Wie man zivili­siert mit Terror­an­schlägen umgeht – Notizen aus Tel Aviv

Shutter­stock

Trotz der Raketen­an­griffe und Terror­an­schläge ziehen in den israe­li­schen Städten keine wütenden Mobs durch die Straßen. Aber die Regierung Netanyahu schürt die Entfremdung zwischen israe­li­schen Juden und Arabern.  Begeg­nungen in Tel Aviv, aufge­zeichnet von unserem Autoren Marko Martin.

Tel Aviv, in den Tagen nach „Chemnitz“. Nathan ist ein Ingenieurs­student aus Sderot, der von Hamas-Raketen immer wieder angegrif­fenen Klein­stadt am Rande des Gazastreifens. Wie so viele seines Alters ist er für ein paar Erholungstage am Strand der Mittelmeer-Metropole. „Weißt du, wo ich vor einiger Zeit mal eine Art Austauschkurs belegt habe? In Chemnitz, an der dortigen Uni! Wenn ich die aktuellen Fernseh­bilder sehe, kommt mir wieder ins Gedächtnis, was ich schon halb vergessen hatte. Zwei Fragen, die mir dort gestellt wurden und die – so sehe ich das jetzt – wahrscheinlich viel mehr mit Deutschland als mit Israel zu tun hatten. Frage Nummer 1, eher mitte-links: ´Warum tut ihr all das den Paläs­ti­nensern an?´ Frage 2, vermutlich ziemlich rechts: ´Nach all dem, was euch die Paläs­ti­nenser angetan haben – bekommst du nicht die Krise, wenn du auf Araber stößt?´“

Für die Beant­wortung der ersten Frage müsse er sich mehr Zeit nehmen, da er die Westbank-Besatzung zwar nicht befür­worte, aber seit Jahren erlebe, wie nach dem israe­li­schen Rückzug aus dem Gazastreifen die Hamas Tunnel und Raketen­ab­schuß­rampen baut anstatt Schulen und Fabriken. Das Zweite Frage dagegen war schnell zu beant­worten: „Weshalb sollte die Tatsache, dass islamis­tische Extre­misten unsere Häuser und Kinder­gärten beschießen und Raketen in den Gemüse­garten meiner Eltern schicken, nun dazu führen, die ich hier am Strand gänzlich unbetei­ligte israe­lische Araber schräg anglotze?“

Selbst in den blutigen Zeiten der Hamas-Mordan­schläge, als in Tel Aviver Bussen, Restau­rants und Schulen unzählige Menschen ums Leben kamen, gab sich niemand einer Revan­che­stimmung hin und nirgendwo in der Stadt setzte sich ein Mob in Bewegung, um Jagd auf Araber zu machen. 

Die Strand­pro­menade von Tel Aviv mit ihren nahe gelegenen Bars und Clubs: Das gute, das progressive, will heißen selbst­re­flexive Israel – sofern man hiesigen und auswär­tigen Linken glaubt, während für die israe­lische Rechte und die Phalanx selbst­er­klärter, nicht selten evange­li­kaler „Israel-Freunde“ der schmale Küsten­streifen eher ein Ort des unpatrio­tisch verweich­lichten Hedonismus ist. Was aber, wenn beide Lager irrten und die lebens­weltlich liberale Komple­xität dieser Gegend alle wohlfeilen Theorien zerplatzen lässt?

Denn Nathan wählt – im Unter­schied zu einigen gepircten Alters­ge­nossen, die unserem Gespräch zuerst versonnen gelauscht hatten, um sich sodann sogleich Tel Aviv-typisch meinungsfroh einzu­mi­schen – die Mitte-Rechts­partei Yesh Atid des ehema­ligen TV-Moderators und Finanz­mi­nisters Yair Lapid und kennt persönlich nicht einen Araber. Was ihn jedoch, diese Pointe lässt sich Nathan nicht aus, mit vielen Linken im Land verbindet, die auch heute aus den wohlha­benden HighTech-Vierteln von Nord-Tel Aviv und Ramat Gan an den Strand gekommen sind, selbst­ver­ständlich mit einem E‑Abo der Netanyahu-kriti­schen Tages­zeitung „Ha´aretz“ auf ihren Smart­phones. Freilich sind in ihren Büros, die als sicher­heits­re­levant einge­stuft sind, Araber nicht einmal als Reini­gungs­kräfte präsent. Selbst die abend­liche Lieferung der Joints – angeblich von einer arabi­schen Großfa­milie in Jaffa kontrol­liert – besorgen inzwi­schen Russen. 

