Fünf Sterne und das Blaue vom Himmel
Im ersten Teil des Dossiers legt Thomas Schmid die programmatischen Widersprüche der italienische Fünf-Sterne-Bewegung offen und erklärt, wie „M5S“ trotzdem zur stärksten politischen Kraft werden konnte.
Lange Zeit galt der Populismus als eine exklusiv rechte Angelegenheit: Jean-Marie Le Pen und sein „Front National“, Jörg Haider und die FPÖ, Umberto Bossi und die „Lega Nord“. Ein erster Erkenntnisgewinn bestand in der Einsicht, dass es so einfach vielleicht doch nicht ist. Denn es gibt auch einen linken Populismus. Für ihn steht beispielhaft Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei „La France insoumise“ (Unbeugsames Frankreich). Rechter und linker Populismus, so die vorherrschende Analyse, träfen sich zwar in ihrem Ressentiment gegen die liberalen Eliten, im Ruf nach direkter Volksherrschaft, in ihrer Ablehnung der USA und ihrer Sympathie für Putins Russland. Ansonsten aber gingen sie höchst unterschiedliche Wege: Völkisches versus Aufklärung, Autoritarismus versus Partizipation, Ja zum Wertewandel gegenüber einem donnernden Nein zu ihm. Doch auch hier gilt: So einfach ist es nicht.
M5S ist links und rechts zugleich
Das derzeit beste und womöglich wegweisende Beispiel dafür ist der „MoVimento 5 Stelle“ (M5S), die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. In dieser Bewegung mischen sich rechte und linke Positionen bis zur Ununterscheidbarkeit, die Bewegung ist zugleich rechts und links. Und obwohl das dem analytischen Blick widersinnig erscheint, hat diese Uneindeutigkeit entscheidend zum Erfolg von M5S beigetragen. Aus der Parlamentswahl in diesem März ging sie mit fast einem Drittel der Stimmen, mit 32.68 Prozent, als stärkste Partei hervor.
Die Verachtung des herkömmlichen Parteienwesens ist in Italien derart ins Unermessliche gestiegen, dass sehr viele ansonsten durchaus pragmatische Italiener bereit sind, auf eine windige Utopie zu setzen, die wie ein Kinderglaube daherkommt und das Blaue vom Himmel verspricht.
Wie war das möglich? Erstens, weil die Bewegung zu Anfang keine im herkömmlichen Sinne politische, sondern eine populärkulturelle war. Und zweitens, weil sie es wie weltweit keine andere Bewegung verstanden hat, das Netz zu nutzen und das Medium zur Botschaft zu machen.
Grillos Charisma verdeckt Widersprüche
Es war der 1948 in Genua geborene Komiker, Satiriker und Schauspieler Beppe Grillo, der die Bewegung im Alleingang initiiert hat. Bis heute ist es sein Charisma, das fast alle Widersprüche der Bewegung schützend umhüllt. Über viele Jahre hinweg war Grillo ein überaus beliebter Fernsehstar. Nicht in Talkshows trat er auf, er hatte im staatlichen Fernsehen seine eigenen Satiresendungen, in denen er das Recht des Satirikers auf Unausgewogenheit und krasse Polemik in vollen Zügen in Anspruch nahm. Er gab den Hofnarren, der die Regierenden mit Beleidigungen überschüttete. Was er tat, war karnevalesk, er akzeptierte die Regeln bürgerlichen Verhaltens nicht, wie im Karneval stellte er die Welt auf den Kopf. Und er konnte das, weil er aus dem Fundus der populären Kultur schöpfte, weil er nicht die Sprache der Salons und der Institutionen, sondern die direkte, gerne das Obszöne streifende Sprache der Straße benutzte.
