Tödliches Duell in Belarus: Lukaschenka gegen das Coronavirus
Der belarussische Präsident überlässt die Bekämpfung der Pandemie orthodoxen Priestern und dem KGB. In der Bevölkerung regt sich Unmut, weil die dramatische Lage trotz anders lautender Beteuerungen der Regierung nicht länger zu übersehen ist.
Belarus war am Rande des Abgrunds, und ich habe geholfen, dass es einen Schritt vorwärts macht.
Aljaksandr Lukaschenka (Auszug aus einer Rede)
Aljaksandr Lukaschenka ist offensichtlich überzeugt, als Präsident von Gottes Gnaden erwählt zu sein. Der Junge, der ohne Vater in einem sehr kleinen patriarchalischen Dorf aufwuchs, wollte sich selbst als eine Art Jesus sehen, der das „Gott erwählte“ Belarus vor dem Bösen der Welt zu retten hat. Als die Menschen zum orthodoxen Osterfest 1996 den traditionellen Ostergruß „Jesus ist auferstanden!“ riefen (worauf die Antwort „Er ist wahrlich auferstanden“ zu lauten hat), verbeugte sich Lukaschenka mit der Hand auf dem Herzen und dankte ziemlich aufrichtig: „Danke, ich danke Euch!“ Mit den Jahren ist sein Glaube an seine Gottesgnade weiter gewachsen. Als nach einer schweren Dürre 2000 der Regen wieder einsetzte, verblüffte Lukaschenka die Belarussen mit der Erklärung: „Belarussen, ihr habt mich um Regen gebeten – ich habe euch Regen gegeben.“ Die Funktionäre in Belarus spielen diese Spiel nur allzu gern mit. Kanstanzin Sumar, der nach 2004 für 10 Jahre Vorsitzender des Brester Gebietsexekutivkomitees war, erklärte bei einem Treffen während landwirtschaftlicher Arbeiten seine Ergebenheit gegenüber dem Präsidenten: „Aljaksandr Lukaschenka. Sie stehen ein bisschen über Gott.“
Es ist deshalb wenig überraschend, dass Aljaksandr Lukaschenka das Coronavirus nicht ernst nahm, als er der verängstigten Bevölkerung erklärte: „Der Herr möge Belarus vor dem Coronavirus beschützen. Wir haben bereits viele Menschen verloren, jeder dritte Belarusse ist im Zweiten Weltkrieg gestorben, das Land war dem Erdboden gleichgemacht, viele Menschen sind als Krüppel aus dem Krieg zurückgekehrt.“
Reliquien, Weihwasser und Gebete gegen das Corona-Virus
Die Regierung mobilisierte vor allem orthodoxe Priester zur Bekämpfung des Coronavirus. Am 1. März 2020 trugen orthodoxe Priester die Reliquien des Märtyrers Kanstanzin Schdanau zu Einrichtungen und Unternehmen in Nawapolazk. Sie wurden vielfach geküsst. Ein Ausbruch von Covid-19 in Nawapolazk war die Folge.
Am 22. März 2020 griffen die orthodoxen Priester dann zu schärferen Methoden. Sie besprenkelten die Hauptstadt Minsk von einem Hubschrauber aus mit Weihwasser. Pawel, der Metropolit von Minsk und Saslawl und Exarch der Belarussischen Orthodoxen Kirche, leitete persönlich diese „Operation“.
Da auch dies offensichtlich nicht half, flogen am 2. April 2020 Vertreter der Belarussischen Orthodoxen Kirche mit Kopien von Reliquien mit dem Flugzeug die belarussischen Grenzen ab – mit dem Kreuz der Euphrosyne von Polazk, der Ikone der Gottesmutter von Schirowitschi und einem Kruzifix. Dabei sprachen sie ein Gebet, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Der Flug dauerte über vier Stunden. Die drei größten Städte des Gebietes Wizebsk waren hiervon ausgenommen. Doch auch hier verließ man sich eher auf die Kraft der Reliquien. Auch das in Bau befindliche Belarussische Atomkraftwerk nahe der litauischen Grenze in Astrawez wurde bei dem Flug ausgespart, weil selbst Gottes Stellvertreter auf Erden kein Flugzeug in die Nähe von strategisch wichtigen Einrichtungen steuern dürfen.
Der Flug über Belarus geriet ungewollt zur Farce: Die Priester hatten ein Flugzeug Namens „Pilatus“ gechartert. In den sozialen Netzwerken wird bereits gescherzt: „Das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche von Belarus unternahm eine ‚Kreuzprozession zu Luft‘, mit einem Flugzeug, das nach dem benannt wurde, der Christus kreuzigen ließ!“
Die Kirche ließ es jedoch nicht dabei bewenden. Seit dem 4. April 2020 wird bis zum Ende der Epidemie in orthodoxen Kirchen die große Glocke vier Mal täglich zwölf Mal geschlagen. Danach sollen alle Glocken zehn Minuten lang läuten. Während des Läutens sprechen Priester ein Gebet für ein Ende der Corona-Epidemie.
