Von kalten Kriegern und liberaler Orientierungslosigkeit
Was hat die aktuelle Krise des Liberalismus mit dem Kalten Krieg zu tun? Der US-amerikanische Ideenhistoriker Samuel Moyn erhebt in seinem neusten Buch „Liberalism against Itself“ Anklage gegen die Liberalen des Kalten Krieges: Sie hätten ihre Ideale verraten und damit den Liberalismus langfristig geschwächt.
Das Jahr 2016 markiert einen neuralgischen Punkt in der Krise des Liberalismus. Die Wahl von Donald Trump und der Brexit in den Geburtsländern der liberalen Demokratie deuteten darauf hin, dass der Liberalismus nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis bröckelt. Der Aufstieg des Rechtspopulismus und die Vertrauenskrise in die Leistungsfähigkeit liberaler Institutionen sind seitdem ein wissenschaftlicher und feuilletonistischer Dauerbrenner. Gleichzeitig haben diese Ereignisse einen produktiven Reflexionsprozess über den Liberalismus in Gang gesetzt.
Vor diesem Hintergrund ist auch das neuste Buch des US-amerikanischen Ideenhistorikers Samuel Moyn einzuordnen. „Liberalism against Itself“ gehört zu einer Reihe von Büchern, die sich mit der Geschichte, dem Erbe und der Krise des Liberalismus auseinandersetzen. Die aktuelle Krise des Liberalismus ist für Moyn dabei nicht das Produkt der letzten 40 Jahre, sondern hat ihren Ursprung im Liberalismus des Kalten Krieges. Das Kernstück seines Buches bildet denn auch eine umfassende Anklage gegen dessen Vertreter.
Das verhängnisvolle Vermächtnis der Cold War Liberals
Jedes der insgesamt sechs Kapitel ist einem Denker bzw. einer Denkerin des Kalten Krieges gewidmet: Judith Shklar, Karl Popper, Isaiah Berlin, Gertrude Himmelfarb, Hannah Arendt und Lionel Trilling. Die zentrale These „Cold War liberalism was a catastrophe – for liberalism“ zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Die Liberalen hätten in der Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Ideale verraten, als sie auf die erschreckenden Bedingungen des Kalten Krieges und die Erfahrungen des Totalitarismus reagierten. Sie hätten die politisch-moralischen Erwartungen heruntergeschraubt was ein „dreadful mistake“ gewesen sei. Der Liberalismus schrumpfte zu einem vorsichtigen, letztlich konservativen Credo, das nicht mehr progressiv für seine Ideale einstand, sondern nur noch das Schlimmste verhindern wollte. Die Cold War Liberalen hinterließen uns damit eine „catastrophic legacy“.
Das Freiheitsversprechen als mutloser Minimalkonsens
Während die zentralen Ideen des Aufklärungsliberalismus Emanzipation und Vernunft waren, wurden diese Ideen im Cold War Liberalismus als gefährliche Ideen eingestuft, die letztlich als Vorwand für Gewalt und Unterdrückung genutzt werden konnten. Moyn stützt seine Anklage auf einige bekannte Ideen aus den Schriften der von ihm ausgewählten Protagonisten. Isaiah Berlin, für Moyn „the most iconic Cold War liberal thinker”, hat mit seiner Fokussierung auf die negative Freiheit (Freiheit von äußeren Zwängen), und seiner Abwertung der positiven Freiheit (Freiheit zur Selbstverwirklichung) die liberale Tradition unrechtmäßig halbiert. Karl Popper hat die Hoffnung auf Fortschritt aufgegeben, indem er die Hegelschen Vorstellung, dass sich Freiheit im Laufe der Zeit progressiv entwickelt, zurückgewiesen hat. Judith Shklar schließlich hat mit ihrem „Liberalismus der Furcht“ in erster Linie Grausamkeit verhindern wollen. Ein solcher baseline Liberalismus verliert aber die in der Tradition weitreichenden Ansprüche aus dem Blick, die mit dem liberalen Versprechen von Freiheit und Gleichheit tief verbunden sind. Was übrig bleibt, ist ein „anxious, minimalist approach to the preservation of freedom.“
Die bloße Verteidigung des Status quo bietet keine zukunftsfähige Perspektive
Moyn wendet sich in seinem Buch auch gegen gegenwärtige Liberale wie beispielsweise Timothy Snyder oder Anne Appelbaum, die er als geistige Erben des Cold War Liberalismus versteht. Er sieht eine ähnliche Grundannahme bei den heutigen Vertretern des Liberalismus wie sie bereits im Kalten Krieg existierte. Wenn die elementarsten Grundlagen der freiheitlichen Ordnung bedroht sind, dann erfordert dies eine ständige Wachsamkeit zu ihrer Verteidigung. Dabei degeneriert die Verteidigung jedoch oft in eine bloße Apologie des Status quo und wendet sich ab von der Frage, wieso das liberale Projekt überhaupt ins Wanken geraten konnte. In diesem Punkt legt Moyn den Finger in die Wunde.