Als das dem staatlichen Fernsehsender RAI zu viel wurde, beging er 1993 den Fehler, Grillo vor die Tür zu setzen – wohl in der Hoffnung, ihn damit mundtot zu machen. Doch dazu war Grillo längst zu populär und zu sehr Überzeugungstäter. Nun trat er mit seinen Programmen in Theatern und auf öffentlichen Plätzen auf, tourte mit gewaltigem Erfolg durchs ganze Land – und sah sich nun als Herausforderer: wir gegen die, David gegen Goliath. Im Zentrum stand kein Programm, im Zentrum standen hemmungslose Schmähreden vor allem gegen die Parteien und die etablierten Eliten. Er wurde zum medialen und zu politischen Unternehmer. Immer deutlicher formulierte er: „Weg mit euch, haut ab, geht nach Hause!“ Damit traf er einen Nerv sehr vieler Italiener. Denn die Unfähigkeit der Politik, nach dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems zu Anfang der 90er-Jahre ein neues zu bilden und das Land voranzubringen, lag ja auf der Hand. Und es kam Beppe Grillo zugute, dass er unterschiedslos auf alle eindrosch, man ihm also nicht vorwerfen konnte, er sei parteiisch. So schuf er sich eine große Anhängerschaft, die von links bis rechts reichte und die zu einem beträchtlichen Teil unbeschwert war von politischen Erfahrungen in den herkömmlichen Parteien.
Der Trug, per Netz sei direkte Demokratie ohne jede Vermittlung möglich
Politisch ließ sich Grillo von dem französischen Komiker Coluche inspirieren, mit dem er einen Film gedreht hatte. Coluche hatte 1981 seine – später aus persönlichen Gründen zurückgezogene – Kandidatur für das Amt des französischen Staatspräsidenten mit einem Rundumschlag gegen das gesamte Parteiensystem angekündigt. Er bediente sich der gleichen vulgären Sprache, die später zum Markenzeichen von Grillo werden sollte. Man solle, schrie er in seinem in „Charlie Hebdo“ veröffentlichten Wahlmanifest, die politische Elite wahlweise in die Wüste schicken oder „in den Arsch ficken“. Es waren höchst angesehene linke Intellektuelle wie Pierre Bourdieu, Alain Touraine und Félix Guattari, die Coluches Kampagne unterstützten: rabiater Populismus mit linkem Segen. Umfragen zufolge hätten 16 Prozent der Franzosen für Coluche gestimmt. Doch anders als die Senkrechtstarter Coluche und später Berlusconi ging Grillo betont langsam vor und bewies damit strategisches Geschick. Zwar war er der unumschränkte Herrscher seiner Bewegung – er ließ sie aber, lange vor der Beteiligung an kommunalen, regionalen und Parlamentswahlen – gewissermaßen langsam von unten wachsen. Und dafür bediente er sich des Netzes und seines Blogs, der zeitweise zu den zehn erfolgreichsten Blogs der Welt gehörte. Ursprünglich war Grillo zwar ein furioser Gegner der Digitalisierung gewesen, bei jedem Auftritt zertrümmerte er anfangs einen Computer. Doch dann brachte ihn Gianroberto Casaleggio (1954–2016), der vom früheren Schreibmaschinen- und jetzigen Computerhersteller Olivetti kam, zu der Einsicht, dass ihm das Netz, interaktiv genutzt, ungeahnte Möglichkeiten bot. Casaleggio hatte eine halb schwülstige, halb militante Netzphilosophie entwickelt und sollte der strategische Guru von M5S werden. Grillo machte seinen Blog zur nationalen Plattform, zu einer riesigen Öffentlichkeit, die völlig unabhängig von Radio, TV und Zeitungen war: eine Anti-Institutionen-Institution. Jeder durfte, jeder sollte mitreden. Mehr noch: Das Programm der Bewegung sollte im Wortsinne von unten, aus dem Volk kommen. Grillo, der in Wahrheit sehr wohl steuerte, gab sich als bloßer Vermittler, nannte sich immer wieder scheinbescheiden das „Megafon der Bewegung“. In gewisser Weise nahm er es mit der Basisdemokratie ernster, als es die deutschen Grünen im Laufe der Zeit taten. Er weckte die Hoffnung, per Netz sei direkte Demokratie ohne jede Vermittlung möglich. „Wenn wir irgendwann regieren“, ruft er seinen Anhängern gerne zu, „dann regiert ihr.“
