Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Die unvoll­endete Zeitenwende

Gemessen an der Menta­lität der Merkel-Jahre ist die Sicher­heits­po­litik unter Scholz bemer­kens­wert. Dennoch besteht kein Anlass zu Selbst­zu­frie­den­heit – denn Refe­renz­größe für die Politik sollte nicht frühere Schlaf­wan­delei, sondern die Realität des Krieges vor unserer Haustüre sein. Ralf Fücks im Beitrag für die WirtschaftsWoche.

Als Olaf Scholz am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag sprach, hielten viele Zuhörer den Atem an. Was er sagte und wie er sprach, markierte eine Zäsur in der deutschen Politik. Endlich Schluss mit der sicher­heits­po­li­ti­schen Traum­tän­zerei, mit dem Wunsch­denken über Putin-Russland und der kalten Schulter gegenüber der Ukraine. Endlich waren wir ange­kommen in der Realität des neuen System­kon­flikts mit gewalt­be­reiten auto­ri­tären Mächten. Und endlich Schluss mit der Flucht aus unserer sicher­heits­po­li­ti­schen Verantwortung.

Wirklich? Zwei Jahre danach ist die Bilanz gemischt. Ja, die Bundes­re­gie­rung und mit ihr ein Großteil der deutschen Gesell­schaft sind seither einen weiten Weg gegangen. Der Kanzler wird nicht müde aufzu­zählen, was und wie viel wir getan haben und tun: Zweit­größter Waffen­lie­fe­rant für die Ukraine, finan­zi­elle und wirt­schaft­liche Nothilfe an das gebeu­telte Land, mehr als eine Million ukrai­ni­sche Flücht­linge aufge­nommen, die Türen für die EU-Mitglied­schaft der Ukraine geöffnet, ein Sonder­ver­mögen von 100 Milli­arden zur Ertüch­ti­gung der Bundes­wehr aufgelegt, das 2 Prozent-Ziel der NATO beim Anteil der Vertei­di­gungs­aus­gaben am BIP erreicht.

Keine Frage, gemessen an Politik und Menta­lität der Merkel-Jahre ist das mehr, als viele Kritiker im In- und Ausland der deutschen Politik zugetraut haben. Für Teile der SPD und auch der Bevöl­ke­rung ist es schon zu viel. Sie fragen bang, wo das enden soll und wohin es führen wird, ganz zu schweigen von der laut­starken Minder­heit der NATO-Gegner und Putin-Apolo­geten links wie rechts, die immerzu die Schuld bei Westen suchen und sich im Gefolge Russlands wohler fühlen als im Bündnis mit den USA. Mit den Wagen­knechten haben wir schon eine zweite Partei neben der AfD, die aus Kriegs­furcht und anti­west­li­chen Ressen­ti­ments poli­ti­schen Honig saugt.

Dennoch besteht kein Anlass zu Selbst­zu­frie­den­heit. Refe­renz­größe für die deutsche Politik sollte nicht unsere frühere Schlaf­wan­delei, sondern die bittere Realität des Krieges vor unserer Haustür sein. Daran gemessen bewegt sich die Politik des Kanzlers (und auf ihn kommt es hier an) immer noch im „Too little, too late“-Modus.

Der Krieg in der Ukraine ist in einer kriti­schen Phase. Russland ist dabei, wieder die Oberhand zu gewinnen – auch aufgrund der mona­te­langen Verzö­ge­rung und der homöo­pa­thi­schen Dosis, in der Marder, Leopard, Patriot & Co aus Deutsch­land geliefert wurden. Bei „Taurus“ steht der Kanzler immer noch auf der Bremse. Niemand behauptet, dass einzelne Waffen­sys­teme die große Wende zugunsten der Ukraine herbei­führen könnten. Es ist der Verbund aus Aufklä­rung, Luft­ver­tei­di­gung, Artil­lerie, gepan­zerten Verbänden, Luftwaffe und weit­rei­chenden Lenk­waffen, der den Ausschlag gibt. Fehlen wesent­liche Elemente in diesem Mix, ist der Krieg gegen einen hoch gerüs­teten Feind nicht zu gewinnen. Das gilt erst recht, wenn der Nachschub an Munition stockt und der Verschleiß an Waffen nicht hinrei­chend kompen­siert wird.

