Gefähr­liche Ratgeber

Im Nachgang unserer Konferenz „Russland und der Westen: Brauchen wir eine neue Ostpo­litik?“ veröf­fent­lichen wir hier erneut eine Buchkritik, die erstmals im Oktober 2018 bei uns erschien. Das hier verhan­delte Buch („Warum wir Frieden und Freund­schaft mit Russland brauchen“) versteht sich explizit als Aufruf zu einem Kurswechsel in der deutschen Russland-Politik. Es versammelt Autorinnen und Autoren von links bis rechts. Sie berufen sich auf die Ostpo­litik Willy Brandts, vergessen dabei aber absichtsvoll einige zentrale Eckpfeiler: Es ging nie allein um  die Sowjet­union, sondern um die Aussöhnung mit allen unseren östlichen Nachbarn. Und es ging nicht um eine deutsch-russische Sonder­be­ziehung, sondern um eine gesamt­eu­ro­päische Friedens­ordnung, die auf norma­tiven Prinzipien gründen sollte: Gewalt­ver­zicht, gleiche Souve­rä­nität aller europäi­schen Staaten, Achtung der Menschen­rechte. Wer heute Freund­schaft mit Russland fordert und die Inter­essen Polens, der balti­schen Staaten oder der Ukraine ignoriert, kann sich nicht auf Brandt berufen. Woher kommt bloß die notorische Gleich­setzung von „Russland“ und einem autori­tären Regime, das sich als Gegen­spieler der liberalen Demokratien versteht? Nicht zuletzt war die Entspan­nungs­po­litik fest in das westliche Bündnis einge­bettet. Militä­rische Abschre­ckung und Abrüs­tungs­po­litik waren zwei Seiten einer Medaille. Wir haben Wolfgang Eichwede, den ehema­ligen Gründungs­di­rektor des Bremer Osteuropa-Instituts und ein wahrer Freund Russlands, um seine Bewertung des Sammel­bands gebeten.

Das von der Ehefrau Egon Bahrs, Adelheid Bahr, heraus­ge­gebene Buch versammelt 26 Autoren in ihrem Plädoyer für „Frieden und Freund­schaft“ mit Russland, darunter Politiker wie Sigmar Gabriel, Wolfgang Kubicki und Oscar Lafon­taine, Publi­zisten wie Wolfgang Bittner, Daniela Dahn und Gabriele Krone-Schmalz, Wissen­schaftler wie Peter Brandt und Joachim Spanger, aber auch den Dirigenten Justus Frantz, um nur einige Namen zu nennen. Angesichts solcher Prominenz enttäuscht der Band in seiner Pauscha­lität der Urteile und Vorur­teile auf ganzer Linie, ausge­nommen die diffe­ren­zier­teren Töne bei Gabriel und Kubicki. Wer wünscht sich in Deutschland nicht Frieden mit dem großen Nachbarn? Wer würde ihn nicht gerne seinen Freund nennen, auch und gerade unter denen, die die russische Politik von heute kriti­sieren?  Während sich eine Vielzahl der Beiträge empört zeigt über das negative Russlandbild, das angeblich von unserer Presse entworfen wird, fehlt es nicht an Verschwö­rungs­theorien über den bösen Westen, insbe­sondere die USA. An Einsei­tigkeit ist der Band nur schwer zu überbieten. In ihrer Medien­schelte, dort sei man „einer geradezu infan­tilen Hysterie verfallen“ (Bröckers, S.54) oder „fröne … einem hochtra­benden und unreflek­tierten Russland-Bashing“ (Kiessler, S. 101) bedienen sich nicht wenige Texte populis­ti­scher Sprach­fi­guren. Wenn die Anmahnung demokra­ti­scher Rechte als „morali­scher Imperia­lismus“ (Kiessler, S. 104) abqua­li­fi­ziert wird, kommt das einer glatten Verhöhnung von Willy Brandt gleich, auf den sich die Autoren doch so gerne berufen.

Einige Aspekte des „Aufrufs“, wie sich die Publi­kation nennt, seien näher diskutiert.

Zu Anfang eine einfache, aber offenbar nötige Klarstellung: Willy Brandts Politik hieß nicht neue Russland-Politik, sondern neue Ostpo­litik. Und zum Osten Europas gehört nicht nur die zerbro­chene Weltmacht, sondern gehören alle Nationen östlich von Deutschland – die Polen, die Tschechen und Slowaken, die balti­schen Länder, die Ukraine und viele mehr. Es war in Warschau, dass Brandt auf die Knie ging. Von Warschau aus sprach er an die Deutschen. Kein Wort davon in dem vorlie­genden Band. Im Sinne alter deutscher Großmacht­po­litik kommen die „kleineren“ Völker einfach nicht vor. Und wenn doch, dann als Stören­fried. Das ist ungeheu­erlich. Nur Russlands Macht und Größe zählen. Haben die Autoren je überlegt, wer da ihre Ahnherren sind?

