Ukraine: Warum Corona in den „Volksrepubliken“ besonders gefährlich ist
Im Osten der Ukraine liegt eine der gefährdetsten Regionen für die Coronapandemie überhaupt. In den von Russland abhängigen „Volksrepubliken“ sind fast 50 Prozent der Einwohner im Rentenalter – so viele wie wohl nirgends sonst auf der Welt.
In den von Russland kontrollierten „Volksrepubliken“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk könnte die Seuche verheerende Auswirkungen haben. Bisher (Stand 27. April) gibt es dort gerade mal 148 bestätigte Fälle – 78 in Donezk und 70 in Luhansk – und drei Tote. Bei einer angenommenen Bevölkerungszahl von 2,5 Millionen (die genaue Zahl ist wegen des großen Exodus seit Konfliktbeginn unbekannt) entspricht das 6 Fällen pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In der Ukraine sind es 22 Fälle pro 100.000, in Russland 55. Aber das Risiko eines unkontrollierbaren Ausbruchs ist groß.
Zum einen ist die Bevölkerung extrem überaltert. Offiziell leben in den zwei „Republiken“ mehr als eine Million Rentner, fast 50 Prozent der Einwohner – wahrscheinlich Weltrekord. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Anteil der über 65-Jährigen 22 Prozent, in der Ukraine sind es zwischen 20 und 25 Prozent. Diese Altersstruktur ist eine direkte Folge des seit 2014 andauernden Konflikts mit Russland und der von Moskau organisierten Machtübernahme der Separatisten im selben Jahr – beides hat viele arbeitsfähige Menschen zum Wegzug genötigt, während Alte und Kranke oft zurückblieben.
Gleichzeitig sind die Gesundheitssysteme vor Ort von Krieg und Armut ausgezehrt, Ärzte verdienen umgerechnet weniger als 150 Euro im Monat, was zu einem massiven Brain-Drain geführt hat: Die „Gesundheitsministerinnen“ in Donezk und Luhansk klagen offen darüber, dass ihnen jeweils 5.000 Ärzte fehlen. In den Krankenhäusern sind Schutzkleidung und Masken Mangelware.
Aber damit nicht genug. Die Separatisten weigerten sich wochenlang, angemessen auf die Gefahr zu reagieren. Teilweise tun sie es immer noch. Während in der Ukraine und Russland Kindergärten, Schulen und Universitäten ab Mitte März geschlossen wurden, ging das Leben in den „Volksrepubliken“ zunächst weiter wie bisher. Die De-facto-Behörden wurden nicht müde zu betonen, dass es bei ihnen keinen einzigen bestätigten Coronafall gebe.
COVID-19 Maßnahmen in den „Volksrepubliken“
Quarantäneregeln wurden in Donezk ab Mitte März eingeführt, Schüler und Studenten mussten ab 19. März zu Hause bleiben. In Luhansk wurden zunächst praktisch gar keine Maßnahmen eingeführt. Erst am 28. März wurden plötzlich Restaurants, Läden, Theater und Museen geschlossen, Schulen und Universitäten ab 30. März. Dafür dürfen in Donezk Restaurants und Cafés bis auf weiteres offenbleiben – jedenfalls tagsüber bis 18:00 Uhr. Kindergärten bleiben weiterhin geöffnet.
Bei Grenzschließungen handelten die Separatisten auch zögerlich und uneinheitlich. Während die Übergänge von der „DNR“ zu den regierungskontrollierten Gebieten an der „Kontaktlinie“ sowie nach Russland schrittweise ab 17. März geschlossen wurden, schloss die „LNR“ den einzigen Übergang in die regierungskontrollierte Ukraine, die Fußgängerbrücke in Stanyzia Luhanska, am 23. März. Noch bis Februar zählten die Vereinten Nationen hier knapp eine Million Übertritte pro Monat – überwiegend Rentner, die sich ihre ukrainischen Pensionen auf regierungskontrolliertem Gebiet auszahlen ließen.
Die Übergänge zwischen der „LNR“ und den russischen Grenzorten Donezk und Gukowo blieben dagegen weiter offen. Als ihre Schließung am 8. April angekündigt wurde, hieß es, dass Busse mit Einheimischen, die ihre neuen russischen Pässe in der benachbarten Region Rostow abholen, ausgenommen seien. Erst zwei Tage später erkannte man, dass das wohl keine gute Idee war und teilte mit, dass das Staatsbürgerschaftsprogramm erstmal ausgesetzt sei.
