ihr mich zum Premier oder ich koaliere mit Netanyahu. Dabei geht es nur um ein einziges Gesetz, dass die Opposition mit ihrer Mehrheit in der neuen Knesset verab­schieden müsste: dass ein Angeklagter nie wieder für das Amt des Premiers kandi­dieren darf. Damit wäre Netanyahu endgültig erledigt. Doch obwohl alle, wirklich alle beten und hoffen Bibi in die Wüste zu schicken, sind sie – zumindest derzeit – nicht bereit, die entspre­chenden Opfer zu bringen. Selbst die kleine Arbeits­partei, die Glück hatte, doch wieder in die Knesset gewählt zu werden, kommt jetzt plötzlich mit Grund­satz­for­de­rungen, anstatt einfach zu sagen: wir müssen die Demokratie retten, wir müssen uns zusam­mentun, um das politische System von Netanyahu zu befreien und dann können wir Neuwahlen ansetzen. Und endlich gegen­ein­ander mit politi­schen Konzepten antreten, die den Wählern präsen­tiert werden, um zu entscheiden, wie das Land weiter­machen soll.

Eine fünfte Wahl?

Netanyahu hat also in diesem ganzen Chaos durchaus noch Chancen zu gewinnen, wenn er Bennett und Ra’am zu sich holen kann. Und wenn die Opposition weiter so zerstritten bleibt, wie es gerade ausschaut. Was auch noch möglich ist: keine Seite schafft irgend­etwas. Na, dann wird es im Sommer zur fünften Wahl innerhalb von zweieinhalb Jahren kommen. Und das Land wird weiter ohne richtiges Budget, ohne richtige Regierung und Verwaltung vor sich hin schlingern. Netanyahu aber wird ab nächster Woche drei Mal wöchentlich vor Gericht erscheinen müssen. Für ihn eine unglaub­liche Schmach. Und wie ein waidwundes Tier wird der angeschlagene Premier mit allen Mitteln um sein Überleben kämpfen. Und Israel dafür weiter in Geiselhaft halten.

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