Was Sie schon immer über den Brexit wissen wollten
Nachverhandlungen, harter Austritt, zweites Referendum: Versteht eigentlich noch irgendjemand, wohin das britische Historiendrama namens Brexit steuert? Unsere Autorin erklärt fünf mögliche Szenarien.
In dreieinhalb Monaten, am 29. März 2019, soll Großbritannien die EU verlassen. Eigentlich. Doch die politische Lage in London ist so vertrackt, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was in diesen dreieinhalb Monaten noch passiert. Die britische Premierministerin Theresa May hat am Mittwoch ein Misstrauensvotum der eigenen Partei überstanden. Das hat ihre Position aber nicht gestärkt, sondern eher geschwächt.
Zum einen musste sie vor der Abstimmung versprechen, dass sie vor der nächsten Parlamentswahl 2022 zurücktritt. Zum anderen machte das Ergebnis deutlich, wie tief die Spaltung bei den Tories ist. Zwar haben 200 konservative Abgeordnete May unterstützt. Allerdings gab es 117 Gegenstimmen – das zeigt, dass nicht nur die Anhänger eines harten Brexit mit May unzufrieden sind. Es ist eine Pattsituation. Die BBC-Korrespondentin Laura Kuenssberg bezeichnete das Ergebnis nach der Abstimmung treffend als ein Fegefeuer – für alle Flügel der konservativen Partei. Denn auch harte EU-Skeptiker wie Jacob Rees-Mogg oder Boris Johnson sind durch die Abstimmung geschwächt worden. Sie haben keine Mehrheit und dürfen die Misstrauensfrage parteiintern ein Jahr lang nicht mehr stellen.
Das britische Parlament muss noch vor dem 21. Januar über den Brexit-Deal abstimmen, den die Regierung mit der EU ausgehandelt hat. Doch bis jetzt lehnt die Mehrheit der Abgeordneten den Deal ab – aus unterschiedlichen Gründen. Folgende Szenarien sind jetzt denkbar.
1. Die EU kommt der britischen Regierung entgegen
Der zentrale Kritikpunkt der EU-skeptischen May-Gegner ist der sogenannte Backstop, ein Notplan, der formuliert wurde, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden. Wird vor dem Ende der Übergangszeit keine Einigung über das künftige Verhältnis zwischen Brüssel und London erzielt, tritt der Backstop in Kraft und das ganze Vereinigte Königreich bleibt in der Zollunion, bis eine Lösung gefunden ist. EU-Skeptiker kritisieren den Backstop, weil er aus ihrer Sicht ein Mittel ist, den Brexit zu torpedieren. Sie bestehen deshalb darauf, dass May mit Brüssel nachverhandelt.
Der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker machte in den letzten Tagen allerdings deutlich, dass das Austrittsabkommen nicht neu verhandelt werden kann. Der Backstop wird also bleiben. Allerdings seien „weitere Klarstellungen und Interpretationen“ möglich, so Juncker. Ähnlich äußerten sich EU-Staatschefs auf dem Gipfel am Donnerstag. Ob das den EU-Skeptikern reicht? Die Lage von May wird auch dadurch erschwert, dass ihre Regierung auf die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) als Koalitionspartner angewiesen ist. Die DUP stellte sich kategorisch gegen den Deal, weil sie eine Annäherung zwischen Nordirland und Irland und eine Abspaltung von Irland fürchtet. Das erhört die Chancen auf eine Ablehnung im Parlament.
2. Das britische Parlament gibt bei einer zweiten Abstimmung nach
Scheitert die erste Abstimmung im Parlament, hätte May theoretisch noch eine zweite Chance. Dafür könnte sie versuchen, nicht das juristisch bindende Austrittsabkommen, sondern die politische Absichtserklärung mit der EU zu verändern. Immer wieder wird das „Norwegen-Modell“ als Alternative zum Brexit ins Gespräch gebracht. Dann würde Großbritannien zwar aus der EU austreten, jedoch Teil der Freihandelszone EFTA werden. In der Absichtserklärung könnte etwa nicht bindend festgehalten werden, dass London künftig ein norwegisches oder ähnliches Modell anstrebt. Doch würde das reichen, um die Labour-Partei dazu zu bewegen, die nun abgemilderte Variante des Brexit zu unterstützen? Und würde man genug Tories finden, die dazu bereit wären, für den Deal zu stimmen?