Befürchtungen, dass die Quarantänevorgaben der Separatisten nicht oder nur teilweise eingehalten werden, bestätigten sich am 5. April, als sowohl in Donezk als auch in Luhansk die „Gesundheitsministerinnen“ besorgt mitteilten, dass mehrere infizierte Bewohner trotz Fiebers weiterhin zur Arbeit gegangen seien. In der „LNR“ wurden daraufhin mehrere Städte komplett abgeriegelt. Die „DNR“ zog es vor, gar nicht erst mitzuteilen, wo die Erkrankten leben. Ab 27. April wurde dann die Region am Asowschen Meer abgeriegelt – wohl um eine Verbreitung unter Urlaubern während der bevorstehenden Maifeiertage zu verhindern.
Wie viele COVID-19 Infizierte gibt es wirklich?
Wie hoch die Zahl der Infizierten wirklich ist, das ist auch in „normalen“ Ländern schwer festzustellen. Aber da die „Volksrepubliken“ der Ostukraine nicht bekannt dafür sind, dass sie bereitwillig über eigene Probleme berichten, wird über die Glaubwürdigkeit der Zahlen viel spekuliert. So erklärte der ukrainische Geheimdienst SBU am 4. April, dass in der „LNR“ bereits 13 Menschen mit Verdacht auf Coronavirus gestorben seien.
Und noch einen großen Unterschied gibt es zwischen den beiden „Volksrepubliken“, die zwar beide praktisch komplett von Moskau abhängig sind, sich aber kaum miteinander absprechen. In Donezk hat Separatistenchef Denis Puschilin in mehreren Ansprachen und Interviews bei der Bevölkerung um Verständnis für die Maßnahmen geworben. In Luhansk beschränkt sich sein Kollege Leonid Passetschnik dagegen auf wenige Erklärungen auf seiner Homepage sowie auf Twitter. Die Absage der für 9. Mai geplanten Siegesparaden zum 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs teilten beide Separatistenführer erst mit, als Putin sich am 16. April dazu durchgerungen hatte.
Geschlossene Grenzen und positive Propaganda
Hintergrund des Zögerns ist sicher die Erkenntnis, dass die „Volkrepubliken“ sich lange Quarantänemaßnahmen schlicht nicht leisten können. „DNR“-Chef Puschilin hat das offen zugegeben, als er am 3. April sagte, dass „unsere Wirtschaft von einer Epidemie sehr viel härter getroffen werden würde als andere Länder.“
Schon die Schließung der Übergänge zu den regierungskontrollierten Gebieten hat zur Folge, dass Hunderttausende nicht mehr ihre ukrainischen Renten abholen können, mit der sie ihre kümmerlichen „republikanischen“ Pensionen in Höhe von 4,800 russische Rubel (58 Euro) aufbessern. Nicht besser sieht es für die Industriearbeiter aus. Seit der 2017 bestehenden Wirtschaftsblockade zwischen ihnen und der restlichen Ukraine hängen die „Volksrepubliken“ komplett am Tropf Russlands, dem einzigen Markt, wo sie ihre Kohle, Eisen- und Stahlprodukte verkaufen können. Aber Russland ist derzeit selbst in einer sich täglich verschlimmernden Krise.
Dass die Lage ernst ist, geht ausgerechnet aus einem Video des eigentlich für positive Propaganda zuständigen Donezker „Informationsministeriums“ hervor. Darin erklärt Wladimir Paschkow, ein russischer Industrieller, der vergangenes Jahr zum einflussreichen stellvertretenden Regierungschef aufstieg, unumwunden dass die bisherigen Absatzmöglichkeiten versiegt sind: „Wir sind eine Kohleregion, aber wir können keine Kohle verkaufen“. Und er fügt hinzu, dass die „DNR“ lernen müsse, sich künftig selber zu ernähren.
In Luhansk hat Separatistenchef Passetschnik die „Reorganisation“ des Kohlesektors, also die Schließung unrentabler Minen, angekündigt, ohne jedoch Einzelheiten zu nennen.
Wie es für die „Volksrepubliken“ weitergehen wird, ist also völlig ungewiss. Die russischen Konvois, die noch 2019 wöchentlich Hilfsgüter und wohl auch Bargeld nach Donezk und Luhansk brachten, sind bereits seit dem Jahreswechsel nicht mehr gesehen worden. Seitdem die Separatisten in den Jahren 2015 und 2016 die ausländischen Hilfsorganisationen Medicins sans Frontieres und People in Need rausgeschmissen haben, sowie seit 2017 die Konvois des ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow nicht mehr reingelassen werden, sind das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sowie UN-Organisationen die einzigen, die noch Hilfslieferungen senden. Beim letzten dieser Transporte am 3. April wurde der örtliche ICRC-Leiter vom „DNR“-Informationsministerium interviewt – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Separatisten ahnen, dass sie künftig mehr Hilfe annehmen müssen, die nicht aus Russland stammt.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.