Keine Illusionen, bitte!
Seit dem Amtsantritt des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind auch die deutsch-russischen Beziehungen wieder in Gang gekommen. Es wäre allerdings falsch, über die neoimperialen und autoritären Entwicklungen in Russland hinwegzusehen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seit seinem Amtsantritt im Mai 2019 einige mutige Schritte für eine Deeskalation der Lage im Donbass unternommen. So hat er die Modalitäten für die Auszahlung von Renten für ukrainische Staatsbürger in den Gebieten, die nicht unter der Kontrolle Kiews stehen, vereinfachen lassen. Die ukrainischen Kräfte führten auf sein Geheiß erste Maßnahmen zu einer Entflechtung der Frontlinie rund um den Checkpoint Staniza Luhanska durch. Zudem ventilierte Selenskyj Szenarien, wonach eine Aufhebung der Wirtschaftsblockade denkbar sei.
Diese Schritte Selenskyjs führten zu einem neu vereinbarten Waffenstillstand, der, nach anfänglichen Problemen, bisher zu halten scheint. Diese Nachrichten führen in einigen Kreisen in Berlin und Moskau zu der Vorstellung, das „Ukraine-Problem“ relativ rasch so lösen zu können, dass eine wirtschaftliche und politische Normalisierung der Beziehungen möglich sei, ohne die Situation in den von Russland kontrollierten Gebieten des Donbass grundlegend zu ändern. Dies offenbart jedoch vor allem auf der Berliner Seite ein fehlendes Verständnis dafür, dass Russland in der Ostukraine ganz andere Pläne verfolgt, als es das Minsker Abkommen vorsieht.
Sicherlich standen die von Selenskyj unternommenen Schritte in Bezug auf eine Deeskalation des Krieges mit Russland auch in Zusammenhang mit dem Wahlkampf, der am 21. Juli mit einem Durchmarsch seiner neu gegründeten Partei zur absoluten Mehrheit im ukrainischen Parlament endete. Im selben Zeitraum hat der Kreml Fakten in gegensätzlicher Richtung geschaffen: Direkt nach der ukrainischen Präsidentschaftswahl Ende April wurde mit der Ausgabe von russischen Pässen in den so genannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine begonnen. Nur wenige Tage vor der ukrainischen Parlamentswahl am 21. Juli weitete Wladimir Putin diese Praxis, die klar dem Minsker Abkommen widerspricht, auf die gesamte Ukraine aus. Die Ausgabe von Pässen eskaliert dabei nicht nur kurzfristig den Konflikt zwischen beiden Staaten. Nach Lesart der russischen Außenpolitik erweitert sie das Repertoire der Legitimation russischer Intervention in anderen Staaten („Verteidigung russischer Bevölkerung“), und ist schon oft genug ein weiterer Schritt in Richtung einer faktischen Annexion von Gebieten gewesen.
Eine schnelle Lösung des Krieges im Donbass ist leider unrealistisch
Dieses Signal der Eskalation und Kompromisslosigkeit wurde von außergewöhnlich blutigen Wochen an der Kontaktlinie begleitet, die auf die Wahl von Selenskyj folgten. Dazu kommt die Aufrechterhaltung der De-facto-Seeblockade der ukrainischen Häfen am Asowschen Meer. Die im letzten Jahr in der Straße von Kertsch gefangen genommenen ukrainischen Seeleute, die nach Anordnung des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg freizulassen sind, sitzen ebenso weiter in russischer Haft wie dutzende weitere ukrainische politische Gefangene.
Es ist bemerkenswert und zu begrüßen, dass es trotzdem möglich war, im Rahmen der trilateralen Kontaktgruppe in Minsk neben den Maßnahmen der Entflechtung und der Waffenruhe auch einen Gefangenenaustausch zu vereinbaren. Alle Maßnahmen, die zu einer Verringerung der Todesrate an der Kontaktlinie und zu einer Vereinfachung des Austausches von Menschen über die Kontaktlinie hinweg führen, liegen im Interesse der Ukraine.
Dennoch sollte man sich keine Illusionen machen: Eine schnelle, weitergehende Lösung des Krieges im Donbass im Rahmen einer tatsächlichen Umsetzung des Minsker Abkommens oder eines neuen, etwa von VN-Friedenstruppen gestützten Friedensplans ist unrealistisch.
Solange es im Kreml nicht zu einem grundlegenden Umdenken in den Beziehungen zur Ukraine und zum Westen kommt, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass Russland die Reintegration der besetzten Gebiete in die Ukraine im Rahmen einer nicht vom Kreml kontrollierten Neuordnung akzeptiert. Konkret bedeutet dies: Moskau wird schlichtweg nicht bereit sein, seine militärischen und nachrichtendienstlichen Kräfte abzuziehen, was die Voraussetzung für freie und demokratische Wahlen wäre. Wahlen im Rahmen der derzeitigen Herrschaftsverhältnisse vor Ort sind vor dem Hintergrund der menschenrechtlichen Lage weder vorstellbar noch akzeptabel. Zudem wird Moskau weder offiziell noch faktisch bereit sein, der Ukraine wieder die Kontrolle über die ukrainisch- russische Grenze zu ermöglichen. Dies würde nicht nur das politische Argument, man handle zum Schutz der örtlichen (bald russischen) Bevölkerung konterkarieren, sondern darüber hinaus den notwendigen militärischen und zivilen Nachschub für die Marionettenregime in Donezk und Lugansk abschneiden. Die beiden sogenannten Volksrepubliken würden unkontrollierbar werden.
