Libera­lismus neu denken: Brauchen wir einen „Libera­lismus der Furcht“?

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Der Libera­lismus zielt darauf ab, dass jeder Einzelne frei ist, seine eigene Lebens­ge­schichte zu schreiben, ungehindert durch die Furcht vor willkür­licher Gewalt und sozialer Not. Angesichts neuer innerer und äußerer Bedro­hungen für freie Gesell­schaften brauchen wir einen Libera­lismus, der verhindert,  dass Furcht zur dominie­renden Stimmungslage wird, argumen­tiert Amichai Magen.

Libera­lismus – ein Begriff, der lange Zeit großen konzep­tio­nellen Umdeu­tungen und Missbrauch unter­worfen war – ist eine politische Überzeugung, deren Vertreter sich dem Streben nach Wohlergehen der Menschen durch Ausübung indivi­du­eller Freiheiten, wirtschaft­licher Offenheit, beschränkter und egali­tärer Kontrolle durch Regie­rungen und Rechts­staat­lichkeit widmen. In ihrem Kern beruht sie auf Anerkennung von überra­gendem Wert und Würde jedes einzelnen mensch­lichen Wesens und letzt­endlich des Lebens selbst.

Die zentrale politische Mission des Libera­lismus besteht darin, die für die möglichst vollständige Verwirk­li­chung dieses überra­genden indivi­du­ellen Wertes und des damit verbun­denen einzig­ar­tigen mensch­lichen Poten­tials erfor­der­lichen Bedin­gungen sicher­zu­stellen. Demzu­folge lehnt er jegliche politische Doktrin und alle Regie­rungs­systeme ab, die diesen Unter­schied zwischen der Sphäre des Persön­lichen und der des Staates, zwischen dem Bereich des indivi­du­ellen Privat­lebens (einschließlich des Lebens in der Familie und der Gemein­schaft) einer­seits und dem staat­lichen Bereich anderer­seits nicht respektieren.

Der Libera­lismus verlangt als Mindestes, dass jeder Person gestattet sein muss, die Geschichte ihres Lebens selbst zu schreiben – ungehindert von Angst, Grausamkeit oder zerstö­re­ri­scher Einmi­schung – soweit dies mit der entspre­chenden Freiheit aller anderen Personen vereinbar ist. Die von den Einzelnen geschriebene Geschichte kann eine Helden­ge­schichte, eine bittersüße Komödie oder die Geschichte eines tragi­schen Versagens werden. Libera­lismus besteht nicht auf einem Happyend, aber er besteht darauf, dass die Einzelnen ihre Geschichte selbst schreiben dürfen.

Mit anderen Worten: Libera­lismus ist im Wesent­lichen eine unserer Zeit entspre­chende politische Suche nach einer Existenz, in der Menschen keine Angst haben müssen vor Vernichtung, willkür­licher Gewalt, unnötigem Zwang oder Verletzung dessen, was Isaiah Berlin in seiner typischen Unter­treibung als „ein bestimmtes Minimum persön­licher Freiheit, die auf gar keinen Fall verletzt werden darf“ bezeichnet.[1]

Der Libera­lismus der Furcht

Dieser „Libera­lismus der Furcht“ auf den Montes­quieu und Constant schon anspielten, der jedoch erst von Judith Shklar 1989 in ihrem brillanten Kapitel mit diesen Titel ausführlich behandelt und erforscht wurde, ist nicht die einzige Art im Stammbaum liberaler Tradi­tionen, bei der sich die Suche nach Ideen für eine liberale Erneuerung des einund­zwan­zigsten lohnen würde.[2] Shklar erkennt dies selbst an, indem sie auf andere Arten des Libera­lismus Bezug nimmt, insbe­sondere den „Libera­lismus der natür­lichen Rechte“ und den „Libera­lismus der persön­lichen Entwicklung“, die sich vom Libera­lismus des Furcht unter­scheiden.[3]