Histo­rische Schuld besteht nicht nur gegenüber Russland

Die Anerkennung der europäi­schen Nachkriegs­grenzen in den Ostver­trägen hatte Polen und die Tsche­cho­slo­wakei als ihr Gegenüber, was das nördliche Ostpreußen betrifft, auch die UdSSR. Innerhalb der Bundes­re­publik kam sie mit der Anerkennung der histo­ri­schen, deutschen Schuld einer Revolu­tio­nierung unserer politi­schen Kultur gleich. Ohne jede Frage besteht die Schuld auch gegenüber Russland. Aber eben nicht nur. In Polen hat das Deutsche Reich nahezu ein Viertel der Einwohner umgebracht. Die Ukraine hat den höchsten Blutzoll im 2.Weltkrieg bezahlt. Vor diesem Hinter­grund verraten die abfäl­ligen Urteile über die Ukraine und das Vergessen der Völker zwischen Deutschland und Russland viel über die Geschichts­lo­sigkeit der Autoren. Sie wird geradezu zum Hohn, wenn die russische Annexion der Krim 2014 als „Wieder­gut­ma­chung histo­ri­schen Unrechts“ bezeichnet wird (Frantz, S. 89). Die Überschreibung der Halbinsel an die Ukraine durch Nikita Chruscht­schow 1954 war ausdrücklich (auch) ein Dank Russlands für die Opfer, die die Nachbar­re­publik im Krieg erbracht hatte. 1991 stimmte im Übrigen die Mehrheit der Krimbe­völ­kerung für die Unabhän­gigkeit der Ukraine. In dem Sammelband wimmelt es an derar­tigen Verdre­hungen der Geschichte.

Noch einmal zurück zu Willy Brandts Entspan­nungs­po­litik. Wie sie einen „Wandel“ in unserem (deutschen) Bewusstsein herbei­führte, wollte sie auch einen „Wandel“ im östlichen Europa befördern. Der Abbau politi­scher und militä­ri­scher Konfron­tation zielte darauf, auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ die Bewegungs­räume und inneren Freiheiten zu erweitern. Notwen­di­ger­weise agierte die Ostpo­litik auf der Ebene von Staaten, doch hatte sie auch die Gesell­schaften im Blick. Darin lag ihre ungewöhn­liche Ausstrahlung, die freilich, wie Sigmar Gabriel klug notiert, in den achtziger Jahren verlo­renging (Gabriel, S. 95). Fraglos half der KSZE- und Helsinki-Prozess, eine neue Vertrau­ens­grundlage zwischen Ost und West zu schaffen. Die Entspannung jedoch zum Ausgangs­punkt der Menschen- und Bürger­rechts­be­we­gungen zu machen, ist zu viel der Ehre (Spanger, S. 168). Es wäre eine groteske Geschichts­klit­terung, die genuinen Leistungen der Gesell­schaften Osteu­ropas in den siebziger und achtziger Jahren an den Hut der westlichen Diplo­matie zu stecken. Die Archi­tekten des neuen Europas waren zunächst die freiheits­lie­benden, wider­stän­digen Akteure Mittel- und Osteu­ropas. Sie fehlen als Referenz­größe in dem Band ebenso wie die fried­lichen Revolu­tionen von 1989 bis 1991. Wladimir Putin scheint da vielen attraktiver.

Mit der Macht- und Staats­fi­xierung der Autoren kombi­niert sich ihr Antiwest­lertum. Es war – so der Grund­tenor vieler Beiträge – der Westen, der Russland in den neunziger Jahren ruiniert und seine Schwäche ausge­nutzt hat. Die wilde Priva­ti­sierung mit ihren katastro­phalen sozialen Folgen erscheint als ameri­ka­nische Strategie. Wohl gab es US-Berater, doch wurde die Politik von russi­schen Ökonomen definiert und nicht zuletzt in den Bahnen der alten Nomen­klatura exeku­tiert. Ich kannte damals Anatol Tschubajs, den verant­wort­lichen Minister, und stritt mit ihm bitterlich über seinen, aus meiner Sicht – falschen Weg. Auch deutsche Unter­nehmer und ranghohe Politiker warnten. Nein, das waren fatale russische Entschei­dungen, keine Hinterlist des Westens. Putins so hochge­lobte Ordnung hat im Übrigen weder die extrem ungleiche Einkom­mens­ver­teilung noch das Oligra­chennetz noch die Korruption aufge­hoben, wenngleich zugunsten regime­treuer Funkti­ons­eliten verschoben.