Letztendlich ist auch möglich, dass das Parlament den Deal billigt, einfach weil die Zeit drängt und alle anderen Varianten noch komplizierter sind und das Land in ein noch größeres Chaos stürzen würden. May wiederholt gebetsmühlenartig, dass es nur zwei Alternativen zum ihrem Deal gibt: Kein Brexit oder ein harter Austritt aus der EU. Diese Drohung könnte am Ende Abgeordnete dazu bringen, ihren Kompromiss zu akzeptieren. Kurz: Es gibt derzeit keine Lösung, die für alle Seiten akzeptabel ist.
3. Das zweite Referendum oder Neuwahlen
Je vertrackter die Lage in den vergangenen Monaten geworden ist, desto lauter sind die Stimmen geworden, die nach einem zweiten Referendum rufen. Nicht nur Labour-Anhänger, sondern auch mehrere ehemalige konservative Kabinettsmitglieder wie der Ex-Verkehrsminister Jo Johnson oder die Ex-Bildungsministerin Justine Greening sind der Meinung, das der Brexit-Knoten nur so zerschlagen werden kann. Für Remainer ist es die letzte Hoffnung, den historischen Fehler der Austrittsentscheidung wiedergutzumachen und doch noch einen Weg zu finden, in der EU zu bleiben.
Allerdings gibt es mehrere Probleme mit diesem Szenario. Erstens zeigen die Meinungsumfragen, dass es nur eine leichte, aber keine deutliche Mehrheit für den Verbleib in der EU gibt. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die Briten auch beim zweiten Mal für den Austritt stimmen. Vieles könnte davon abhängen, wie die Kampagne verläuft und wie genau die Referendum-Frage formuliert wird. Zudem würden die EU-Skeptiker nicht plötzlich Ruhe geben, nur weil beim zweiten Anlauf beschlossen würde, den Austrittsantrag zurückzuziehen. Weitere aufgeladene Diskussion in der EU und in Großbritannien wären das Ergebnis.
Zum anderen ist sich die oppositionelle Labour-Partei in der Brexit-Frage ebenso uneinig wie die Tories. Der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn weigert sich, sich klar gegen den Brexit und für das zweite Referendum auszusprechen. Stattdessen strebt er Neuwahlen an. Das erschwert die Perspektiven eines zweiten Referendums. Die Labour-Partei könnte versuchen, Neuwahlen mit dem Versprechen eines zweiten Referendums zu verknüpfen. Dafür bräuchte sie aber die Zustimmung von weiteren Abgeordneten, entweder von den Tories oder der DUP. Diese müssten in Kauf nehmen, dass Labour die Wahlen gewinnt und Corbyn Premierminister wird. Diese Vorstellung ist für die Tories aber schlimmer als der Deal von Theresa May.
4. Ein harter Austritt
Ein ungeordneter Austritt aus der EU wäre das denkbar schlechteste Szenario für die britische Wirtschaft. Die Regierung trifft zwar auch für diesen Fall Vorkehrungen. Doch eigentlich ist den meisten Brexit-Anhängern bewusst, dass die Konsequenzen einer solchen Entwicklung katastrophal wären. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist gering. Nachdem May das Misstrauensvotum überstanden hat, ist klar, dass Politiker wie Jacob Rees-Mogg, die offen für einen harten Austritt werben, keine Mehrheit in der Partei haben.
5. Verlängerung der Austrittsverhandlungen
Werden sich die innenpolitischen Probleme in Großbritannien weiterhin als absolut unlösbar erweisen, könnte es sein, dass May die EU um die Verlängerung der zweijährigen Frist für die Austrittsverhandlungen bittet. Laut Artikel 50 des EU-Vertrags ist dies möglich, wenn sich die EU und Großbritannien darauf einigen. Allerdings müssten die Britten dann demonstrieren, dass sie zu einer internen Einigung bereit sind.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.