Realistischer ist: Selenskyj wird seine Wähler enttäuschen
Das gleiche Problem gilt auch für das Szenario eines aktuell diskutierten VN-Friedensplans, der die Einrichtung einer internationalen Verwaltung zur Durchführung von Wahlen vorsieht. Nicht nur, dass ein solcher Plan, nach dem Vorbild der Freistadt Danzig zwischen den Weltkriegen, eindeutig hinter der Maßgabe des Minsker Abkommens zur Durchführung von Wahlen nach ukrainischem Recht zurückbliebe. Es ist auch kaum vorstellbar, dass eine VN-Verwaltung vor dem Hintergrund der inzwischen etablierten Gewaltstrukturen und der organisierten Kriminalität in den Gebieten zum effektiven Schutz Andersdenkender in der Lage wäre.
Das realistischste Szenario ist ein anderes: Selenskyjs Politik wird möglicherweise zu einer Deeskalation an der Kontaktlinie, allerdings nicht zu einer Auflösung derselben und einem echten Frieden führen, selbst wenn man die Krim ausklammert. Selenskyj wird, gemessen an seinem zentralen Wahlversprechen eines schnellen Friedens, die Erwartungen vieler seiner Wählerinnen und Wähler, gerade im Süden und Osten der Ukraine, nicht erfüllen können. Für diese ist er nicht nur ein Hoffnungsträger, sondern auch eine echte Alternative zu den hart prorussisch agierenden Kräften. Der Kreml geht außerdem – auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen mit dem Regime Wiktor Janukowitschs und der eigenen Einflussmöglichkeiten auf die Oligarchen in der Ukraine – offensichtlich davon aus, dass Selenskyj nicht in der Lage sein wird, die Korruption im Land in dem Maß zu bekämpfen, wie er es angekündigt hat.
Ein solches Scheitern Selenskyjs würde vor dem Hintergrund der massiven Verschiebungen in der Parteienlandschaft des Landes vermutlich zu einer Situation der Desorientierung führen, in der Russland alle Trümpfe in der Hand hielte: Entweder akzeptiert die Ukraine eine „russische Lösung“ („Russkyij Mir“) des Krieges mit einer Schaffung von autonomen Staatsgebilden unter russischem Einfluss, der die Westbindung des Landes blockieren würde. Oder der Kreml wird die faktische Angliederung der Gebiete, in denen mit der Ausgabe russischer Pässe begonnen wurde, noch intensiver und schneller fortsetzen. Einhergehen würden beide Ansätze mit der gezielten Stärkung prorussischer politischer Kräfte in den ukrainisch kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine. Dies könnte perspektivisch auch ein Wiederaufleben des Konzepts eines russischen Teilstaats („Neurussland“) möglich machen, der dann den Osten der Ukraine umfassen würde.
Ursula von der Leyen sollte die Unterstützung der EU für die Ukraine bekräftigen
Deswegen ist der Glaube an eine mögliche Normalisierung der Beziehungen der EU und Deutschlands zu Russland nicht nur naiv, sondern gefährlich. Der Kreml nimmt sehr genau wahr, dass Teile der deutschen Politik die Deeskalation in der Ukraine nicht der ukrainischen Seite zuschreiben, sondern sie als Anlass sehen, an Nord Stream 2 festzuhalten oder offen für eine Aufhebung der Sanktionen einzutreten – die wegen des immer noch andauernden russischen Krieges in der Ukraine verhängt wurden.
Gleichzeitig ist die EU zögerlich in ihrer Unterstützung der Ukraine und gibt – aus der Sicht wichtiger Personen im Umfeld des Präsidenten Selenskyj – einen unzuverlässigen Partner ab. Sie verspielt so ihr strategisches Asset als Zielpunkt einer perspektivischen Westintegration der Ukraine.
Für die Ukraine könnte das bedeuten, dass die EU als Akteur immer mehr an Bedeutung verliert und – ganz in der Logik des Kalten Krieges – nur noch Russland und die USA als Alternativen gesehen werden. Eine Entwicklung, die für die Sicherheitsarchitektur in Europa und auch für die NATO hochgefährlich wäre.
Gleichzeitig werden die Signale aus Berlin, wie beispielsweise die butterweiche Rede von Außenminister Heiko Maas auf dem Petersburger Dialog vor zwei Wochen, in Moskau sehr wohl gehört. Und zwar nicht als Anlass, das eigene Vorgehen zu ändern oder die eigene Strategie der Außenpolitik, die den Konflikt mit dem Westen für die eigene Machtlegitimation braucht, zu überdenken. Im Gegenteil, diese Signale werden als eine schleichende Legimitation des eigenen Vorgehens auf der Krim gesehen, als ein Zeichen, dass Russland nur warten müsse: Mit der Zeit werde die EU schwach und werde um des lieben Friedens willen nachgeben.
Diese sanfte Gangart von Teilen der SPD und der CDU schadet damit nicht nur der Entwicklung der Ukraine. Sie droht, die EU und die NATO zu spalten und damit den amerikanischen Falken die Möglichkeit eines Herauskaufens zentraleuropäischer Staaten in die Hände zu legen. Vor allem aber schwächt sie die russische Opposition, deren wesentliches Argument nicht zuletzt ist, dass sie die Isolierung Russlands von der europäischen Wertegemeinschaft ablehnt. Sie strebt eine Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen an, die vom Regime Putin offensichtlich und schon aus Gründen des eigenen Machterhalts, bekämpft wird.
Um zu verhindern, dass die EU an Bedeutung verliert, braucht es ein Europa, das gegenüber dem Kreml selbstbewusst seine Werte verteidigt. Es wäre deshalb ein wichtiges Signal, wenn Ursula von der Leyen, die neu gewählte Präsidentin der EU-Kommission, bald nach Kiew reisen und die Unterstützung der europäischen Gemeinschaft für die Ukraine bekräftigen würde.
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