Doch warf der Westen in der Lesart des Buches nicht nur die russische Wirtschaft zu Boden. Mit der Erwei­terung der NATO kreiste er Russland auch ein und machte das östliche Europa zu einem „Aufmarsch“-Gebiet (Wimmer, S. 185 und 187) gegen die frühere Weltmacht. Wiederum sind die histo­ri­schen Sachver­halte bei weitem nicht so simpel. Gleich nach dem Zusam­men­bruch des sowje­ti­schen Imperiums gab es große Hoffnungen auf ein gesamt­eu­ro­päi­sches Sicher­heits­system. Ich selbst träumte auch von ihm. Doch setzten beideSeiten in der Realität andere Priori­täten. Die Balkan­kriege überdeckten die Visionen der Charta von Paris. Die Morde von Srebreniza erschüt­terten die Welt. Das von Russland gestützte Serbien schürte die Konflikte. Zuvor schon hatte der erste Tsche­tsche­ni­en­krieg Jelzins viele Illusionen über den Bau der „einen“ Welt ohne Gewalt begraben. Wie für uns im Westen das Bombar­dement Grosnyjs durch die russische Luftwaffe zu einem Faktor der Entfremdung von Russland wurde, so wirkte in umgekehrter Richtung das Bombar­dement Belgrads durch die NATO in der russi­schen Bevöl­kerung. Europa verlor Zug um Zug seine gemeinsame Sprache. Gleich­zeitig drängten die Völker Mittel­eu­ropas in die NATO – nach ihren geschicht­lichen Erfah­rungen wollten sie insbe­sondere unter den Schutz der USA. Ich war damals wiederholt in Warschau und fand keine überzeu­genden Argumente, den Polen, die 1939 von Deutschland überfallen worden waren und nach 1945 gegen ihren Willen unter sowje­ti­scher Hegemonie leben mussten, zu sagen: mit Rücksicht auf Russland könnten sie nicht den gleichen Sicher­heits­status erwerben, den wir Deutsche besaßen. Das, was viele der Autoren in dem Sammelband nahelegen, eine Verstän­digung mit Russland über die Köpfe der mittel­eu­ro­päi­schen Nationen hinweg, bewegt sich in Großmacht­ka­te­gorien des 19. Jahrhun­derts, auch wenn sich die Autoren dessen nicht bewusst sein mögen.

Kultur und Politik: Der Band vermischt alles

Glaubt man dem Tenor des Sammel­bandes, streckte Putin immer wieder seine Hand aus (Müller, S. 128), während der Westen es darauf angelegt habe, nach der Osterwei­terung der NATO nun die Ukraine zu desta­bi­li­sieren (Lafon­taine, S.123) oder ihre „Westwendung“ zu erzwingen (Roggemann, S. 141). Im Unter­schied dazu charak­te­ri­siert Sigmar Gabriel das heutige Russland als „eine revisio­nis­tische Macht“ (S. 92) und Putin als „keinen Status-quo-Politiker“ (S.93) – er verändere Grenzen, breche Verträge und betreibe Großmacht­po­litik. Doch bleibt Gabriel eine einsame Stimme in der Ausgabe. Der Maidan in Kiew wird als ameri­ka­nische Insze­nierung oder als Brigade bewaff­neter Kommandos hinge­stellt. Das Zerrbild unter­scheidet sich nicht von der Propa­ganda des Kreml. Was jedoch für mich am verblüf­fendsten ist: Autoren, die sich selbst im gesell­schafts­kri­ti­schen Milieu verorten, zeigen ein totales Unver­ständnis für Sozial‑, Protest- und Freiheits­be­we­gungen. Wenn sie nicht in ihr ideolo­gi­sches Cluster passen, können sie nur fernge­steuert sein. Wer war denn von denen, die so herab­lassend urteilen, auf dem Maidan? Wer hat denn mit Akteuren, die die überwäl­ti­gende Mehrheit der Maidan-Bewegung reprä­sen­tierten, gesprochen? Alles ist klar: Revolu­tionen, die dem eigenen Weltbild zuwider­laufen, sind Machen­schaften von Hinter­männern, am besten des CIA. Selbst wenn es Unter­stüt­zungs­gelder von außen gegeben haben sollte, wäre das so schlimm für eine Demokra­tie­be­wegung? Hat nicht die SPD über Jahrzehnte die Gegner Francos mitfi­nan­ziert und damit einen großen Dienst für Spanien geleistet? Willy Brandt jeden­falls, dessen Biographie auch eine Wider­stands­bio­graphie ist, bekannte sich dazu.

Bleibt der Ruf nach Pragmatik in der Außenpolitik.