Wenn zeitgenössische Liberale sich in permanente Rückzugsgefechte verstricken und nur noch das bereits Erreichte verteidigen wollen, fehlen die Ideen, um das Projekt der liberalen Moderne weiterzuführen. Moyn scheint jedoch so wenig vom sensiblen Liberalismus des Kalten Krieges zu halten, dass ihn das für bestimmte Gefahren blendet. So veröffentlichte er im Jahre 2017 einen Meinungsartikel in der New York Times mit dem Titel „Trump Isn’t a Threat to Our Democracy. Hysteria Is.“ Darin wirft er denjenigen, die das Ende der Demokratie prophezeien, illegitime Panikmache vor. Mit Blick auf die Ereignisse rund um die US-Präsidentschaftswahl 2020 und dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stellt sich die Frage, ob die Warnungen nicht doch berechtigt waren.
Wie kann ein Liberalismus aussehen, der den heutigen Problemen gerecht wird?
Nach der vernichtenden Kritik des Cold War Liberalismus stellt sich die Frage, an welchen Liberalismus Moyn anknüpfen und für die Gegenwart rehabilitieren möchte. Abgesehen von ein paar verstreuten Bemerkungen findet sich dazu nicht viel im Buch. Moyn ist davon überzeugt, dass der ältere, von ihm als perfektionistischer und fortschrittlicher beschriebene Liberalismus des 19. Jahrhunderts ein authentischer Anknüpfungspunkt für gegenwärtige Liberale sein kann. Dieser ältere Liberalismus operierte noch mit einer starken Vorstellung vom guten Leben und hat eine weitreichende Tradition, die über den halbierten Cold War Liberalismus hinausreicht.
Allerdings drängt sich sofort die Folgefrage auf: Ist die Reanimierung des Liberalismus des 19. Jahrhunderts wirklich eine so gute Idee? Bei Moyn wird er in leuchtenden Farben präsentiert, da er „emancipatory and futuristic“ war und „committed most of all to free and equal self-creation, accepting democracy and welfare”. Er schreibt, dass inbesondere „perfectionism and its progressivism“ einen zweiten Blick wert sind. Ob aber ein aufgewärmter liberaler Perfektionismus die Antwort auf die Krise des Liberalismus sein kann, hängt maßgeblich davon ab, was man sich genau darunter vorzustellen hat. Moyn spricht vage davon, dass Perfektionisten ein „controversial public commitment to the highest life” anbieten und kontrastiert dies mit der ethischen Neutralitätsverpflichtung der Cold War Liberalen gegenüber pluralistischen den Ideen des Guten.
Der Pluralismus westlicher Gesellschaften beruht auf einem nicht wertenden Liberalismus
Ob ein solcher Liberalismus das liberale Projekt revitalisieren könnte, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Denn die Hinwendung des Liberalismus zur ethischen Neutralität wurde durch die radikale Pluralisierung der westlichen Gesellschaften in gewisser Weise historisch gerechtfertigt. Unsere Gesellschaften sind die pluralistischsten Gesellschaften, die jemals existiert haben. Die Homogenität vergangener Tage ist verloren und die Frage mit welchen (potenziell auch illiberalen Mitteln) Perfektionisten eine, wenn auch nur basale Homogenität wiederherstellen wollen, lässt Zweifel für die Tragfähigkeit eines solchen Projektes anmelden.
Hinzu kommt, dass ein wie auch immer ausbuchstabierter perfektionistischer Liberalismus festlegen müsste, welchen Lebensentwurf er wertschätzt und welchen nicht. Dieser wertende Liberalismus lädt sich deshalb mit einer enormen Begründungslast auf, da er erklären muss, wieso Menschen nicht leben dürfen wie sie wollen, sondern wie sie sollten. Darüber erfahren wir jedoch nichts. Moyns Unentschlossenheit lässt uns daher an dieser entscheidenden Stelle etwas ratlos zurück.
Moyn beansprucht, auch für die Millennials und Post Millennials zu sprechen
Moyn erhebt den Anspruch, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die „millennial and post-millennial generations“ zu sprechen. Diese Generationen hadern mit dem Liberalismus des Kalten Krieges, da sie sich weniger um äußere Feinde sorgen als vielmehr um „economic inequality, endless war and environmental disaster“. Die bloße Verehrung und Idealisierung der liberalen Demokratie werden diese Generationen kaum für die Rettung des Liberalismus begeistern können. Hier ist ihm zuzustimmen.
Die Liberalen müssen in die Offensive gehen
Moyn diskutiert ausführlich, wie der Liberalismus nicht sein sollte, und wirft somit unmittelbar das Problem auf, wie er stattdessen sein sollte. Darin liegt der große Wert seines Buches. Aber allein aus der Negation kann kein positiver Entwurf entspringen. Dies ist nur möglich, wenn die Liberalen selbst in die Offensive gehen und ihre Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Individualismus engagiert verteidigen.
Wenn man jedoch eigentlich nicht weiß, wofür man kämpft, kann man es auch nicht verteidigen – geschweige denn erneuern. Der US-amerikanische Philosoph John Dewey hat deshalb bereits 1935 die zentrale Frage gestellt, die sich Liberale heute wieder stellen müssen: „I have wanted to find out whether it is possible for a person to continue, honestly and intelligently, to be a liberal, and if the answer be in the affirmative, what kind of liberal faith should be asserted today.” Moyn hat mit seiner ideengeschichtlichen Studie einen gelungenen Anfang gemacht, dieser Frage nachzugehen.
Samuel Moyn (2023): Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times. Yale University Press.
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