Warum Israel keine Verfassung hat

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Die fehlende Verfassung Israels war lange ein Garant für die Existenz des Staates – nun könnte dies zu einer Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit des Landes werden.

Was sich in derzeit in Israel in buchstäblich atembe­rau­benden Tempo abspielt, ist mögli­cher­weise das Ende der Gewal­ten­teilung und damit das Ende der Demokratie im jüdischen Staate, wie man sie bislang kannte. Israel war und ist noch eine Demokratie, selbst wenn das politische System viele Schwächen hat und Gegner des Staates ihm vorwerfen, beispiels­weise seine arabi­schen Bürger zu diskriminieren.

Israels Problem, das sich nun im Zuge der von der Regierung Netanyahu angestrebten „Justiz­reform“ besonders deutlich darstellt, ist das Fehlen einer Verfassung. Das mag überra­schen, hat histo­risch aber zunächst relativ einfache Gründe, selbst wenn in der Unabhän­gig­keits­er­klärung des Staates Israel, die am 14. Mai 1948 verkündet wurde, eine Verfassung ausdrücklich vorge­sehen war. Es gab sogar einen Termin, bis wann sie spätestens verab­schiedet werden sollte: den 1. Oktober 1948. Das Datum konnte nicht einge­halten werden wegen des sogenannten „Unabhän­gig­keits­krieges“, der nach der Prokla­mation des Staates folgte.

„Consti­tution by Evolution“

Auch nach dem Krieg gelang es aus verschie­denen Gründen nicht, eine Verfassung zu verab­schieden. Im April 1949 begann im extra einge­setzten Ausschuss für Verfas­sungs- und Rechts­an­ge­le­gen­heiten eine Ausein­an­der­setzung, ob überhaupt eine Verfassung einge­führt werden sollte. Im Februar 1950 zog die Knesset, das israe­lische Parlament, die Debatte darüber wieder an sich. Dabei zeigte sich, dass Premier David Ben Gurion zu den Gegnern einer Verfassung gehörte. Im Juni 1950 wurde die sogenannte „Harari-Resolution“ verab­schiedet, die auf den Abgeord­neten Yizhar Harari zurückging. Sie beinhaltete die Absicht, einen Verfas­sungs­entwurf auszu­ar­beiten. De facto hieß das, dass man eine Verfassung auf die lange Bank schob und die Idee einer „consti­tution by evolution“ bevor­zugte, die letztlich zu den sogenannten, auch heute noch existie­renden „Basic Laws“ führten. Diese haben inzwi­schen einen verfas­sungs­ähn­lichen Status erlangt, können aber im Grunde nur als Skelett einer echten Verfassung angesehen werden.

Doch neben den äußer­lichen Schwie­rig­keiten gibt es drei tiefer liegende Gründe, warum Israel sich nie eine Verfassung gegeben hat:

1.) Ohne eine Verfassung bleibt die Knesset allmächtig, da sie eine Art verfas­sungs­ge­bende Versammlung im Dauer­zu­stand ist. Die Politik würde sich mit einer Verfassung selbst Grenzen aufer­legen, davor schreckte man damals zurück. Vor allem, weil man befürchtete angesichts der militä­ri­schen Bedrohung von außen nicht flexibel und schnell politisch handeln zu können und somit mögli­cher­weise keine Basis mehr zu haben, um effektiv auf existen­tielle Gefahren reagieren zu können.

2.) Eine Verfassung, wie man sie in den meisten europäi­schen Staaten kennt, basiert auf der Tatsache, dass es ein Staatsvolk, ein Staats­gebiet und eine Staats­gewalt gibt. Das aber war und ist bis heute in Israel nicht gegeben. Israel mit seinem „Rückkehr­recht“ ist quasi der „Staat des jüdischen Volkes“. Hier sind – wie schon in der Thora – Religions- und Volks­zu­ge­hö­rigkeit mitein­ander verknüpft, was natürlich schon 1948 grund­sätz­liche Fragen zur Integration der arabi­schen Bevöl­kerung aufge­worfen hatte. Hinzu kommt, dass Israels Grenzen bis heute nicht definiert sind, dass es also kein genau bezeich­netes Staats­gebiet gibt.

3.) Daraus ergibt sich aber die entschei­dende Frage, die Israel bis heute nicht eindeutig beant­wortet hat. Sie betrifft das Verhältnis zwischen Staat und Religion. Es gibt keinen wirklichen Konsens darüber. Was will, was soll Israel eigentlich sein? Ein eher theokra­ti­scher oder ein säkularer Staat?

