20 Jahre EU-Erweiterung: „Polen ist zu einem Kraftzentrum Europas geworden“
Am 1. Mai 2004 nahm die EU zehn neue Mitglieder auf. Wie hat der Beitritt Polen, die Union und die deutsch-polnischen Beziehungen verändert? Irene Hahn-Fuhr, Agnieszka Łada-Konefał und Kai-Olaf Lang ziehen im Tagesspiegel Bilanz.
Vor 20 Jahren, am 1. Mai 2004, nahm die EU zehn neue Mitglieder auf. Polen ist von Bevölkerung und Wirtschaftskraft das mit Abstand größte dieser Länder. In der Rangliste der deutschen Handelspartner hat es Großbritannien und Italien überholt, liegt auf Platz 5 und schließt zu Frankreich auf. Wir ziehen Bilanz. Welche Auswirkungen hatte die Integration für Polen, die EU und die deutsch-polnische Nachbarschaft?
1) Wie hat der Beitritt Polen verändert?
Polen hat die EU zur Modernisierung genutzt und „ist zu einem ökonomischen Kraftzentrum in Europa geworden“, meint Kai-Olaf Lang, Polen-Experte der Stiftung Politik und Wissenschaft (SWP) in Berlin. „Dank der knapp 160 Milliarden Euro netto aus EU-Mitteln für Kohäsions- und Regionalpolitik in den ersten 19 Jahren hat es die Infrastruktur modernisiert.“
Der Zugang zum Binnenmarkt hat „bis zu einem Drittel des dynamischen Wachstums generiert. Polens BIP pro Kopf lag 2004 unter der Hälfte des EU-Durchschnitts. Heute liegt es bei 80 Prozent. In der globalen Finanzkrise war Polen das einzige EU-Land, dessen Wirtschaft nicht schrumpfte.“
Die „politische und ökonomische Erfolgsgeschichte der Neuen ist im Fall Polen besonders deutlich“, analysiert Irene Hahn-Fuhr, Geschäftsführerin der Denkfabrik Liberale Moderne in Berlin. „Freiheitssehnsucht und Leistungsbereitschaft sind groß. Die Modernisierungschancen fielen auf fruchtbaren Boden.“
Gleichzeitig hat Polen eine gesellschaftliche Polarisierung erlebt, mit verstärkten Spannungen zwischen Konservativen und Liberalen, sozioökonomischer Ungleichheit und kulturellen Gräben, insbesondere zwischen Stadt und Land. Bei der Wahl im vergangenen Herbst hat Polen demokratische Resilienz bewiesen.
2004 wurden polnische Arbeitnehmer mit Spargelernte und Bauarbeiten in Verbindung gebracht. Heute ist ein Pole als Direktor eines deutschen Krankenhauses oder als Bürgermeister keine Überraschung mehr.
„Zwanzig Jahre sind wie ein Tag vergangen“, heißt es in einem alten polnischen Filmhit, sagt Agnieszka Łada-Konefał, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts (DPI) in Darmstadt. „Zugleich ist 2004 so lange her, dass viele Polen und Deutsche vergessen haben, wie die Lage damals war.“
„Vor zwanzig Jahren wurden polnische Arbeitnehmer mit Spargelernte, Reinigungs- und Bauarbeiten in Verbindung gebracht. Heutzutage ist ein Pole, der Direktor eines deutschen Krankenhauses ist oder als Bürgermeister einer deutschen Stadt kandidiert, keine Überraschung mehr.“ Deutsche Unternehmen lassen Autos in Polen montieren, nicht wegen niedriger Löhne, sondern wegen der guten Facharbeiter, Dienstleistungen und Logistik. Das Wirtschaftswachstum hat den Lebensstandard in Polen gesteigert und die Menschen selbstbewusst gemacht.
2) Wie hat die Aufnahme die EU verändert?