Offiziell ist von „Lungenentzündungen“ die Rede
„Bete zu Gott, aber steuere lieber das Ufer an“, sagt man in Belarus. Deshalb wendet das Regime auch ganz irdische Methoden an – die Einschüchterung derjenigen, die die Wahrheit erzählen könnten, sei sie nun göttlich oder profan. Ärzte werden gezwungen, Verschwiegenheitserklärungen zu unterschreiben, und der KGB und andere Polizei- und Justizbehörden drohen mit Strafverfahren, sollten Informationen über Coronapatienten an die Öffentlichkeit gelangen. Eine Welle heftiger Repressionen wandte sich gegen Blogger und Journalisten, insbesondere YouTuber waren betroffen. Die vom belarussischem Gesundheitsministerium veröffentlichten Statistiken sorgen bei den Menschen nur noch für hysterisches Gelächter, weil klar ist, dass diese Zahlen nichts mit der Realität zu tun haben.
Den traurigen Anfang machte die Gebietshauptstadt Wizebsk. Eine Gruppe von Menschen, die dem Wizebsker Oligarchen Mikolaj Martynau nahesteht und während der Mailänder Modetage die italienische Stadt und deren Umgebung besucht hatte, brachte am 1. März 2020 das Coronavirus nach Wizebsk. Da sie noch keine Symptome zeigten, trafen sie sich mit Vertretern der höheren Verwaltungsebene des Gebietes sowie mit Wirtschaftsführern, mit Verwandten, übergaben Geschenke aus Italien, gingen ins Theater… Als sie ernstlich erkrankten, waren die Chefärzte der medizinischen Einrichtungen umgehend zu Diensten, weil der Status der Patienten dies verlangte.
Superverbreiter haben so für einen Superausbruch der Krankheit gesorgt, auch unter Ärzten, obwohl sie offiziell natürlich alle an Lungenentzündung erkrankt sein sollen. Mikolaj Martynau befand sich bis zum 9. März 2020 im kritischen Zustand auf einer Intensivstation und war auf ein Beatmungsgerät angewiesen. Es scheint, dass in der Stadt eine unerwartete Lage entstanden ist. Angesichts des Coronavirus – oder den Behörden zufolge: „angesichts von Lungenentzündungen“ – werden immer mehr Krankenhäuser und Krankenhausabteilungen zur gesonderten Behandlung bestimmt. Fünf medizinische Einrichtungen wurden zur Aufnahme von Coronapatienten umgestaltet. Lebenserhaltende Geräte lassen sich an den Fingern abzählen. Es ist sogar so, dass Freiwillige versuchen, solche Geräte und andere Mittel aufzutreiben. Alles ist voll mit Patienten, sogar die psychiatrische Klinik und die Tuberkulosestation. Tatsächlich ist das Gebietskrankenhaus das einzige gewöhnliche Krankenhaus in der Stadt, das noch Patienten mit anderen Krankheiten aufnimmt. Aber anscheinend gibt es kaum Zeit, sie zu behandeln. Einige der „Verdächtigen“ wurden sogar aufs Land verschickt, nach Krupenino, wo das noble Sommerhaus des Präsidenten steht. Dort wohnen bisweilen Lukaschenka und seine Gäste, etwa Wladimir Putin, wenn er im Sommer während des Festivals „Slawischer Basar“ nach Wizebsk kommt.
Die Wizebsker Gebietskinderklinik hat die Anschaffung luftdichter Körpersäcke ausgeschrieben. In ganz Belarus nähen Freiwillige massenhaft Gesichtsmasken und sammeln Gelder für Ärzte. Es fehlt an Masken und Schutzausrüstungen für das Personal.
Nach Wizebsk ist nun allmählich das ganze Land unruhig geworden. Informationen über Krankheitsfälle verbreiten sich. Die Menschen glauben Gerüchten, aber nicht den offiziellen Stellen. In einer Reihe kleiner Städte gibt es nicht mehr genügend Plätze für Coronapatienten; sie werden jetzt in größere Städte verlegt.