Ein weiterer Vorbehalt ist noch anzuführen, bevor ich mich der Aufgabe zuwende, eine Lanze für einen „Neuen Libera­lismus der Furcht“ als eine Möglichkeit der liberalen Erneuerung zu brechen. „Furcht“ ist oberflächlich betrachtet ein unattrak­tives Mittel für den liberalen Überreder. Der Geruch der Angst gilt norma­ler­weise als wider­wärtig. Hoffnung, Einhörner und das Versprechen freier Liebe sind verständ­li­cher­weise die bevor­zugten Marke­ting­in­stru­mente des politi­schen Wahrsagers.

Amichai Magen ist Dozent und Direktor des Programms für demokra­tische Resilienz und Entwicklung an der Lauder School of Government, Diplomacy and Strategy, IDC (Herzliya), Israel.

Der Libera­lismus der Furcht leidet demzu­folge unter einem ihm innewoh­nenden Marke­ting­problem. In diesem Sinne ist er ein wenig wie Isaiah Berlins Begriff der „negativen Freiheit“ – weise, aber nicht attraktiv.[4] Der durch­schnitt­liche Verbraucher politi­scher Ideen wird im Libera­lismus der Furcht keine kuschlige Bequem­lichkeit finden. Was ihn nach Shklars eigenen Worten von den anderen Arten des Libera­lismus unter­scheidet ist, dass er völlig „nichtu­to­pisch“ ist.[5]

Der Libera­lismus der Furcht schaut dem Schrecken geradewegs ins Gesicht und schaudert. Er ist sich der Abgründe, in die mensch­liche Wesen sinken können, und des Ausmaßes der Grausamkeit und Zerstörung, denen wir zerbrech­liche Menschen – insbe­sondere durch insti­tu­tio­na­li­sierte Gewalt – ausge­setzt werden können, aufs Deutlichste bewusst.

Der Libera­lismus der Furcht ist durch eine schreck­liche Beschei­denheit der Ansprüche gekenn­zeichnet. Es ist der Libera­lismus der Schadens­be­grenzung und des „gerade gut genug, um sich durch­zu­wursteln“. Es ist der Libera­lismus des Vermeidens von Auschwitz-Birkenau, der sowje­ti­schen Gulags und – in unserer Zeit – der Gewalt gegen die Jesiden, des Hungers der Jemeniten oder der Gefan­gen­lager in Nordkorea und Xinjiang. Sein wichtigstes und in mancher Hinsicht urtüm­liches Ziel besteht darin, uns darauf zu konzen­trieren, dass wir das Schlimmste, das uns geschehen könnte, vermeiden, statt anzunehmen, dass es irgendwie nicht dazu kommen wird oder uns von den verlo­ckenden, aber falschen utopi­schen Versprechen einer von Tragik freien Welt verführen zu lassen.

Ein Libera­lismus der Schadensbegrenzung

Der „neue Libera­lismus der Furcht“ beginnt damit, dass er die histo­rische Amnesie abschüttelt, die unsere Kultur seit 1989 durch­drungen hat. Zufrieden, selbst­ge­fällig und mehr als nur ein wenig naiv schlum­merten wir nach 1989 unter der warmen Decke des Triumphes – im Vertrauen darauf, dass das Ende der Geschichte gekommen wäre, dass sich  der Weg des morali­schen Universums unabwendbar der Gerech­tigkeit zuwenden würde und dass sich der Rest der Welt unaus­weichlich einer sich stetig ausbrei­tenden Liberalen Inter­na­tio­nalen Ordnung zuwenden würde

