Mit offenen Augen in den Nieder­gang. Italien vor den Parlamentswahlen.

Foto: ANDREA DELBO/​Shutterstock

Der Wahlkampf ist von Gegner­be­schimp­fung geprägt. Inhalte zählen kaum. Die Partei­en­land­schaft ist frag­men­tiert, rechte Popu­listen liegen in den Umfragen vorn. Eine liberale, proeu­ro­päi­sche Kraft ist nicht in Sicht. Italien droht in einen langsamen Nieder­gang abzurutschen.

Am 4. März finden sie statt, die Parla­ments­wahlen in Italien, und einmal mehr erscheint die poli­ti­sche Land­schaft glei­cher­maßen chaotisch und ideenarm. Liegt es an der bleiernen Poli­tik­mü­dig­keit der Italiener, dass die meisten Parteien sich schon gar nicht mehr zu program­ma­ti­schen Vorschlägen bemüßigt fühlen, die auf Mach­bar­keit überprüft werden könnten? Nicht zuletzt im Hinblick auf die Staats­schulden wäre das eigent­lich angebracht.

So oder so, auch ohne glaub­wür­dige, nach­voll­zieh­bare Zahlen, liegt auf der Hand, dass viele Forde­rungen der verschie­denen poli­ti­schen Gruppen absolut unrea­lis­tisch sind. Worauf konzen­triert sich also die poli­ti­sche Debatte? Nur aufs Bauch­ge­fühl? Es sieht fast so aus: in Italien zielen Wahl­ver­an­stal­tungen in erster Linie darauf ab, Gegen­kan­di­daten zu verun­glimpfen. Wähler vom eigenen Programm zu über­zeugen, ist eher sekundär. Entspre­chend ist es kaum über­ra­schend, dass der popu­lis­ti­sche Appell an die Emotionen der Wutbürger zur Standard-Taktik geworden ist. Allein steht Italien damit aller­dings nicht: der Trend lässt sich ja auch in anderen Demo­kra­tien Europas verfolgen.

Trotz der allge­meinen inhalt­li­chen Leere lohnt sich ein Blick auf die neuen Regeln und die Haupt­ak­teure der kommenden Wahlen.

Das italie­ni­sche Parlament besteht aus zwei Kammern, weshalb der Wähler sein Kreuz auf zwei Wahl­zet­teln machen muss. Ein Kreuz für die 630 Mitglieder der Abge­ord­neten-Kammer, und eins für den Senat, der immer noch aus 315 zu wählenden und fünf lebens­lang ernannten Mitglie­dern besteht, nachdem Matteo Renzis Reform­ver­such 2016 im Refe­rendum scheiterte.

Das hört sich zunächst relativ einfach an, doch das im Oktober 2017 verab­schie­dete neue Wahlrecht ist von beacht­li­cher Komple­xität. Es ist ein gemischtes System: 61% der Abge­ord­neten werden über das Verhält­nis­wahl­recht bestimmt. 37% von ihnen, sowie die Senatoren über Direkt­man­date. Wie auch die übrigen 2%, die den im Ausland lebenden Wahl­be­rech­tigten vorbe­halten sind.

Die Bedeutung der Ausland­sita­liener sollte übrigens keines­wegs unter­schätzt werden. Es handelt sich um knapp 5 Millionen Menschen; ihre Zahl ist bezeich­nen­der­weise fast genauso hoch wie die der im Land lebenden Migranten (5,3 Millionen), eine Tatsache, die offenbar nichts an der augen­blick­li­chen Welle der Frem­den­feind­lich­keit und des verschärften Diskurses gegen Migration ändert und die Situation noch bedrü­ckender macht.

Das poli­ti­sche Spektrum ist extrem frag­men­tiert. Histo­risch fehlte es den Regie­rungen an der Fähigkeit, ausrei­chende Unter­stüt­zung aus dem Parlament zu erlangen. So ist das erklärte Ziel des neuen Wahl­rechts, die von einem reinen Verhält­nis­wahl­recht begüns­tigte exzessive Streuung der Stimmen zwischen Split­ter­par­teien einzu­dämmen. Dennoch sind die verschie­denen Parteien so weit von einer stabilen Mehrheit entfernt, dass sie dazu gezwungen sind, wacklige Wahl­bünd­nisse einzu­gehen. Einer­seits werden diese den Wahltag kaum überleben. Ande­rer­seits machen sie die ganze poli­ti­sche Land­schaft noch unüber­sicht­li­cher, weil Kandi­daten mit sehr gegen­sätz­li­chen Ideen gemeinsam Wahlkampf betreiben.

Im Prinzip haben die Parteien zwei Optionen: sie können sich entweder allein zur Wahl stellen – in diesem Fall liegt die Sperr­klausel bei 3% der abge­ge­benen Stimmen – oder in einer im Vorfeld ange­kün­digten Koalition, was die Sperr­klausel auf 10% anhebt. Eine der Neuheiten des Wahl­sys­tems ist auch die Abschaf­fung des „auto­ma­ti­schen Mehrheits-Bonus“ für die Grup­pie­rung, die auf über 40% der Stimmen kommt.