Für so gut wie alle ortho­doxen Parteien, egal welcher Strömung sie angehören, ist die Thora die eigent­liche „jüdische Verfassung“. Egal, ob die Ortho­doxen anti-zionis­tisch oder natio­nal­re­ligiös motiviert sind – ihre Vorstellung eines Staates ist die Rückführung in den bibli­schen oder post-bibli­schen Zustand des einstigen jüdischen Reiches, in dem die Halacha, das Religi­ons­gesetz, galt. So darf es niemanden verwundern, wenn der radikale Siedler­be­für­worter Bezalel Smotrich auch in seiner Funktion als Finanz­mi­nister heute erklärt, dass er einen halachi­schen Staat will. Dies ist Teil der Revolution, die die aktuelle Regierung mit der Justiz­reform anstrebt.

Langfristige Umgestaltung des eher säkulär ausge­rich­teten Staates

Es geht nicht nur um die absolute Macht, nicht nur darum, Premier Netanyahu, gegen den ein Prozess wegen mutmaß­licher Korruption in drei Fällen läuft, aus den Klauen der Justiz zu befreien. Es geht den meisten Koali­tio­nären auch um die langfristige Umgestaltung des im Prinzip eher säkular ausge­rich­teten Staates, der sich aller­dings ein Oberrab­binat leistet, das das alleinige Sagen in allen Zivil­an­ge­le­gen­heiten wie Geburt, Hochzeit, Scheidung oder Tod hat und dies nach dem Religi­ons­gesetz handhabt.

„Es gibt keine Möglichkeit, alle Bevöl­ke­rungs­gruppen Israels hinter einer Verfassung zu versammeln“

Das Fehlen einer Verfassung war bei der Staats­gründung und ist bis heute ironi­scher­weise der Garant dafür, dass der jüdische Staat überhaupt existieren konnte. Identität und Selbst­ver­ständnis Israels blieben in der Schwebe, was es allen Juden möglich machte, ins Land zu kommen und hier zum Teil in Paral­lel­welten zu existieren und zu leben. Eine Verfassung aber setzt einen gewissen Grund­konsens voraus, den es in der Gesell­schaft gibt. Das ist besonders deutlich an der italie­ni­schen Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, die von führenden Persön­lich­keiten aller gesell­schaft­lichen Gruppen und Kreise nach 1945 geschrieben wurde und somit die Einheit Italiens beschwören konnte. Als Premier Matteo Renzi 2016 die italie­nische Verfassung ändern wollte, weil sie das italie­nische System blockierte und dringend notwendige Reformen für das Land nicht durch­ge­führt werden konnten, wurde seine Initiative in einem Volks­re­fe­rendum abgelehnt. Selbst wenn die Gegner Matteos anerkannten, dass das Polit­system an seine Grenzen gelangt war, war die Idee, dass eine Verfas­sungs­än­derung nicht mehr alle gesell­schaft­lichen Gruppie­rungen hinter sich versammeln könnte, eine noch größere Bedrohung als die Stagnation, die das Land seit Jahren lähmte. In Israel ist das genaue Gegenteil der Fall. Es gab und gibt bis heute keine Möglichkeit, alle Bevöl­ke­rungs­gruppen hinter einer Verfassung – egal wie sie aussähe – zu versammeln.

„Die geplante Justiz­reform wird Israels Wesen und Charakter verändern“

Dass dies nun mögli­cher­weise für die Demokratie des Staates zum Fallstrick wird, ist die Tragik, die Israels Zukunft bestimmen könnte. Denn wenn die aktuelle Regierung ihre Justiz­reform durch­bringt – und niemand zweifelt im Augen­blick daran – so wird dies massive innen- und außen­po­li­tische Auswir­kungen mit sich bringen, die auch wirtschaft­liche Konse­quenzen haben dürften, da dies, wie schon jetzt zu beobachten ist, eine Abwan­derung von Geld und Know-How bedeutet, die für den Wohlstand des Landes existen­tiell sind. Mit anderen Worten: Dieje­nigen, die es sich leisten können, werden gehen. Soviel ist jetzt schon klar: Die geplante Justiz­reform wird Israels Wesen und Charakter verändern. Grund­legend. Und sie wird die Spaltung der Gesell­schaft verschärfen und das Land damit nach innen und nach außen schwächen.

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