Populismus im globalen Süden: Das Beispiel von Jair Bolsonaro
In Brasilien gibt es kaum Einwanderung. Der Islam spielt keine Rolle. Auch gibt es keine supranationale Institution wie die EU, an die Brasilien staatliche Kompetenzen abgeben würde. Dennoch hat sich auch in Brasilien ein nationalistischer Populismus durchgesetzt. Was verbindet Jair Bolsonaro mit Viktor Orbán und Donald Trump?
Europa erfuhr in den letzten zehn Jahren eine zunehmende Präsenz autoritärer populistischer Persönlichkeiten und politischer Plattformen. Prominente Persönlichkeiten übernahmen Spitzenpositionen in Regierungen. Der Anteil populistischer Parteien in den Parlamenten nahm zu.
Interessanterweise ist dieses Phänomen jedoch nicht nur auf den Westen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den Rest der Welt. Lateinamerika hat zum Beispiel genau die gleiche Art eines populistischen Aufstiegs erlebt, obwohl die Region bei weitem nicht so stark von Problemen betroffen ist, die von westlichen Nationalisten attackiert werden. Der Mercosur (Gemeinsamen Markt Südamerikas) oder die Organisation Amerikanischer Staaten haben noch einen langen Weg vor sich, um das Maß an Durchdringung und Wirkung zu erreichen, das mit der Europäischen Union vergleichbar wäre. Darüber hinaus stellen weder der Islam noch Einwanderung eine spürbare ‚Bedrohung‘ für die Hegemonie südamerikanischer Kulturen dar. Sie sind geografisch von Auswanderungsländer abgeschnitten, weisen kaum koloniale Verbindungen solchen Ländern auf und bieten weniger wirtschaftliche Anreize, die Einwanderer von außen anziehen. Trotzdem ist es populistischen Regimen gelungen, die Dominanz der Liberal- und Sozialdemokraten der frühen 2000er Jahre mit einer sehr ähnlichen Rhetorik wie in Europa zurückzudrängen.
Die ungleichen Voraussetzungen, die allerdings zu ähnlichen Ergebnissen führen, werfen uns ein interessantes Rätsel auf. Welche Verbindung könnte zwischen dem brasilianischen Jair Bolsonaro, dem ungarischen Viktor Orbán, dem US-amerikanischen Donald Trump und dem philippinischen Rodrigo Duterte bestehen, wenn alle bei oberflächlicher Betrachtung in so unterschiedlichen Realitäten operieren? Mit Blick auf den spezifischen Fall Brasiliens werde ich versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei werde ich eine Verbindung von Faktoren herausarbeiten, die diese Akteure vereinen, nämlich: (i.) Den Verlust an ‚Momentum‘ der sozialen oder klassischen liberalen Demokratien im letzten Jahrzehnt aufgrund der Umformung der Weltwirtschaft; und (ii.) die Instrumentalisierung der durch die Globalisierung verursachten Unzufriedenheiten durch populistische Rhetorik.
Die Erosion der Wohlfahrtsstaaten
Die Unsicherheiten und Unzufriedenheit derjenigen, die Populisten wählen, sowie das allgemeine Misstrauen gegenüber anderen gemäßigten Alternativen sind oft tief in der Gesellschaft verwurzelt und besitzen bis zu einem gewissen Grad demokratische Legitimierung. Politik ist gleichzeitig sowohl eine Reflexion ihres Kontextes als auch ein Beitrag zu dem Kontext selbst.
Der Kontext, der die beste Antwort auf das Rätsel zu geben scheint, ist der der Globalisierung der Volkswirtschaften. Sie ist sowohl ein Nebenprodukt des Nachkriegsengagements zur Schaffung friedlicher, voneinander abhängiger Gesellschaften durch multilaterale Abkommen als auch ein Ergebnis technologischen Fortschritts. Die Art und Weise, wie die Menschheit früher handelte, sich an Finanztransaktionen, Kommunikation und Bewegung rund um den Globus beteiligte, wurde revolutioniert. Diese Veränderungen schoben den Schwerpunkt der Volkswirtschaften vom Paradigma der inländischen Selbstversorgung auf das Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Arbeit als auch Kapital lassen sich heute global und frei gestalten, um die Ausgangsleistung und Gewinnspannen zu optimieren. Dieser Trend wurde darüber hinaus durch den zunehmenden Anteil internationalen Handels und von Auslandsinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt der meisten Nationen verstärkt.