Portrait von Marko Martin

Marko Martin ist Schrift­steller und Publizist.

Doch wie auch immer die Lebens­wirk­lich­keiten sein mögen: Jeder erinnert sich daran, dass selbst in den blutigen Zeiten der Hamas-Mordan­schläge, als ab Mitte der neunziger Jahre in Tel Aviver Bussen, Restau­rants und Schulen unzählige Menschen ums Leben gekommen waren, sich weder die Eltern noch die Nachbarn oder Verwandten einer Revan­che­stimmung hingaben und sich auch nirgendwo in der Stadt ein Mob in Bewegung setzte, um Jagd auf Araber zu machen. Tel Aviv ist eben nicht Chemnitz. (Wie also wäre es, fragt man sich, wenn mit Blick auf Israel das “besorgte Deutschland“ erst einmal die Luft anhalten würde und sich beginnt zu fragen, was es mit der mordlüs­ternen Chemnitz-Gestimmtheit auf sich hat?)

Und dennoch. Das von der rechts­na­tio­nalen Netanyahu-Regierung im Juli mit knapper 62:55-Mehrheit durchs Parlament gepeitschte Gesetz, welches das demokra­tische und multi-ethnische Israel zu einem „Natio­nal­staat für jüdische Menschen“ erklärt, mag zwar alltags­prak­tisch nicht allzu viel verändern, sendet aber trotzdem – und das in einer Region, in der Symbo­li­sches derart wichtig ist – ein verhee­rendes Signal aus. Mit der Herab­stufung des von knapp 18 Prozent der Staats­bürger gespro­chenen Arabisch zu einer pater­na­lis­tisch gedul­deten „Sprache mit Sonder­status“ wird den israe­li­schen Arabern einmal mehr sugge­riert, dass sie nicht dazu gehören – und damit regie­rungs­amtlich bestätigt, was deren demago­gische Führer seit jeher wortstark behaupten.

„Aber Israel ist doch meine Heimat“, sagt an einem anderen Abend Samir, ein Spross sesshaft gewor­dener Beduinen aus dem unwirt­lichen Vorort Lod, dem es erfolg­reich gelungen ist, dem familiären Kokon zu entkommen, inzwi­schen in Paris mit einem franzö­si­schen Juden verpartnert und Student an der Sorbonne. „Bei jeder Rückkehr hierher aber fühle ich mich fremder. Manche Juden, die mich wegen meines kleinen Akzents beim Hebräisch-Sprechen misstrauisch beäugen, dazu meine Familie, die mir vorwirft, ´arabische Tradi­tionen´ zu verraten. Eigentlich war das zwar schon immer so – nur das es jetzt sogar ein amtliches Gesetz gibt, das uns in ´wir´ und ´die´ spaltet.“

Samir spricht fließend franzö­sisch, aber es spricht es leise – im Gegensatz zu den jüdischen Sommer­tou­risten aus Frank­reich, die nun in der Tat nicht zu überhören sind. „Sieh sie dir an! Die Frauen mit den dunkel­blon­dierten Dalida-Haaren, die Männer mit ihren breiten Koteletten und dicken Goldketten, die mich so an meinen Abu erinnern. Und dann die Kids: Die schönen Mädchen und die attrak­tiven Jungs – wie diese Teenager in den Filmen von Eric Rohmer! Sag, wenn ich mich für sie freue, dass sie hier in Tel Aviv ganz unbesorgt ihre Kettchen mit dem David­stern tragen können, während sie zuhause in Paris oder in Sarcelles Angst haben müssen vor musli­mi­schem Pöbel – wenn also ich als arabi­scher Israeli ihre Furcht und ihre Freude verstehe, weshalb können dann nicht auch...?“

Samir lässt den Satz in der Schwebe und blickt melan­cho­lisch dem Rauch seiner Zigarette nach.

Textende

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