Der Beitritt Polens und weiterer neun Länder ist „insgesamt ein Erfolg für die EU“, betont Irene Hahn-Fuhr. „Sie hat ihren Einflussbereich erweitert und die wirtschaftliche Dynamik erhöht. Bei der europäischen Integration geht es Polen aber um die Sicherung seiner nationalen Souveränität, nicht um deren Aufgabe wie manchen im Westen.“
„Die mentale Integration ist der EU noch nicht gelungen, viele sprechen von alten und neuen Mitgliedern“, sagt Hahn-Fuhr. „Trotz diverser Krisen, Brexit und den Unkenrufen der Rechten in Polen und anderswo ist die Anziehungskraft der EU ungebrochen.“
Polen bleibt vorerst außerhalb der Eurozone, das „erschwert die Wirtschaftskooperation oft und reduziert Polens politischen Rang in der EU“, analysiert Łada-Konefał. Die Haltung der Deutschen und anderer Westeuropäer, die sich „gegenüber den Polen als Lehrer sehen, ist immer noch weit verbreitet. Inzwischen ist der polnische ‚Schüler‘ nicht selten zumindest so fit und erfahren wie der Lehrer und oft besser vorbereitet. Und tritt viel selbstbewusster auf.“
Die EU hat mit Polen „einen politischen Aktivposten und ein wirtschaftliches Schwungrad gewonnen“, sagt Lang. „Polen will nicht nur dabei sein, sondern die europäische Politik prägen: in der Ostpolitik, in Energiefragen, bei der Migration und der Frage, wohin sich die EU entwickeln soll. Die Energieunion ist eine polnische Idee. Polen war immer Wortführer der Einbindung der Ukraine, fand damit und den Warnungen vor Russland aber lange wenig Gehör.“
„Polen verstärkt den transatlantischen Klub in der EU: bloß keine Abkehr von den USA. Warschau tritt selbstbewusst auf, manchmal auch sperrig, und sieht sich – nicht nur während der PiS-Regierungen – als Gegengewicht zu Deutschland und Frankreich.“
3) Wie haben sich die deutsch-polnischen Beziehungen verändert?
Polen sind nicht mehr vernarrt in deutsche Technologie oder den Sozialstaat wie noch vor 20 Jahren“, meint Łada-Konefał. Sie betreut die Umfrage „deutsch-polnisches Barometer“. Polen „empfinden sich als fortschrittlicher in der Digitalisierung: Arzneimittel werden elektronisch verschrieben. Sie können Verwaltungs- und Steuerangelegenheiten über das Bürgerprofil abwickeln und Gerichtsakten online einsehen. Der Abbau von Unterschieden verändert die Partnerschaft.“
Ein Trend ist konstant geblieben: „Deutsche, die mindestens einmal in Polen waren, haben ein besseres Bild von Land und Gesellschaft als die, die nie dort waren. Und sie wollen ihr Wissen über Polen vertiefen. Wir sollten uns möglichst viele Begegnungen wünschen, am liebsten in Polen.“
In den 1990er Jahren sprach man von der „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“, erinnert Lang. Nach dem Beitritt zeigte sich, dass „mehr Nähe und mehr Kooperation zu Reibungen und Kooperationsstress führen können. Etwa bei Russland, Sicherheit, Klima- und Energiepolitik oder Migration.“
„Viele Polen meinen, dass Deutschland das Versprechen der Partnerschaft nicht eingelöst hat“, beobachtet Lang. „Beide Seiten müssen eine Gestaltungsgemeinschaft in der EU anstreben. Die Wirtschaftskooperation blüht dagegen. Ungeachtet politischer Verwerfungen erreicht der Handel immer neue Rekordniveaus.“
Die Beziehungen schwanken zwischen „Versöhnungskitsch“, Pragmatismus und „Eiszeiten“, hauptsächlich während der PiS-Regierungen, analysiert Hahn-Fuhr. „Es gibt aber ein grundsätzliches Streben nach Partnerschaft. Die Frage der Wiedergutmachung ist 2024, fast 80 Jahre nach dem Weltkrieg, eine offene Wunde.“
„Polen wissen aus der Geschichte, dass Frieden ohne Freiheit die Akzeptanz von Unterdrückung bedeutet. Sie unterstützen die Ukraine in ihrem Überlebenskampf und erwarten, dass Deutschland hilft, diesen Krieg für ein freies Europa zu gewinnen. Nun ist es an Deutschland, eine Partnerschaft auf Augenhöhe aufzubauen und Polen nicht mehr als Juniorpartner zu behandeln. Der Nachbarschaftsvertrag sollte entsprechend weiterentwickelt werden.“
Der Beitrag erschien am 30.04.2024 im Tagesspiegel.
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