In der Praxis bedeutete dies beispielsweise, dass arbeitsintensive Industrien ihre Gewinnmargen optimieren konnten, indem sie die Produktion dort ansiedeln, wo Arbeitskräfte billiger waren. Nationen, die versuchten, den Verlust von Industrien und die daraus resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Spannungen zu vermeiden, mussten Wettbewerbsbedingungen anbieten, die die Niederlassung solcher Industrien sicherstellt. Die Schaffung solcher Bedingungen führte wiederum zu Steuervergünstigungen, einem leichteren Zugang zu Kreditlinien und natürlich zu einer Reduzierung der Arbeitskosten. Die ersten beiden Maßnahmen bedeuten möglicherweise, dass der Staat weniger Steuereinnahmen generieren könnte und daher gezwungen wäre, seine eigenen Budgets zu kürzen und damit seine Spielräume reduziert, um sich auf diese neue Realität einzustellen. Die Reduzierung von Arbeitskosten bedeutet, dass möglicherweise einige Arbeitsrechte zurückgenommen werden müssten, um die wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers zu verringern und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen zu verbessern.
Am Ende dieser Entwicklung gab es eine neue globale Ordnung, die ihre Mitglieder viel stärker miteinander verband und viel reaktiver auf Markttrends reagieren ließ. Nach Jahrzehnten der „Leistungsoptimierung“ wurde viel Wohlstand geschaffen und ein Teil davon ist von den Kapitaleigentümer zu den Arbeitern „heruntergesickert“. Allgemein betrachtet wurde die Armut rund um den Globus verringert. Dies geschah aber auf Kosten der Wohlfahrt, da jetzt die Staaten weniger Kapazitäten hatten, Sicherheitsnetze anzubieten. Arbeitsrechte konnten nur auf einem wettbewerbsfähigen Minimum realistisch gewährt werden. Obwohl diese Transformationen in gewissem Sinne eine wirtschaftliche Entwicklung ermöglichten, verursachten sie zugleich auch materielle Unsicherheit und Ressentiments in der Bevölkerung. Sie richteten sich insbesondere gegen den Staat, der sich als progressiv nachlässig erwies. Diese Stimmung war eine Steilvorlage für Populisten.
Umwandlungen im Süden
Eine populäre Annahme vielen Menschen aus Industrieländern ist, dass die Entwicklungsländer die Vorteile des Globalisierungsdeals erbten. Angeblich wanderten Investitionen und einheimische Unternehmen von den Industrieländern in die Entwicklungsländer ab, und diese hätten weitgehend davon profitiert. Dies gilt zwar mit Vorbehalt für manche Entwicklungsländer. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie bis vor kurzem ein jährliches BIP-Wachstum von 10% erzielen und Millionen ihrer Bürger wurden der Armut entrissen. Diese Einschätzung bleibt jedoch unvollständig.
Im Gegenteil bemerkten die meisten Entwicklungsländer schnell, dass ihre im Aufbau befindlichen Industrien wieder verschwanden, als ihre Märkte von billigeren und qualitativ hochwertigeren Waren überflutet wurden, die wieder anderswo hergestellt wurden. Dadurch wurden sie stärker vom Handel abhängig und konsolidierten sich als Rohstoffhersteller. Ein großer Teil des von eingewanderten Unternehmen produzierten Reichtums wurde häufig an ausländische Investoren und deren Heimatländer zurückgeführt. Die bestehenden Ungleichheiten wurden verstärkt, selbst wenn sich die Armut insgesamt verringert. Darüber hinaus verblieben technologieintensive Industrien in ihren Heimatländern, da die hierfür nötigen qualifizierten Arbeitskräfte sich noch dort konzentrierten. Nur einfachere Teile der Produktionskette gingen in die Entwicklungsländer des Südens.
Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutete nicht, dass der Globus nun gemeinsam an einem Tisch saß und Arbeit und Kapital gleichmäßig verteilte. Die Verteilung von Arbeit und Kapital wurde nun lediglich nach internationalen und nicht länger nach nationalen Kriterien organisiert. Der Norden dominierte für den größten Teil der Nachkriegszeit über 70% des weltweiten Handels.
Das heißt, die Vorteile der Globalisierung für den Süden werden von globalen Norden oft überschätzt. Obwohl Entwicklungsländer mit starken Primärsektoren besser als diejenigen, die in der Nachkriegszeit auf die Entwicklung ihrer Sekundärsektoren gesetzt hatten, mit der Globalisierung zurechtkamen, blieben sie weiterhin für dieselben globalisierten Trends des internationalen Handels und die Folgen der Vernetzung der Märkte anfällig. Folglich überrascht es nicht, dass beide Hemisphären in engen Zeiträumen Wirtschaftskrisen und das Auftreten des autoritären Populismus ertragen mussten.
