Von Srebrenica nach Butscha
Was vor 27 Jahren in Srebrenica geschah, ereignet sich jetzt in Butscha, Mariupol und anderen von Russland eroberten Gebieten der Ukraine. Ein Essay von Marieluise Beck
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht der erste Krieg im Europa der Nachkriegszeit. Die Auflösung der sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien zog vier Kriege nach sich. Dabei kam das kleine Slowenien glimpflich davon. Nach zehn Tagen des Säbelrasselns zog sich das jugoslawische Militär aus dem Land zurück und fügte sich in die Ausrufung eines souveränen Staates.
Als auch Kroatien seinen Austritt aus der sozialistischen Föderation bekannt gab, griff das jugoslawische Militär an. Es war zu einer Armee des serbischen Nationalismus geworden. Der politische Führer der Idee der Errichtung eines großserbischen Imperiums war Slobodan Milosevic. „Wo ein Serbe lebt, ist Serbien“, war die Losung seiner blutigen Feldzüge. Aus Jugoslawien sollte Großserbien werden.
Bis heute hält sich die Mär, der Krieg gegen Kroatien sei entbrannt, weil Deutschland – und maßgeblich der damalige Außenminister Genscher – die Souveränität des Landes anerkannt habe. Die historischen Fakten belegen das Gegenteil: Der mörderische Feldzug des serbischen Militärs endete, nachdem der Westen das Streben nach Selbstständigkeit Kroatiens als legitim akzeptierte.
Auch die multiethnische Teilrepublik Bosnien erklärte ihren Austritt aus dem jugoslawischen Staatsverband. Einem drohenden Krieg stellten sich Hunderttausende Bürger des Landes mit einer Friedensdemonstration in Sarajevo entgegen. Für eine militärische Auseinandersetzung war Bosnien nicht gerüstet. Die serbischen Generäle kontrollierten weite Teile des einst gemeinsamen Militärs mit seinem umfangreichen Waffenarsenal. Bosnien war faktisch unbewaffnet. So konnten serbische Paramilitärs innerhalb von wenigen Tagen weite Teile des Ostens einnehmen. Es folgten Vertreibung, Mord und Terror. Religiöse Zugehörigkeit wurde zu einer nationalen Volksgruppe umdefiniert. Katholiken wurden zu Kroaten, serbisch-orthodoxe zu Serben und Muslime zu Bosniaken erklärt. Und das in einem Land, das nach fast 50 Jahren Sozialismus weitgehend säkular war.
Es begannen Jahre der „ethnischen Säuberungen“, ein Tarnwort für Massenmord und Vertreibung Hunderttausender. Der Westen reagierte zögerlich. Ein militärisches Eingreifen wurde abgelehnt. Es sei zu riskant und berge die Gefahr der Eskalation. Wie sich die Argumente für das Abwarten und Zusehen wiederholen!
Was heute Russlands Krieg gegen die Ukraine kennzeichnet, prägte auch den nationalistischen Feldzug der serbischen Extremisten. Überfallen wurden Länder, die keinen Krieg wollten, sondern nur ihre Unabhängigkeit. Es gab ein extremes Ungleichgewicht der militärischen Kräfteverhältnisse. Der Westen blieb bei seiner Formel: Keine Waffen in Krisengebiete. Man traf dabei die Opfer und stärkte die Position des Aggressors.
Zögerlichkeit und Selbstbetrug wurden über Jahre zur Maxime der internationalen Gemeinschaft. So beschränkte man das militärische Mandat der UN-Blauhelme (Friedenstruppen) auf ihren Selbstschutz. Weiß gekleidete Mediationsbeauftragte der Europäischen Union eilten an die Orte des Überfalls, wenn die Mörder bereits abgezogen waren. Der Generalsekretär der Vereinten erklärte die Städte Žepa und Srebrenica zu Schutzzonen – und fand keine internationalen Truppen, die diese Orte schützen wollten.
Der Ausgang ist bekannt. In Srebrenica übergaben verängstigte niederländische Blauhelme etwa 8000 Männer in die Hände der serbischen Truppen. Es war ihr Todesurteil. Srebrenica wurde zu einer der dunkelsten Stunden der Vereinten Nationen. Gleichsam erschrocken über die Politik des Zurückweichens entstand die „Responsibility to Protect“.
Das Jahr 1999 zeigte, dass ein „lessons learned“ möglich ist. Unter den Augen der OSZE marschierte das serbische Militär im Kosovo zu einem neuen Vernichtungs- und Vertreibungsfeldzug auf. In Račak fand sich das erste Massengrab mit kosovarischen Zivilisten. Die rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder und den Ministern Fischer und Trittin beteiligte sich an einem Einsatz der Nato, der den serbischen Angriff zurückschlug.
Anders als in Bosnien mussten nicht erst 200 000 Menschen sterben, bis der Westen den Mut zum Eingreifen hatte.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine geht ins neunte Jahr. Die Annexion der Krim wurde von der internationalen Gemeinschaft nur mit milden Sanktionen bedacht. Das Verständnis für die „Heimholung“ der Krim durch das großmächtige Russland war groß. Der Besetzung des Donbas folgten Verhandlungen im Minsk-Format, an dessen Erfolg der Aggressor erkennbar kein Interesse hatte. Die Konsequenzen jedoch blieben aus.
Die von Russland angegriffene Ukraine wurde militärisch nicht hinreichend gestärkt, um weitere Aktionen des Aggressors zu unkalkulierbarem Risiko zu machen. Im Gegenteil: Zwar erklärte Präsident Putin schon im Sommer 2014, dass sein Ziel die Rückkehr zu den Einflusszonen des Kalten Krieges sei, zwar ließ er ab Sommer 2021 fast 150 000 Soldaten an den Grenzen der Ukraine aufziehen – doch noch im Januar 2022 erklärte die Bundesregierung, dass es keine „Waffen ins Krisengebiet“ liefern werde. Das sei nicht Deutschlands Rolle.
Der Fortgang ist bekannt. Namhafte Völkerrechtler gehen davon aus, dass der Angriffskrieg Russlands alle Züge eines Völkermordes trägt. Was in Srebrenica geschah, ereignet sich jetzt in Butscha, Mariupol und anderen von Russland eroberten Gebieten. Feststellen wird das ein internationales Gericht – falls überhaupt – posthum. Zu spät, wird die Geschichtsschreibung vermutlich sagen.
Derweil wütet das russische Militär weiter. Junge, schlecht bewaffnete Ukrainer sterben im verzweifelten Versuch, ihre Bürger vor russischer Willkür zu schützen. Eine deutsche Verteidigungsministerin stellt fest, dass Deutschland die Bestände der Bundeswehr nicht zugunsten der Ukraine „ausplündern“ lasse. Die Frage soll erlaubt sein, mit welchem Verteidigungsfall die Verteidigungsministerin auf kurze Sicht rechnet, für den wir alle verfügbaren Waffen brauchen. Ein Blitzkrieg der russischen Armee durch Polen und das Baltikum, so dass wir an der Oder verteidigungsbereit sein müssen? Wer uns so dramatisch nahe an einem Kriege sieht, ist Auskunft schuldig. Oder geht es darum, den russischen Angreifer nicht zu erzürnen?
Ihr Amtskollege Peter Struck – so steht zu vermuten – hätte es anders gesehen. „Unsere Freiheit wird in der Ukraine verteidigt“, hätte er gesagt. Und Deutschland entschieden und solidarisch an die Seite der Ukraine gestellt.
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