Wie man zivilisiert mit Terroranschlägen umgeht – Notizen aus Tel Aviv
Trotz der Raketenangriffe und Terroranschläge ziehen in den israelischen Städten keine wütenden Mobs durch die Straßen. Aber die Regierung Netanyahu schürt die Entfremdung zwischen israelischen Juden und Arabern. Begegnungen in Tel Aviv, aufgezeichnet von unserem Autoren Marko Martin.
Tel Aviv, in den Tagen nach „Chemnitz“. Nathan ist ein Ingenieursstudent aus Sderot, der von Hamas-Raketen immer wieder angegriffenen Kleinstadt am Rande des Gazastreifens. Wie so viele seines Alters ist er für ein paar Erholungstage am Strand der Mittelmeer-Metropole. „Weißt du, wo ich vor einiger Zeit mal eine Art Austauschkurs belegt habe? In Chemnitz, an der dortigen Uni! Wenn ich die aktuellen Fernsehbilder sehe, kommt mir wieder ins Gedächtnis, was ich schon halb vergessen hatte. Zwei Fragen, die mir dort gestellt wurden und die – so sehe ich das jetzt – wahrscheinlich viel mehr mit Deutschland als mit Israel zu tun hatten. Frage Nummer 1, eher mitte-links: ´Warum tut ihr all das den Palästinensern an?´ Frage 2, vermutlich ziemlich rechts: ´Nach all dem, was euch die Palästinenser angetan haben – bekommst du nicht die Krise, wenn du auf Araber stößt?´“
Für die Beantwortung der ersten Frage müsse er sich mehr Zeit nehmen, da er die Westbank-Besatzung zwar nicht befürworte, aber seit Jahren erlebe, wie nach dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen die Hamas Tunnel und Raketenabschußrampen baut anstatt Schulen und Fabriken. Das Zweite Frage dagegen war schnell zu beantworten: „Weshalb sollte die Tatsache, dass islamistische Extremisten unsere Häuser und Kindergärten beschießen und Raketen in den Gemüsegarten meiner Eltern schicken, nun dazu führen, die ich hier am Strand gänzlich unbeteiligte israelische Araber schräg anglotze?“
Selbst in den blutigen Zeiten der Hamas-Mordanschläge, als in Tel Aviver Bussen, Restaurants und Schulen unzählige Menschen ums Leben kamen, gab sich niemand einer Revanchestimmung hin und nirgendwo in der Stadt setzte sich ein Mob in Bewegung, um Jagd auf Araber zu machen.
Die Strandpromenade von Tel Aviv mit ihren nahe gelegenen Bars und Clubs: Das gute, das progressive, will heißen selbstreflexive Israel – sofern man hiesigen und auswärtigen Linken glaubt, während für die israelische Rechte und die Phalanx selbsterklärter, nicht selten evangelikaler „Israel-Freunde“ der schmale Küstenstreifen eher ein Ort des unpatriotisch verweichlichten Hedonismus ist. Was aber, wenn beide Lager irrten und die lebensweltlich liberale Komplexität dieser Gegend alle wohlfeilen Theorien zerplatzen lässt?
Denn Nathan wählt – im Unterschied zu einigen gepircten Altersgenossen, die unserem Gespräch zuerst versonnen gelauscht hatten, um sich sodann sogleich Tel Aviv-typisch meinungsfroh einzumischen – die Mitte-Rechtspartei Yesh Atid des ehemaligen TV-Moderators und Finanzministers Yair Lapid und kennt persönlich nicht einen Araber. Was ihn jedoch, diese Pointe lässt sich Nathan nicht aus, mit vielen Linken im Land verbindet, die auch heute aus den wohlhabenden HighTech-Vierteln von Nord-Tel Aviv und Ramat Gan an den Strand gekommen sind, selbstverständlich mit einem E‑Abo der Netanyahu-kritischen Tageszeitung „Ha´aretz“ auf ihren Smartphones. Freilich sind in ihren Büros, die als sicherheitsrelevant eingestuft sind, Araber nicht einmal als Reinigungskräfte präsent. Selbst die abendliche Lieferung der Joints – angeblich von einer arabischen Großfamilie in Jaffa kontrolliert – besorgen inzwischen Russen.