Nährboden für (Neo-)Populismus
Natürlich ist materielle Not nicht der einzige Faktor, der zu antidemokratischen Einstellungen führt. Wenn wir zum Beispiel den Aufstieg von jemandem wie Hugo Chavez an die Macht analysieren wollten, müssten wir viele Überlegungen zum politischen System Venezuelas anstellen. Das Land ist bekannt dafür, lähmende Defizite der demokratischen Repräsentation aufzuweisen, die von abgehobenen Parteien und einer vom Petrodollar abhängigen Patronage verursacht wurden. Dennoch scheint der wirtschaftliche Aspekt immer noch der stärkste Prädiktor für die wachsende Sympathie für autoritäre Persönlichkeiten zu sein. Jemand wie Chavez wäre wahrscheinlich nie aufgestiegen, wenn seine Vorgänger in den neunziger Jahren wirtschaftspolitisch nicht dauerhaft versagt hätten.
Unter den beschriebenen Umständen dringen selbst in den funktionsfähigeren politischen Systemen populistische Parteien in die Parlamente vor. Mit etwas Pech wird das System in dem Maße gestört, das eine explizit autoritäre populistische Regierung möglich wird. Dies wird insbesondere dann wahrscheinlich, wenn sich die Opposition wegen Streitigkeiten zersplittert oder nicht vermag, die Wähler in vergleichbarem Maße wie die populistischen Bewegungen zu mobilisieren.
Der Aufstieg Jair Bolsonaros zur Präsidentschaft
Jair Bolsonaro war die meiste Zeit seines Lebens ein unscheinbarer Abgeordneter des Parlaments, lediglich bekannt für seine Treue zu seiner Corporation (das Militär), und für seine gelegentliche Polemik im Form von sehr offen rassistischen, frauenfeindlichen oder auch geschichtsrevisionistisch Äußerungen, die diverse lateinamerikanischen Diktaturen verherrlichen. Er blieb ohne bedeutende Beiträge, politischen Einfluss oder Führungsqualitäten ein niederrangiger und obskurer Politiker, der sich damit begnügte, seine Freunde und die ganze Familie in der öffentlichen Verwaltung zu beschäftigen. In den Jahren vorn 2015 änderte sich jedoch alles.
Eine Mischung aus schlechtem Timing und grobem Missmanagement führte das Land zu seiner schwersten Wirtschaftskrise seit den 1980er Jahren, das als Lateinamerikas „verlorenes Jahrzehnt“ galt. Die Krise beendete einen seit 1999 andauernden Aufstieg. Brasilien gedieh zuvor aufgrund seiner Annäherung an China und eines ziemlich günstiger Rohstoff-Superzyklus (der „Rohstoffboom der 2000er Jahre“). In den 2010er Jahren ging die Nachfrage aufgrund der globalen Rezession zurück. Die Wirtschaftsziele Chinas verschoben sich hin zu einer Autonomie gegenüber ausländischen Rohstoffen. Die von der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff geführte Regierung tat sich schwer damit, wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Sie griff auf kreative Buchhaltung zurück, um den Verpflichtungen der Sozialprogramme ihrer Partei nachzukommen. Die Aufdeckung dieser finanziellen Verstöße führte zum Sturz der Präsidentin, zu mehreren Koalitionsbrüchen und zu parlamentarischem Stillstand. Diese Entwicklungen machten eine wirtschaftliche Erholung schwierig und konfliktreich. Darüber hinaus sorgten die folgende Rücknahme von Wohlfahrtsprogrammen sowie die herrschende Wahrnehmung von Verwaltungsversagen und Korruption selbst bei den stärksten Unterstützern der Regierung für Ressentiments und Apathie.
In diesem Moment rückt sich Bolsonaro mit komisch wirkenden und grotesken Kommentaren ins Rampenlicht. Er ergriff die Gelegenheit, vereinfachende und radikale Lösungen anzubieten und sich als völlige Antithese dem, „was da draußen war“, darzustellen. Er prahlte mit seiner Verbindung zum Militär und befeuerte triviale Gefühle des Verrats durch die Eliten. So konnte er die Wähler davon überzeugen, dass er ein „guter Bürger wie Du und ich“ sei und die Dinge wieder in Ordnung bringen könne. Viele sahen seine Unhöflichkeit nicht als Ausweis für die Barbarei seiner Ansichten, sondern für sein tief empfundenes Engagement für die Nation. Wie wir habe auch er genug von allem und die Zeit sei vorbei, in der man sich hinter der unaufrichtigen Höflichkeit der traditionellen Politik verstecken konnte. Die Tatsache, dass er sein Leben lang unbekannt und unauffällig geblieben war, spielte ihm nur in die Hände. So konnte er seine Fassade trotz unabweisbarer biografischer Widersprüche aufrechterhalten.