Unter dem Einfluss des Fukuyama-Komas wurde es dem Libera­lismus gestattet, zu stagnieren und zu verfallen. Ironi­scher­weise begingen wir Liberalen die Todsünde des Marxismus – die Sünde des histo­ri­schen Deter­mi­nismus. Wir ließen uns treiben und verspielten zum großen Teil die durch harte Arbeit errungene Friedens­di­vi­dende, die uns der Sieg in heftigen Kämpfen gegen Faschismus, Nazismus und Sowjet-Kommu­nismus im Laufe des blutigen zwanzigsten Jahrhun­derts einge­bracht hatte. Wir vernach­läs­sigten die Pflege der Tugenden, Werte und Insti­tu­tionen, von denen das Überleben moderner liberaler Demokratien abhängt – aktive und engagierte Bürger­be­tei­ligung, wirksames Funktio­nieren des Staates und leistungs­fähige öffent­liche Einrich­tungen, echte demokra­tische Rechen­schafts­pflicht, um sicher­zu­stellen, dass die Regie­rungen im Interesse der Mehrheit tätig sind, und Rechts­staat­lichkeit, um dieje­nigen zu zügeln, die ihre politische, wirtschaft­liche und kultu­relle Macht dazu nutzen, Zwang über die Übrigen auszuüben.

Auf diesem Weg haben wir viele unserer Mitbürger zurück­ge­lassen, denn wir haben törich­ter­weise das oberste Prinzip des modernen Libera­lismus außer Acht gelassen, nämlich dass die Zustimmung der Regierten die einzige solide Basis für eine funktio­nie­rende demokra­tische Ordnung ist. Wir geben vor, dass die dunklen Seiten der Globa­li­sierung entweder nicht vorhanden sind oder keine große Rolle spielen (dass sie bald durch das Wirken der Kräfte der liberalen Konvergenz verschwinden werden) oder dass sie allein durch die unsichtbare Hand des Marktes wirksam im Zaum gehalten werden könnten. Wir haben versäumt, mit sich beschleu­ni­gender Konnek­ti­vität, Komple­xität und zerstö­re­ri­schen angst­ein­flö­ßenden techni­schen Entwick­lungen Schritt zu halten. Wir haben es nicht geschafft, überzeu­gende liberale Lösungen für große, neu herauf­zie­hende Bedro­hungen zu entwi­ckeln, wie z.B. für den chine­si­schen Autori­ta­rismus, Umwelt­zer­störung, unkon­trol­lierte Migration, entstaat­lichte Regionen, Verbreitung von Kernwaffen, Pandemien, unkon­trol­lierte künst­liche Intel­ligenz und eine degra­dierte Infor­ma­ti­ons­öko­logie, die uns in die Gefahr bringt, dass wir unsere Fähigkeit, uns auf grund­le­gende wissen­schaft­liche und histo­rische Tatsachen zu einigen, verlieren.

Der „Neue Libera­lismus der Furcht“ fordert ein stark entwi­ckeltes histo­ri­sches Gedächtnis und eine auf geschicht­licher Grundlage aufge­baute Vorstellung von der Zukunft der Menschheit. Demzu­folge würde er die Geschichte wieder ins Spiel bringen, und zwar auf drei unter­schied­lichen Wegen:

Zum Ersten würde er unter Umschreibung dessen, was Hal Brand und Charles Edel schrieben, darauf bestehen, dass ein Verständnis für Tragik unabdingbar bleibt für Politik, Regie­rungs­kunst und die Erhaltung der Weltordnung.[6] Wenn wir vergessen, welche Zerbrech­lichkeit den liberalen Ordnungen innewohnt und wie sehr sie ständiger Vertei­digung, fortge­setzten Schutzes und stetiger Aktua­li­sierung bedürfen, werden wir unauf­haltsam Verges­senheit und Verfall anheimfallen.