Spangers Plädoyer, das Russland Putins als das zu nehmen, was es ist und „vorläufig so bleiben wird“ (S.168), erweckt den Anschein, uns auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Sein „pluraler Frieden“ übersieht freilich, dass Plura­lität im Innern friedens­för­dernd sein kann und umgekehrt, die Unter­drü­ckung von Plura­lität kriegs­treibend. In der Konse­quenz läuft er Gefahr, hegemo­niale Struk­turen zu zemen­tieren, Russlands Macht­an­spruch gegenüber seinen Nachbarn anzuer­kennen und die Ordnung gutzu­heißen, die Russlands Bomben in Syrien schaffen. Um jedes Missver­ständnis auszu­schließen: Frieden ist ein katego­ri­scher Imperativ der deutschen Politik. Wie aber sprechen wir mit jemandem, der den Frieden in Europa zerstört und Verträge bricht, die wir gemeinsam und feierlich mit ihm unter­schrieben haben? Wir reden und verhandeln mit ihm dennoch, auch wenn wir wissen, dass er sich als unser Gegner erweist. Aller­dings ist es zwecklos, ihn umwerben zu wollen, wie viele der Texte in erschre­ckender Naivität meinen. Vielmehr müssen wir ihm unsere, aber auch seine Grenzen zeigen, Grenzen, die sich aus dem Völker­recht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben. Ihre Anerkennung ist die Grundlage, um aus Gegner­schaft eine Partner­schaft zu machen.

Um es zugespitzt zu formu­lieren: ich will kein Freund eines Präsi­denten sein, der Aleppo in Schutt und Asche legt und Krieg gegen die Ukraine führt, obgleich ich die Kultur seines Volkes liebe – und weiß, dass sich viele russische Künstler und Intel­lek­tuelle seiner schämen. Der Bahr‘sche Band vermischt alles: Weil Russland eine große Kultur hat, müssen wir uns mit seinen autori­tären Führern verstän­digen. Oder anders gefragt: Mussten die demokra­ti­schen Kräfte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhun­derts mit den Macht­habern des Deutschen Reiches Freund­schaft schließen, weil sie Thomas Mann oder Carl von Ossietzky schätzten? Histo­rische Gleich­set­zungen sind damit nicht impliziert.

Zurück zur Realpo­litik: Woher wissen wir, dass Wladimir Putin die europäi­schen Demokratien, die die die Einigung des Konti­nents suchen, überhaupt als Partner haben will? Wir sind nützlich als Abnehmer von Gas und Lieferant von Techno­logie, aber kein gleich­wer­tiger Partner in einer Welt, in der sich Putin an den USA und China misst. Sein weltpo­li­ti­sches Gewicht erhöht er durch Konfron­tation. Peter Brandts Idee einer Wirtschafts­union vom Atlantik bis zum Pazifik folgt, wenn überhaupt, imagi­nären Kapital­in­ter­essen (S. 50). Im Sinne seines Vaters wäre es, für einen Freiheits- und Rechtsraumzu kämpfen. Dieser aber steht, wenn wir an „pluralen Frieden“ denken, nicht zur Diskussion. Im Übrigen ist es albern zu glauben, wir Deutsche könnten Putin gegen Trump ausspielen. Das sind völlig ungedeckte Macht­phan­tasien. Sie würden Europa zerreißen.

Damit komme ich zur größten Schwäche des Bandes: Er ist gänzlich ohne Perspektive, einerlei, ob ich sie realpo­li­tisch oder emanzi­pa­to­risch definiere. Kein einziger Beitrag disku­tiert auch nur im Ansatz, was wir tun sollen und tun können, um die Idee eines vereinten Europas, eines „europäi­schen Hauses“ in Frieden und Freiheit voran­zu­bringen. Gut, wir opfern die Ukraine und das Völker­recht, wir kreisen allein um Russland, Polen und die balti­schen Staaten existieren für uns nicht. Wir wissen, in Russland steht nicht alles zum Besten mit der Demokratie, aber das Land ist auch nicht für die Demokratie geschaffen (Egon Bahr). Doch was dann? Wir pflegen unsere „Freund­schaft“ mit Putin – und wissen gleich­zeitig, dass er seine Allianzen in Europa mit den Europa­gegnern und Populisten ausbaut, um unsere Schwäche fortzu­schreiben. Natürlich müssen wir mit ihm sprechen, aber wir müssen wissen, dass er im funda­men­talen Gegensatz zu unseren Werten undInter­essen der europäi­schen Demokratie und Einigung agiert. Putin steht rechts. Doch Russland ist tausendmal reicher als er – darin liegt eine große Hoffnung.

Textende

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