Wie nicht anders zu erwarten, eroberten Bolsonaro mit seiner reaktionären Agenda mit den Wahlen 2018 das Land auf allen Ebenen und in allen Gewalten.
Die Schaffung des illiberalen Liberalen
Eine besondere Herausforderung bestand für Bolsonaro darin, eine politische Agenda und Narrative zu erfinden, die unterschiedliche von der globalen Krise verursachten Unzufriedenheiten zusammenbringt. Für ihn war es ein Glücksfall, dass ein Teil davon bereits in einer anschaulichen populistischen bzw. alt-right-„Anleitung“ zusammengefasst worden war und direkt unter dem Einfluss von Steve Bannon, Trumps umstrittenen Strategen, eingeführt wurde.
Bolsonaro war in der Lage, drei einflussreiche Gruppen der brasilianischen Gesellschaft zu mobilisieren, nämlich (i.) die Neo-Pfingst-Evangelikalen, (ii.) Streitkräfte und Militärangehörige sowie (iii.) Ultraliberale und Großgrundbesitzer. Als vierte, wenn auch weniger konstante Unterstützergruppe können die allgemein Unzufriedenen gelten. Bolsonaro konnte letztere jedoch weniger durch konkrete Angebote, als durch das Versagen Opposition für sich gewinnen.
Der wichtigste Mobilisierungsfaktor war der durch den Globalisierungsprozess ausgelöste kulturelle Wandel. Dieses Thema wird von Sozialtheoretikern als Idee der „posttraditionellen Gesellschaften“ behandelt. Verkürzt gesagt bedeutet diese These, dass die in den vorhergehenden Abschnitten erörterten globalen Veränderungen zu einer erheblichen Verstädterung führen, die wiederum Gesellschaften hervorbringt, die im Zuge der zunehmende Bedeutung von Industrie, Handel und digitalen Medien besser ausgebildet, wissenschaftlich leistungsfähig und interkulturell sind. Im Ergebnis entsteht eine Gesellschaft, die selbstreflexiver und in der Lage ist, alte Traditionen zu hinterfragen, oder nur diejenigen beizubehalten, die mit diesem neuen Werterahmen kompatibel sind. Negative Einstellungen beispielsweise gegenüber sexuellen oder ethnischen Minderheiten und dem fremden „Anderen“ werden mit der Zeit hinterfragt. Traditionalisten, die darauf beharrten, ihre Vorurteile aufrechtzuerhalten, werden mit Kritik bedacht. Für einige Bereiche der Gesellschaft, die stark mit Traditionen verbunden sind, wie Monarchisten oder orthodoxere religiöse Gruppen, bedeutet diese Entwicklung eine existentielle Bedrohung, beruht doch offensichtlich ein Großteil ihrer Macht auf der unhinterfragten Treue ihrer Anhänger.
Wie im Westen reagieren auch in Brasilien autoritäre Populisten auf diese Werteverschiebung mit Anschuldigungen gegen das intellektuelle Establishment. Eine angeblich „linksdominierte Wissenschaft“ würde die Bevölkerung einer Gehirnwäsche unterziehen, um entweder die westliche Zivilisation und die traditionelle Familie zu zerstören oder stillschweigend eine kommunistische Revolution ins Werk zu setzen. Da gegen die Vormachtstellung der wissenschaftlichen Erkenntnis wenig auszurichten ist, nutzen populistische Experten häufig Pseudowissenschaft oder veraltete Forschung, um das Establishments der angeblichen Heuchelei zu überführen und so verärgerte Traditionalisten in ihren Vorurteilen zu bestätigen. Themen wie Abtreibung, Gleichstellung der Geschlechter, gleichgeschlechtliche Ehe, Trans-Rechte, Sexualerziehung und Klimawandel sind Gegenstände, die sich gut für diese Zwecke eignen und polemisch zuspitzen lassen. Auf lokaler Ebene spielt historischer Revisionismus mit Blick auf Sklaverei, das brasilianische Reich und das Militärregime eine wichtige Rolle für die Wiederherstellung der Idee einer glorreichen, unbelasteten Vergangenheit. Mit einem Mal sahen Evangelikale, Militärs, Großgrundbesitzer und Monarchisten ihre Würde und kulturelle Bedeutung wiederhergestellt.