Für die Moral der liberalen Ordnungen eintreten

Zum Zweiten würde er Zeit und Kraft inves­tieren, um Partei für die Moral (ja, Moral, nicht nur Effizienz) der liberalen Ordnungen zu ergreifen. Er würde stolz die seit Beginn der liberalen Ära und insbe­sondere in den vergan­genen Jahrzehnten bei allen Indika­toren für mensch­liches Wohlergehen dort wo liberale Werte und Einrich­tungen Wurzel gefasst haben, erreichten erstaun­lichen Fortschritte der Menschheit, darstellen und feiern. Er würde die fantas­ti­schen 3.000 Prozent Zuwachs des realen BIP seit 1800 für die ärmsten Menschen hervor­heben und zeigen, dass in den vergan­genen drei Jahrzehnten der größte Teil dieser „Großen Berei­cherung“ nicht im „weißen Amerika“ oder Westeuropa, sondern im sich libera­li­sie­renden Latein­amerika, Osteuropa, China, Indien und immer mehr auch Afrika stattfand.[7]

Der „Neue Libera­lismus der Furcht“ würde aktiv danach streben, gegen­wär­tigen und künftigen Genera­tionen die wahre Bedeutung der folgenden statis­ti­schen Angaben verständlich zu machen – als Zahl der verschonten, verbes­serten, berei­cherten und befreiten Menschen­leben: 1950 lag die Lebens­er­wartung weltweit bei unter 30 Jahren, heute beträgt sie 72,6 Jahre. 1950 betrug die Kinder­sterb­lichkeit 24. Das bedeutet, dass fast eins von vier Kindern vor Erreichen des fünften Geburts­tages starb. Heute sind es 4 Prozent. 1950 lebten 63,5 Prozent der Weltbe­völ­kerung in extremer Armut, heute sind es weniger als 9 Prozent. Und 1950 lebten nur 10 Prozent der Weltbe­völ­kerung in Demokratien, heute – auch nach eineinhalb Jahrzehnten weltweiten Demokra­tie­abbaus – leben 56 Prozent der Menschen in Demokratien.[8] Dies ist ein erstaun­licher Rekord materi­ellen und morali­schen Fortschritts. Dieser Fortschritt ist nicht perfekt, er ist unvoll­ständig und zerbrechlich, aber er ist auch unschätzbar gut und verdient unsere Dankbarkeit, unseren Schutz und ständige Weiterentwicklung.

Als Letztes ist hier anzuführen, dass der „Neue Libera­lismus der Furcht“ dafür eintreten würde, dass ein Neudenken des Libera­lismus auch eine Erwei­terung unserer Vorstel­lungen von Geschichte umfassen muss, und zwar nicht nur hinsichtlich der Vergan­genheit mit ihrer ständigen Wieder­holung von Erfolgen und Versagen, Triumphen und Verbrechen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft. Ein Neudenken des Libera­lismus muss eine Verpflichtung enthalten, wie sie Toby Ord in seiner wunder­vollen Widmung seinem Buch „The Precipice“ voran­ge­stellt hat: „Den hundert Milli­arden Menschen vor uns, die unsere Zivili­sation geschaffen haben; den sieben Milli­arden jetzt Lebenden, deren Handlungen mögli­cher­weise unser Schicksal bestimmen; den Trillionen nach uns, deren Existenz in der Waagschale liegt.“[9]

Leben in Furcht macht uns unfrei

Die Antwort auf die Frage ob wir in einer freien Gesell­schaft leben oder nicht, hängt nach dem Verständnis des „Neuen Libera­lismus der Furcht“ stark von der kollek­tiven Psycho­logie ab. Shklar schrieb „Wir fürchten eine Gesell­schaft ängst­licher Menschen“, denn syste­ma­tische Angst der Massen macht mensch­liche Freiheit unmöglich.[10] Wenn wir in Angst leben, sind wir funda­mental unfrei.