Was soll man davon halten, wenn die Angebote der Rüstungs­in­dus­trie, die Produk­ti­ons­ka­pa­zi­täten hoch­zu­fahren, zwei Jahre lang weit­ge­hend ignoriert wurden? Dafür braucht es kurz­fris­tige Aufträge und lang­fris­tige Abnah­me­ga­ran­tien. Sie liegen in unserem ureigenen Interesse, um die Bundes­wehr wieder kriegs­fähig zu machen – nicht um einen finalen Weltkrieg auszu­fechten, sondern um poten­ti­elle Brand­stifter glaub­würdig abschre­cken zu können.

Abschre­cken kann nur, wer notfalls in der Lage ist, einen Aggressor zu besiegen. Dass solche funda­men­talen Wahr­heiten – si vis pacem, para bellum – hier­zu­lande so umstritten sind, zeigt nur, wie weit wir das sicher­heits­po­li­ti­sche ABC verlernt haben. Es ist auch allzu unbequem. Deutsch­land hat über 30 Jahre die „Frie­dens­di­vi­dende“ einge­stri­chen, auch als die Zeiten längst gekippt waren.

Die Heraus­for­de­rungen kommen nicht nur von einem Russland, das seine innere Misere durch eine neo-imperiale Gewalt­po­litik über­tüncht. Das Putin-Regime bildet nur die Spitze einer anti­li­be­ralen Inter­na­tio­nale, die ange­treten ist, den Westen in die Schranken zu weisen und die normative Ordnung durch das Faust­recht zu ersetzen. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, wer der russi­schen Kriegs­ma­schine neues Leben einbläst. Ohne die Mili­tär­hilfe des Iran und aus Nordkorea könnte die russische Armee keine erneute Offensive starten. Ohne die wach­senden Importe von Indus­tri­eller Ausrüs­tung und tech­ni­schen Kompo­nenten aus China wäre Russland nicht in der Lage, seine Kriegs­wirt­schaft anzu­kur­beln. Hinter dieser Vierer­bande stehen zahl­reiche kleine und große Poten­taten, die nur darauf warten, die Schwäche des Westens für ihre Ziele zu nutzen.

Es ist kein Zufall, dass die Hamas im Wind­schatten des Ukraine-Krieges ihren mörde­ri­schen Überfall auf die israe­li­schen Sied­lungen gestartet hat. Die Feinde der liberalen Demo­kratie wittern Morgen­luft. Genauer: sie wittern die Schwäche, Konflikt­scheu und Unei­nig­keit des Westens. Sie sehen die zuneh­mende Pola­ri­sie­rung und Frag­men­tie­rung unserer Gesell­schaften, das Erstarken der radikalen Ränder, die ökono­mi­sche Ermüdung Europas, die Hand­lungs­schwäche der Demo­kra­tien. Und sie nutzen die „sozialen Medien“ (ein veral­teter Begriff) als Einfallstor für ihre Attacken auf die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen. Instagram, TikTok & Co sind zu Waffen im Desin­for­ma­ti­ons­krieg geworden.

Auf diesen konzer­tierten Angriff sind die west­li­chen Demo­kra­tien nicht gut gewappnet. Das ist keine Frage der ökono­mi­schen und mili­tä­ri­schen Ressourcen. Solange die USA nicht wegbre­chen, verfügt der Westen immer noch über das über­le­gene wirt­schaft­liche, tech­ni­sche und mili­tä­ri­sche Potential. Sie in die Waag­schale zu werfen, ist eine Frage des poli­ti­schen Willens. Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Nimmt man den Ukraine-Krieg als Lack­mus­test auf die Entschlos­sen­heit und Hand­lungs­fä­hig­keit der Demo­kra­tien, sind wir auf halbem Wege stehen geblieben.