Doch wie auch immer die Lebenswirklichkeiten sein mögen: Jeder erinnert sich daran, dass selbst in den blutigen Zeiten der Hamas-Mordanschläge, als ab Mitte der neunziger Jahre in Tel Aviver Bussen, Restaurants und Schulen unzählige Menschen ums Leben gekommen waren, sich weder die Eltern noch die Nachbarn oder Verwandten einer Revanchestimmung hingaben und sich auch nirgendwo in der Stadt ein Mob in Bewegung setzte, um Jagd auf Araber zu machen. Tel Aviv ist eben nicht Chemnitz. (Wie also wäre es, fragt man sich, wenn mit Blick auf Israel das “besorgte Deutschland“ erst einmal die Luft anhalten würde und sich beginnt zu fragen, was es mit der mordlüsternen Chemnitz-Gestimmtheit auf sich hat?)
Und dennoch. Das von der rechtsnationalen Netanyahu-Regierung im Juli mit knapper 62:55-Mehrheit durchs Parlament gepeitschte Gesetz, welches das demokratische und multi-ethnische Israel zu einem „Nationalstaat für jüdische Menschen“ erklärt, mag zwar alltagspraktisch nicht allzu viel verändern, sendet aber trotzdem – und das in einer Region, in der Symbolisches derart wichtig ist – ein verheerendes Signal aus. Mit der Herabstufung des von knapp 18 Prozent der Staatsbürger gesprochenen Arabisch zu einer paternalistisch geduldeten „Sprache mit Sonderstatus“ wird den israelischen Arabern einmal mehr suggeriert, dass sie nicht dazu gehören – und damit regierungsamtlich bestätigt, was deren demagogische Führer seit jeher wortstark behaupten.
„Aber Israel ist doch meine Heimat“, sagt an einem anderen Abend Samir, ein Spross sesshaft gewordener Beduinen aus dem unwirtlichen Vorort Lod, dem es erfolgreich gelungen ist, dem familiären Kokon zu entkommen, inzwischen in Paris mit einem französischen Juden verpartnert und Student an der Sorbonne. „Bei jeder Rückkehr hierher aber fühle ich mich fremder. Manche Juden, die mich wegen meines kleinen Akzents beim Hebräisch-Sprechen misstrauisch beäugen, dazu meine Familie, die mir vorwirft, ´arabische Traditionen´ zu verraten. Eigentlich war das zwar schon immer so – nur das es jetzt sogar ein amtliches Gesetz gibt, das uns in ´wir´ und ´die´ spaltet.“
Samir spricht fließend französisch, aber es spricht es leise – im Gegensatz zu den jüdischen Sommertouristen aus Frankreich, die nun in der Tat nicht zu überhören sind. „Sieh sie dir an! Die Frauen mit den dunkelblondierten Dalida-Haaren, die Männer mit ihren breiten Koteletten und dicken Goldketten, die mich so an meinen Abu erinnern. Und dann die Kids: Die schönen Mädchen und die attraktiven Jungs – wie diese Teenager in den Filmen von Eric Rohmer! Sag, wenn ich mich für sie freue, dass sie hier in Tel Aviv ganz unbesorgt ihre Kettchen mit dem Davidstern tragen können, während sie zuhause in Paris oder in Sarcelles Angst haben müssen vor muslimischem Pöbel – wenn also ich als arabischer Israeli ihre Furcht und ihre Freude verstehe, weshalb können dann nicht auch...?“
Samir lässt den Satz in der Schwebe und blickt melancholisch dem Rauch seiner Zigarette nach.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.