Hightech-Tyran­neien wie die von der chine­si­schen kommu­nis­ti­schen Partei angebotene können „effizi­enter“ sein als die Politik der Unvoll­kom­menheit, persön­lichen Wahlfreiheit und Unsicherheit, die der Libera­lismus bietet. Aber welchen Nutzen bringt eine solche Effizienz dem mensch­lichen Geist? Worin liegt ihr Sinn, wenn sie uns in eine riesige Kolonie ängst­licher, sich duckender Sklaven verwandelt? Ähnlich steht die Frage nach dem Sinn unserer mensch­lichen Zivili­sation, wenn wir unseren Planeten unbewohnbar machen oder es unkon­trol­lierter künst­licher Intel­ligenz gestatten, Amok zu laufen und uns in Sklaverei oder sogar Ausrottung zu stürzen. Der Neue Libera­lismus der Furcht blickt in diesen seelen­losen Abgrund möglicher dysto­pi­scher Fallgruben und schaudert. Er weigert sich, sanft in diese alptraum­haften Nächte hinüber zu dämmern. Er bäumt sich auf gegen das Erlöschen des Lichts.

Liberale haben zu unter­schied­lichen Zeiten Verschie­denes gefürchtet und haben deshalb danach gestrebt, politische Ordnungen zu schaffen und anzupassen, die sich einer Abfolge sich ändernder Ängste entge­gen­stellen. Der frühe moderne Libera­lismus – und es gab keinen Libera­lismus in der Welt vor der Moderne – entstand aus dem von religiöser Intoleranz und Krieg hervor­ge­ru­fenen Chaos und Gemetzel. Die Angst vor religiösem Zwang ist der Ursprung des modernen Libera­lismus. Allmählich – im Laufe des sechzehnten und siebzehnten Jahrhun­derts – stellten wir fest, dass Toleranz der Grausamkeit des religiösen Fanatismus überlegen war.

Dann, in einer zweiten Welle des Kampfes darum, welche politische Ordnung herrschen sollte, erwiesen sich die Prinzipien und Insti­tu­tionen eines begrenzten und egali­tären Staates als vorteil­hafter – militä­risch, wirtschaftlich, wissen­schaftlich und in Hinsicht auf das persön­liche Glück – als der Absolu­tismus. Als der Leviathan dann die Macht übernommen hatte, stellten wir fest, dass er uns noch leichter und syste­ma­ti­scher verschlingen könnte als es die Mächte der Vormo­derne je gekonnt hätten. Demzu­folge haben wir immer neue Mecha­nismen erfunden um den Leviathan zu zähmen. Wir haben dafür verschiedene Bezeich­nungen, zum Beispiel als bürger­liche und politische Rechte, Rechts­staat­lichkeit, Konsti­tu­tio­na­lismus, Födera­lismus und letztlich als moderne reprä­sen­tative Demokratie. Dieje­nigen Gesell­schaften, die diese Mecha­nismen einführten und anwandten, errangen größere Macht, Wohlha­benheit und Dynamik.

Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhun­derts entwi­ckelten sich unsere liberalen Ordnungen weiter – national, regional und inter­na­tional – denn wir begannen, Armut, totalen Krieg und den Aufstieg kollek­ti­vis­ti­scher totali­tärer Ideologien und Staaten zu fürchten. Angespornt von diesen Ängsten stellten sich auf Nationen begründete, markt­ba­sierte liberale Demokratien ihren imperialen, faschis­ti­schen, nazis­ti­schen und sowjet­kom­mu­nis­ti­schen Gegnern entgegen und besiegten diese letztendlich.