Wenig Realismus, aber sehr viel guter Wille
Das Programm, das M5S im Laufe der Zeit entwickelte, kam in der Tat von unten. Und es fiel daher so buntscheckig aus, wie das Volk nun einmal ist. Die fünf Sterne im Namen der Bewegung symbolisieren: Wasser (immer an erster Stelle), Umwelt, Transport (E‑Mobilität, Radwege und öffentliche Verkehrsmittel), Entwicklung und Internet. Mit Ausnahme des Internets haben diese Sterne durchweg eine eindeutig grüne, ökologische Konnotation. Das ist kein Zufall. Denn in der Bewegung sind ungeheuer viele vor allem junge Menschen aktiv geworden, die die herkömmlichen Parteien ablehnen, die eine bessere, gesündere, gerechtere Welt wollen und sich als Teil einer Graswurzelbewegung verstehen. Wenig Realismus, aber sehr viel guter Wille: eine inbrünstige Naivität. Grillo hat sich diese Ziele ins Programm schreiben lassen und sie auch deswegen akzeptiert, weil er weiß, dass diese zum größten Teil wegen ihrer „unpolitischen“ Anmutung auch von Wählern akzeptiert werden, die von rechts oder sogar von ganz rechts kommen. Auch Grillo gibt sich als Advokat der „italiani normali“, der normalen Italiener. Er macht unpolitische Politik. Er bindet Linke und Rechte zusammen, ohne dass beide das Gefühl haben, mit der jeweils anderen Seite etwas zu tun haben. M5S ist ein Raum der Kohabitation, den eine Trennwand durchzieht.
Traum von kleinen Kreisläufen und wenig Komplexität
Doch wie passen ökologische Ziele, Grundeinkommen, kostenlose medizinische Versorgung einerseits und EU-Feindschaft und das Nein zur Einwanderung andererseits zusammen? Die Anhänger von M5S träumen von einer schönen neuen Welt, in der alles einfach und direkt sein soll: kleine Kreisläufe, möglichst wenig Komplexität. Da stören zu viele PKW und LKW ebenso wie zu viel Brüssel, zu viel Globalisierung, zu viele Einwanderer. Und dann ist es vor allem die Person Beppe Grillos, die die inneren Widersprüche der Bewegung weg-schreit. Obwohl er sich mit einigen autoritären Alleingängen bei vielen Anhängern unbeliebt gemacht hat, wissen diese doch, dass er allein der große Zampano ist, dessen Charisma das Ganze zusammenhält. Ohne dieses Charisma würden die programmatischen Ungereimtheiten sofort sichtbar und bedrohlich werden. Unter dem Mantel seines Charismas aber schrumpfen sie zu Kleinigkeiten.
Europa vor einem Härtetest
Ihr Grundproblem hat die Bewegung bisher erfolgreich verdrängt: Direkte Demokratie funktioniert in einem Territorialstaat nicht. Außerdem zeigen die Erfahrungen, die man inzwischen mit M5S-Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern etwa in Parma, Turin und Rom gemacht hat, vorsichtig ausgedrückt, dass auch die Fünf-Sterne-Bewegung nicht übers Wasser gehen kann. Doch das ficht die Wähler der Bewegung bislang nicht an. Das aber heißt: Die Verachtung des herkömmlichen Parteienwesens ist in Italien derart ins Unermessliche gestiegen, dass sehr viele ansonsten durchaus pragmatische Italiener bereit sind, auf eine windige Utopie zu setzen, die wie ein Kinderglaube daherkommt und das Blaue vom Himmel verspricht. Die Probe auf den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit dieser Formation kommt mit der Regierungsbildung. Jetzt werden die programmatischen Widersprüche wie der Konflikt zwischen Basisdemokratie, informellem Führerprinzip und parlamentarischer Willensbildung nicht mehr mit radikaler Rabulistik zu verkleistern sein. Dass M5S mit der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Lega ins Regierungsboot geht, wird die anti-europäischen, fremdenfeindlichen und national-sozialen Tendenzen der „Fünf Sterne“ verstärken. Was bisher über das Regierungsprogramm verlautet, gibt Grund zur Besorgnis. Es könnte sein, dass die Europäische Union vor einen Härtetest gestellt wird, der alles bisher Dagewesene übertrifft.
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