Eine Besonderheit des brasilianischen Neopopulismus im Vergleich zur europäischen Variante ist die Konzentration auf den inneren Feind, um die Rhetorik „Wir gegen Sie“ zu bedienen. Der Feind wird auf lockere Weise mit dem Kommunismus in Verbindung gebracht. Es zeigt sich eine Art McCarthyismus. Dem Feind wird unterstellt, veralteten und vermutlich genozidalen Ideen anzuhängen, vom linken globalen Establishment manipuliert zu sein und das nationale Interesse aus den Augen verloren zu haben. Abgesehen vom Mainstream-Obskurantismus (etwa Verschwörungstheorien vom sog. „Kulturmarxismus“, über George Soros oder den Deep State) richten Bolsonaristas ihre Schmähungen gegen das Forum von Sao Paulo, einer Vereinigung lateinamerikanischer Parteien, die sich der Integration der Region verschrieben haben. Ein weiteres Feindbild ist der Bolivarianismus, eine andere lose definierte Ideologie, inspiriert vom lateinamerikanischen Befreiungskämpfer Simón Bolivar.
Die Verbindung der Bolsonaristas zu Ultraliberalen rührt teilweise von daher. Sie beruht aber auch auf der Tatsache, dass die Ultraliberalen die Antithesis zur früheren Verwaltung darstellen. Die bolsonaristische Lesart der Krise von 2015 legt kein Wert auf Erklärungen, die internationale Zusammenhänge mit einbeziehen. Sie stellt allein auf die Schuld der Vorgängerregierung und der „korrupten alten Politik“ ab. Allem, was als Teil des Staats gilt, wird unterstellt, korrupt und ineffizient zu sein. Die Nation sei deshalb mit weniger Staat besser aufgestellt. So sollen z.B. keine Vorschriften oder Sozialprogramme zugelassen werden, die wichtige Marktkräfte verzerren. Selbstverständlich bilden die bewaffneten Kräfte hierbei die einzige Ausnahme. Schließlich kämpfen sie direkt gegen Korruption und Kriminalität.
Einige der Unzufriedenen sind mit der völligen Annullierung der Sozialpolitik des Staates nicht einverstanden. Aber die Brasilianische Arbeiterpartei von Lula da Silva und Dilma Rousseff war als Alternative abschreckend genug, um die Stimme dann doch dem Bolsonarismus zu geben.
Fazit
Der traditionalistische, nationalistische und libertäre Populismus der 2010er Jahre, der von Bolsonaro und anderen praktiziert wird, trägt viele Spannungszentren in sich. Nach weniger als eineinhalb Jahren im Amt hatte Bolsonaro bereits seine Koalition gesprengt, die wichtigsten Minister verloren und seine eigene Partei verlassen. Er säte Zwiespalt zwischen den Machtzentren, einschließlich der Exekutive selbst. Infolge eines ungerechtfertigten, ideologischen Kreuzzug gegen Kommunisten und Muslime und einer unerschütterlichen Treue zu Donald Trump kappte seine Regierung wichtige Verbindungen zu arabischen Ländern und China – zwei der wichtigsten Handelspartner Brasiliens. Auch innerhalb Bolsonaros Unterstützungsbasis kam es zu Zerwürfnissen. Evangelikale und Traditionalisten billigten sein Vorgehen, während Ultraliberale drohten, die Regierung zu verlassen, da sie pragmatischere Absichten für die Wirtschaft verfolgten. Folgerichtig hat Bolsonaro keine wesentlichen Wirtschaftsreformen zustande gebracht und ist nun gezwungen, sich zu hohen politischen Kosten mit den von ihm verunglimpften Zentrumsparteien zu arrangieren.
Dennoch bleibt die Lehre für den Teil der Welt, der immer noch an den inhärenten Wert der liberalen Demokratie glaubt: Die Menschen sind desillusioniert und verunsichert über die Zukunft der globalisierten Welt. Wenn auf internationaler Ebene keine vernünftigen Durchbrüche erzielt werden (insbesondere beim Thema der Regulierung des Finanzsystems), um ihnen Sicherheit und gleichzeitig Vertrauen in das politische System zurückzugeben, könnten die Tage friedlicher Interdependenz und demokratischer Rationalität gezählt sein. Demokraten müssen sich zusammentun und Kompromisse schließen. Sonst wird die Art von Verfassungskrise, wie sie derzeit Brasilien erlebt, um sich greifen und die Lösung wahrscheinlich weder einfach noch harmlos sein.
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