Aus dieser Sicht betrachtet sind die gegen­wär­tigen liberalen Ordnungen im Wesent­lichen „dreifach destil­lierte“ Systeme norma­tiver und insti­tu­tio­neller Güter, geschaffen im Laufe von Jahrhun­derten im Zuge einer Abfolge histo­ri­scher Kämpfe, aus denen die „liberale Lösung“ siegreich hervorging, indem sie sich als ihren Opponenten überlegen erwies hinsichtlich der Schaffung physi­schen und ontolo­gi­schen Wohlbe­findens. Unsere modernen Formen der liberalen Ordnung, deren Genom aus Toleranz, begrenztem staat­lichen Einfluss, auf Freiwil­ligkeit basie­render reprä­sen­ta­tiver Demokratie und Markt­wirt­schaft besteht, sind das Ergebnis wieder­holter Infra­ge­stellung und Auswahl, aus denen sie stets als Sieger hervor­gingen. Die liberale Ordnung hat überlebt und sich durch­ge­setzt, weil sie sich hinsichtlich der Gewähr­leistung physi­scher und ontolo­gi­scher Sicherheit als überlegen erwies. Gleich­zeitig herrscht jedoch eine kalte evolu­tionäre Logik. Falls es den liberalen Ordnungen nicht gelingt, sich wieder dem Wettbewerb zu stellen und ihre Überle­genheit erneut zu beweisen, müssen wir damit rechnen, dass antili­berale Angriffe zunehmen und immer mehr Menschen diesen Ordnungen abtrünnig werden.[11]

Die Angst vor mensch­licher Redundanz

Was fürchten wir heutzutage am meisten? In einigen Ländern fürchten wir immer noch, was Locke, Constant, Mill, Popper, Hayek, Arndt, Berlin, Solsche­nizyn und Shklar in der Vergan­genheit fürch­teten – die ungleiche Macht des autori­tären und räube­ri­schen Staates über das Individuum. Und doch würde der „Neue Libera­lismus der Furcht“ zugeben – mit einer Prise Skepsis gemischt mit vorsich­tiger Zufrie­denheit – dass das, was wir in den meisten der jetzt bestehenden Gesell­schaften die meiste Zeit über am stärksten fürchten, nicht die Macht des Staates ist. Tatsächlich ist es in vielen Ländern mit einem schwachen Staat (darunter Irak und Libyen, Syrien, Somalia, Kongo und Haiti, um nur einige traurige Beispiele zu nennen) so, dass das, was die Menschen am meisten fürchten, die Folgen des Fehlens eines funktio­nie­renden Staates sind.

Letzt­endlich ist das, was wir – in den bis vor Kurzem leichthin als „Freie Welt“ bezeich­neten Ländern – am meisten fürchten, ein künftiges Überflüs­sig­werden der Menschheit. Wir fürchten physische Redundanz infolge existen­zi­eller Katastrophen wie dem demogra­fi­schen Wandel, dem Klima­wandel, einem unüber­wind­baren Zusam­men­bruch der Zivili­sation oder unüber­wind­licher Dystopie im Ergebnis natür­licher oder von Menschen hervor­ge­ru­fener Bedro­hungen. Wir fürchten, dass unkon­trol­lierte Kräfte der Finanz­märkte, Big-Tech-Algorithmen und allge­gen­wärtige Überwa­chung durch Unter­nehmen und Behörden den Menschen vollständig seines wirtschaft­lichen und politi­schen Einflusses berauben. Wir fürchten eine metaphy­sische Redundanz durch den Verlust von Bedeutung, Sinn, Zugehö­rigkeit und Bindung – nicht so sehr in Folge einer mit dem Indus­trie­zeit­alter einher­ge­hende Entfremdung, sondern durch die Übernahme durch Maschinen und künst­liche Biologie des Digital­zeit­alters. Wir fürchten sogar eine episte­mische Redundanz dadurch, dass sehr bald KI und Deep-Fake-Techno­logien sehr wohl in der Lage sein werden, es gewöhn­lichen Menschen unmöglich zu machen, mit der immer schneller zuneh­menden Komple­xität der Welt zurecht­zu­kommen oder den Unter­schied zwischen Tatsachen und Aussagen einer Verschwö­rungs­theorie zu erkennen.