Einschüchterung durch den KGB
Die Bevölkerung, die vor der Polizei, dem KGB und anderen Behörden Angst hat, blieb zwei Wochen lang still. Letztendlich gab es aber derart viele Fälle von „Lungenentzündung“, dass die Lage nicht länger zu verbergen war. Anfangs konnte der KGB offensichtlich noch erfolgreich den Ehemann der 58-jährigen Tatsjana Chusejewa einschüchtern. Sie war das erste bekannte Opfer, das an „Lungenentzündung“ gestorben war. Ihre Beerdigung musste in einem verschlossenen Sarg stattfinden, was nicht dem Brauch entspricht. Gäste duften nicht teilnehmen. Die Angehörigen beklagten sich gegenüber unabhängigen Journalisten, dass ihnen ein würdiger Abschied versagt worden sei, und stellte Vermutungen über das Corona-Virus an, da sie getestet und unter Quarantäne gestellt worden seien.
Am 21. März 2020 instruierte Aljaksandr Lukaschenka den KGB-Chef Walerij Wakultschik “unerbittlich mit den Schurken umzugehen, die Lügen über COVID-19 verbreiten”. Als Reaktion veröffentlichten unabhängige Medien die Transkripte der Interviews mit den Angehörigen der verstorbenen Frau, um die Korrektheit ihre Berichterstattung zu belegen. Dennoch erklärte das Gesundheitsministerium öffentlich, dass die Frau nicht am Coronavirus gestorben sei. Ihr Ehemann wurde verwirrt, “vergaß” das Datum ihrer Krankenhauseinweisung und wollte sich nun erinnern, dass der Sarg doch geöffnet gewesen sei. Die Erfahrung zeigt, dass wenn Angehörige plötzlich verwirrt werden und ihre Aussagen ändern, insbesondere, wenn Lukaschenka mit „unerbittlicher Behandlung“ droht, dass dann die „Behandlung“ bereits stattgefunden hat. Es gibt weitere Berichte über Einschüchterungen von Erkrankten und Angehörigen durch den KGB.
Der Repressionsapparat bekommt Funktionstörungen
Jetzt aber gibt es mehr und mehr Tote, und die Stimmen entrüsteter Verwandter werden lauter. Ärzte und sogar Angehörige des Machtapparates beginnen zu sterben. Der Repressionsapparat bekommt langsam Funktionsstörungen. Natalja Larionawa, Ärztin am Wizebsker Notfallkrankenhaus, die als erste Ärztin namentlich mitteilte, was sich in den Krankenhäusern von Wizebsk abspielt, wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Für gewöhnlich enden solche Vorladungen mit einer staatsanwaltschaftlichen Verwarnung und der Androhung von Repressionen. Allerdings erließ die Staatsanwaltschaft diesmal keinerlei Verwarnungen, und nicht einmal von Drohungen gegen die Ärztin war zu hören, was für Belarus sehr ungewöhnlich ist.
Aljaksandr Lukaschenka kommentiert die offiziell in Belarus verzeichneten Todesfälle durch das Coronavirus, in dem er die Verstorbenen beleidigt und entwürdigt. Für die Angehörigen hat er kein Wort des Beileids übrig. Stattdessen beschuldigt er die Verstorbenen, die Statistiken zu verschlechtern. Über eine Person sagte er: „Wie kann man so leben? Ein Gewicht von 135 Kilo! Das Herz arbeitet kaum noch, hier tut es weh, da tut es weh, ein ganzes Bündel von Krankheiten.“ Den sehr angesehenen Schauspieler Wiktar Daschkewitsch, der in Wizebsk verstorben war, nannte Lukaschenka einen „armen Kerl“, der aus irgendeinem Grund „auf die Straße geht und auch noch arbeitet“. Dabei war der 75-jährige Schauspieler zur Arbeit gezwungen, weil das Wizebsker Theater von den Behörden nicht unter Quarantäne gestellt worden war. Das Theater ist übrigens immer noch geöffnet.
Besonders empört die Leute, dass, während Aljaksandr Lukaschenka kein Wort des Mitleids für die Coronapatienten übrig hat, er liebevolle und bewundernde Worte für junge Ziegen findet, die jüngst auf dem Bauernhof des Präsidenten geboren wurden. Er erklärte Ziegen zum „besten Heilmittel gegen das Coronavirus“ – nach Wodka, Sauna und Traktoren. Schließlich fügte er der „Liste medizinischer Empfehlungen gegen das Virus“ weitere hinzu: „Rauch atmen und brennendes Lagerfeuer“.
Unter dem Hashtag „letzte Worte des Präsidenten“ entwickelte sich im Internet ein sarkastisches Meme. Leute schreiben abwertende Todesanzeigen über sich selbst, um zu zeigen, wie Lukaschenka sie beleidigen würde, sollten sie am Coronavirus sterben.
Die Formulierung „letzte Worte des Präsidenten“ birgt aber auch eine andere Bedeutung. Es könnten die letzten Worte zu seinem Abschied sein – vor dem Abgang.
Es scheint, als ob Belarus endlich beginnt, sich von seinem langjährigen Präsidenten zu verabschieden.
Aus dem Englischen übertragen von Harmut Schröder.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.