Washington wie Berlin schrecken vor einer defi­ni­tiven Nieder­lage Russlands in der Ukraine zurück – sei es aus Furcht vor einer nuklearen Eska­la­tion oder aus Sorge vor einem Kollaps des Putin-Regimes. Sie kleben immer noch an der Illusion, ein Inter­es­sen­aus­gleich mit dem Kreml sei möglich, sobald Putin zu der Einsicht käme, dass er den Krieg nicht gewinnen kann. Der KGB-Mann im Kreml liest diese Kompro­miss­ge­neigt­heit als Zeichen der Schwäche. Es ermutigt ihn, erst recht aufs Ganze zu gehen. Er setzt darauf, dass der Westen ermatten und erlahmen wird.

Die „präze­denz­losen Sank­tionen“, die Europa und die USA nach dem Überfall auf die Ukraine gegen Russland verhängt haben, bestä­tigen die Lesart, dass es der Westen nicht wirklich ernst meint. Sie sind voller Lücken und Schlupf­lö­cher. Russland expor­tiert nach wie vor Erdgas in die EU, die euro­päi­schen LNG-Importe aus Russland sind im letzten Jahr sogar gestiegen. Über Dritt­staaten wie Turk­me­ni­stan, Kasach­stan, die Türkei und China bezieht die russische Kriegs­in­dus­trie nach wie vor High Tech-Kompo­nenten aus dem Westen. Und die EU schaut tatenlos zu, wie grie­chi­sche Reeder Öltanker an Moskau verkaufen und damit die Exporte am Laufen halten, die das finan­zi­elle Rückgrat des Regimes bilden.

Halb­her­zig­keit, wohin man blickt. Sie prägt auch unsere China-Politik. Das Momentum für einen Konsens zwischen Politik und Wirt­schaft für ein lang­fristig ange­legtes „De-Risking“ – den Abbau stra­te­gi­scher Abhän­gig­keiten von einem ebenso macht­be­wussten wie krisen­haften China – ist schon verpasst. Von einer konse­quenten Iran-Politik keine Spur. Im Nahen Osten spielt Europa nur noch eine marginale Rolle. Die Gefahren, die von einer Wieder­wahl Trumps drohen, werden lauthals beschworen. Aber wir sind weit davon entfernt, Europas Sicher­heit in die eigenen Hände zu nehmen und neue globale Allianzen zu bilden.

Die Gefahr eines schlei­chenden Nieder­gangs der west­li­chen Demo­kra­tien ist real. Aber sie ist nicht unab­wendbar. Wir haben das ökono­mi­sche, poli­ti­sche und kultu­relle Potential für eine Renais­sance der liberalen Demo­kratie. Woran es fehlt, ist eine mentale Zeiten­wende, die den Ernst der Lage erkennt und in Taten übersetzt.

Dazu gehören neue Prio­ri­täten im Bundes­haus­halt; Ein striktes Primat für Inves­ti­tionen in Sicher­heit, Moder­ni­sie­rung der Infra­struktur, Bildung und Forschung, Digi­ta­li­sie­rung und ökolo­gi­sche Trans­for­ma­tion. Für mehr wird es kaum Spielraum geben, auch bei einer Flexi­bi­li­sie­rung der Schul­den­bremse. Es scheint von einem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Kanzler und seinem grünen Koali­ti­ons­partner viel verlangt, ein Mora­to­rium für neue Sozi­al­leis­tungen zu verhängen. Aber keine Angst – die große Mehrheit der Bevöl­ke­rung versteht schon, dass Staats­aus­gaben nicht ad infinitum gestei­gert werden können. Sicher­heit, Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Klima­neu­tra­lität ist das neue magische Dreieck, an dem sich unsere Politik ausrichten muss.

Der Beitrag erschien am 24.02.24 in der Wirt­schafts­Woche.

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