Die Heraus­for­derung, vor der wir Liberale gegen­wärtig stehen, besteht darin, uns der Redundanz, also dem Überflüs­sig­werden der Menschheit entgegen zu stellen und diese Entwicklung umzukehren. Wir brauchen einen neuen humanis­ti­schen Libera­lismus, der gleich­zeitig die zentralen Werte des tradi­tio­nellen Libera­lismus vertritt und eine bessere Weiter­ent­wicklung der Menschheit gewähr­leistet als die von unseren autori­tären und kollek­ti­vis­ti­schen Opponenten angebo­tenen Lösungen.

Die Heraus­for­derung, vor die uns der „Neue Libera­lismus der Furcht“ stellt, ist sehr groß, mögli­cher­weise existen­ziell, aber die Lage ist nicht völlig aussichtslos. Wie Bernard Williams in seinen eigenen Media­tionen zu dem Text von Judith Shklar aussagte: „der Libera­lismus der Furcht beschränkt sich nicht auf Warnungen und Mahnungen. Falls es gelingt, grund­le­gende Freiheiten zu gewähr­leisten und grund­le­gende Ängste zu beschwich­tigen, wird sich die Aufmerk­samkeit des Libera­lismus der Furcht anspruchs­vol­leren Konzepten der Freiheit zuwenden ...“[12] Uns direkt, entschlossen und kreativ mit den schlimmsten Ängsten unserer Zeit zu befassen, ist mögli­cher­weise die beste Möglichkeit, voran­zu­schreiten und wieder einen Libera­lismus der Hoffnung zu erreichen.


[1] Isaiah Berlin, „Two Concepts of Liberty“, in Four Essays on Liberty (Oxford: Oxford University Press, 1969) S. 118–172 auf S. 122.

[2] Zu Montes­quieus Bezug­nahme auf das mensch­liche Bedürfnis nach persön­licher Sicherheit als Vorbe­dingung für politische Freiheit siehe Montes­quieu, The Spirit of the Laws, in der Übersetzung von Cohler, Miller und Stone (Cambridge, 1989), S. 157. Auch Benjamin Constant denkt in seinem Vortrag „The Liberty of the Ancients Compared with That of the Moderns“ von 1819 über das Verhältnis von Sicherheit, Angst und Freiheit nach. Judith N. Shklar, “The Liberalism of Fear”, in Liberalism and the Moral Life, Nancy L. Rosenblum (Hrsg..) (Harvard 1989) S. 21–38.

[3] Shklar, ibid. S. 26–27

[4] Berlin, Supra, Anmerkung 1.

[5] Ibid. S. 26.

[6] Siehe: Hal Brands und Charles Edel, The Lessons of Tragedy: State­craft and World Order (Yale University Press, 2019).

[7] Die vollstän­digen Angaben finden Sie in der Datenbank The Maddison Project Database 2020 (https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/releases/maddison-project-database-2020?lang=en). Zusam­men­fassung und Analyse siehe: Deidre N. McCloskey, Bourgeois Equality: How Ideas, Not Capital or Insti­tu­tions, Enriched the World (Chicago University Press, 2016); Steven Pinker, Enligh­tenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (Viking, 2018).

[8] Zahlen aus Our World in Data (unter https://ourworldindata.org/a‑history-of-global-living-conditions-in-5-charts). Zur Lebens­er­wartung siehe https://ourworldindata.org/life-expectancy#:~:text=The%20divided%20world%20of%201950,achieved%20in%20a%20few%20places.

[9] Im Original: „To the hundred billion people before us, who fashioned our civilization; To the seven billion now alive, whose actions may determine our fate; To the trillions to come, whose existence lies in the balance.” Toby Ord, The Precipice: Existential Risk and the Future of Humanity (Hachette, 2020).

[10] Shklar, Supra, Anmerkung 3,  S. 29.

[11] Siehe: Amichai Magen, Liberal Order in the Twenty-First Century: Searching for Eunomia Once Again, 139/2–4 Journal of Contextual Economics (2019) 271–284.

[12] Bernard Williams, In the Beginning Was the Deed: Realism and Moralism in Political Argument (Princeton University Press, 2005) S. 60.

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