Den letzten veröf­fent­lichten Umfragen zufolge wird ein Sieg der rechten Koalition erwartet. Diese Koalition bringt folgende Parteien zusammen:

  1. Forza Italia – die, wie Fußball­freunde wissen, nach einem Schlachtruf für die „squadra azzurra“ benannte Partei Berlus­conis, für die Berlus­coni selbst fleißig Wahlkampf betreibt, obwohl er nach einer Verur­tei­lung wegen Steu­er­be­trugs gar nicht selber gewählt werden kann;
  2. Die Lega Nord – die im reichen Norden behei­ma­tete, frem­den­feind­liche und vormals sepa­ra­tis­ti­sche Regio­nal­partei, die jetzt, um auch im eigent­lich verhassten Süden Stimmen zu gewinnen ihre Sezes­sions-Agenda als „Föde­ra­lismus“ verkleidet hat;
  3. Die Fratelli d’Italia – eine post­fa­schis­ti­sche, natio­na­lis­ti­sche und stramm konser­va­tive Partei, deren Namen der ersten Zeile der Natio­nal­hymne entlehnt ist. Es handelt sich um einen Spin-Off von Berlus­conis Partei, aus der Zeit, als der „Cavaliere“ in juris­ti­sche Schwie­rig­keiten geriet; aber jetzt ist man sich wieder einig.

Den beiden letzteren Parteien ist gemein, dass sie dem fran­zö­si­schen Front National sehr nahe stehen und entspre­chend stark euro­skep­tisch einge­stellt sind. Wo genau in dieser in deutschen Medien oft als „Mitte-Rechts“ bezeich­neten Koalition die „Mitte“ sein soll, ist nicht wirklich zu erkennen.

By Niccolò Caranti [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons
Beppe Grillo vom Movimento 5 Stelle auf einer Wahl­kampf­ver­an­stal­tung 2013 in Trento.

An zweiter Stelle der Wähler­gunst liegt augen­blick­lich das Movimento 5 Stelle (Bewegung 5 Sterne), die inzwi­schen sattsam bekannte anti-Estab­lish­ment- und anti-EU-Bewegung. Nachdem sie jetzt das Rathaus von Rom erobert hat, ist sie mitt­ler­weile selbst in Miss­ma­nage­ment und Skandale in der Haupt­stadt verwi­ckelt. Dazu kommt, dass verschie­dene Äuße­rungen promi­nenter Mitglieder einen akuten auto­ri­tären oder gar illi­be­ralen Drift befürchten lassen. So ertönte die Forderung nach Berufs­ver­boten für unliebige Jour­na­listen, die angeblich bereits auf einer „schwarzen Liste“ stehen.

Und dann ist da noch die Linke, derzeit definitiv nicht in Hochform. Neben Renzis Partito Demo­cra­tico gehört dazu die Partei Liberi e uguali („Frei und gleich“), die 2016 nach dem von Renzi verlo­renen Refe­rendum um die Verfas­sungs­re­form von linken Dissi­denten gegründet wurde. Sie werben um Bürger, die von der Renzi-Regierung enttäuscht waren. Aber diese Partei hat nichts Frisches oder Neues an sich: sie besteht aus seit langem etablierten Poli­ti­kern, und indem sie zur weiteren Frag­men­tie­rung der Linken beiträgt, erhöht sie die Chancen der Rechten oder der „5 Sterne“.

Der Kontext schreit geradezu nach dem plötz­li­chen Auftau­chen einer Verkör­pe­rung der liberalen und resolut pro-euro­päi­schen Mitte. Aber ein deus ex machina wie „En marche!“ in Frank­reich ist nicht auszu­ma­chen. Die von Emma Bonino ins Leben gerufene neue Bewegung +Europa (ausge­spro­chen „piu Europa“) wurde erst im November 2017, also viel zu spät lanciert und ist noch zu schwach für diesen Wahlkampf.

So geht Italien nun, relativ ratlos, auf die Wahlen zu. Soll man den Umfragen trauen? Eine große Zahl der Wähler hat sich noch nicht entschieden. Und viele werden gleich ganz zu Hause bleiben. Sie ahnen, dass Italien, bei welchem Ergebnis auch immer, keine Regierung bekommen wird, die von Dauer sein könnte. So wie sie’s gewohnt sind seit 1946, als die neu einge­führte Republik ihre erste von mitt­ler­weile über 60 Regie­rungen wählte.

Dabei weiß jeder, dass diese chro­ni­sche Insta­bi­lität eine Haupt­blo­ckade für den Neustart der italie­ni­schen Wirt­schaft und, viel­leicht noch viel wichtiger, der italie­ni­schen Gesell­schaft ist. Das langsame, unauf­halt­same Abrut­schen in den dauer­haften Nieder­gang, mit offenen Augen, aber ohne einen Macron in Sicht­weite – ist dies das italie­ni­sche Schicksal der kommenden Jahre?

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