Wahlnachlese: Wir schreiben nicht das Jahr 1933
Nach den Erfolgen der AfD – und des ebenfalls fremdenfeindlichen und russlandfreundlichen BSW – bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen überbieten sich die Kommentatoren in Alarmismus. Alan Posener wirft am Tag nach den Wahlen einen kritischen Blick auf das Geschehen.
Fast mochte man glauben, wir schrieben den 30. Januar 1933, nicht den 1. September 2024. Jedoch könnte die Panik der schwätzenden Klasse, die auf paradoxe Weise die Untergangsrhetorik der Populisten spiegelt und damit stärkt, gefährlicher sein als das Ereignis selbst. In zwei Bundesländern, die zusammen nicht einmal sieben Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik ausmachen, haben Populisten Erfolge errungen. Okay, schlimm genug. Aber nicht das Ende der Republik.
Demokratie fest in den deutschen Eliten verankert
Der Grund ist vor allem, dass Deutschlands Eliten, anders als in der Weimarer Republik, zur Demokratie stehen. Wirtschaft, Militär, Kirchen, das Bindegewebe der Verwaltungsbürokratie, Gewerkschaften, Sozialverbände usw. sind verankert im westlichen Wertesystem, befürworten die Nato und die Europäische Union. Wenn sich sogar der TÜV-Verband bemüßigt fühlte, vor der Wahl der AfD zu warnen, dann erahnt man, um wieviel zivilisierter die Bundesrepublik ist. Freilich kann sich das ändern. Wie und in welche Richtung wird noch zu untersuchen sein.
Vorerst aber bleiben wir beim Vergleich der Berliner mit der Weimarer Republik: Es fehlt heute die verrohte Generation der Weltkriegsteilnehmer von damals; es fehlen die bittere Armut und die Regierungsignoranz der vor-keynesianischen Epoche; es fehlt das Ressentiment einer vom Versailler Vertrag betrogenen, stolzen Nation; und es fehlt realistischerweise der Wahn, Deutschland müsse eine Weltmacht oder wenigstens die hegemoniale Macht Kontinentaleuropas sein. Ja, kennzeichnend für die reaktionären Kräfte in Deutschland heute ist ein außenpolitischer Defätismus, der jeden Nationalsozialisten, Deutschnationalen oder Anhänger der Konservativen Revolution vor 1933 abgeschreckt hätte.
Defätismus stärkt den Populismus
Dieser Ohnemichel-Defätismus allerdings ist ein Schlüssel zum Verständnis der Populisten-Erfolge. Die von Alarmisten gezogenen Parallelen zwischen AfD und NSDAP lenken von treffenderen Vergleichen ab: etwa mit jenen reaktionären Kräften in Frankreich, Großbritannien und den USA, die vor dem Zweiten Weltkrieg Freundschaft und Verständigung mit Nazi-Deutschland oder wenigstens Appeasement predigten. Was damals die „Achse“ der faschistischen und revisionistischen Mächte Deutschland, Italien und Japan war, das ist heute die Achse der autoritären und revisionistischen Mächte China, Russland und Iran.
Die Stärke der damaligen Defätisten erwies sich für Frankreich als fatal; die angelsächsischen Eliten waren am Ende widerstandsfähiger. Wie ist es aber in Deutschland heute? In Bezug auf die Zuwanderung haben die Rechtspopulisten mit ihrer Losung Recht behalten: „AfD wirkt!“ Nicht nur die Union, auch die Ampel-Parteien vertreten heute Positionen, die noch 2015 als unakzeptabel gegolten hätten. Sie tun das aber, weil sich ihre damalige Politik als unhaltbar erwiesen hat. Die Frage ist, ob AfD und BSW auch außenpolitisch wirken könnten.
CDU-Ministerpräsident Kretschmer als Raubkopierer der AfD
AfD-Chef Timo Chrupalla hat Recht, wenn er meint, der sächsische Ministerpräsident und CDU-Chef Michael Kretschmer habe sich als „Trittbrettfahrer und Raubkopierer“ der AfD-Positionen positioniert – nicht nur in Sachen Migration, sondern eben auch in Sachen „Verständigung“ mit Wladimir Putin. Und Sahra Wagenknecht, ohne deren Partei die CDU weder in Sachsen noch in Thüringen regieren kann, will als Bedingung ihrer Teilnahme eine Stellungnahme im Koalitionsvertrag verankern, in der ein diplomatisch vermitteltes Ende des Kriegs in der Ukraine gefordert und die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westdeutschland abgelehnt wird.
Damit dürfte Kretschmer kaum Probleme haben. In Thüringen mag sich CDU-Chef Mario Voigt mit dem französischen König Heinrich IV sagen: „Paris vaut bien une messe“: Lippenbekenntnisse kosten nichts, zumal die Landespolitik für die Beziehungen zu Russland und den USA nicht zuständig ist. Die Hoffnung der Unions-Landesfürsten dürfte sein, die Wagenknecht-Partei in der Regierungsarbeit zu entzaubern und die AfD durch einen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik in der Wählergunst zurückzudrängen.
AfD-„Projekt 2029“
Andererseits hat auch die AfD einen Plan, und der lautet „Projekt 2029“. Nach Ansicht der AfD-Größen werden die Notkoalitionen der Union mit dem BSW und den Resten der „West-Parteien“ die Glaubwürdigkeit der CDU nicht nur im Osten erschüttern, so dass die Brandmauer zur AfD zunächst auf Landesebene bröckelt und bundespolitisch spätestens 2029 fällt. Und eine Koalition der Union mit der AfD wird auch außenpolitisch ihren Preis haben.
Ob das so kommt, hängt aber nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie, von innerdeutschen Entwicklungen ab. Fällt die Ukraine und in ihrem Gefolge Moldau, werden dadurch Georgien und Armenien endgültig wieder zu Satelliten Moskaus; gewinnt Putin auf dem Balkan wieder die Oberhand, so dass er womöglich einen neuen bosnischen Bürgerkrieg entzünden und die endgültige Abwendung Serbiens, vielleicht gar Ungarns von der EU provozieren kann – fällt also die Ukraine, werden auch in Deutschland die Karten neu gemischt, könnten die Befürworter eines pro-russischen Kurses in Deutschland auf der Linken wie auf der Rechten, in der SPD wie in der Union, die Oberhand gewinnen.
Ja, auch in der Union. Man sollte nicht vergessen, dass nach dem Mauerbau 1961, der als Niederlage und Verrat der USA gelesen wurde, der Gaullismus, der ein „Europa der Vaterländer“ anvisierte, zeitweilig in der Union salonfähig wurde. De Gaulles Vision sah vor, eine geopolitische Äquidistanz zwischen den USA und der Sowjetunion zu wahren. Es wäre leichtfertig anzunehmen, ein Kretschmer hätte nach einer westlichen Niederlage in der Ukraine keine Chancen auf die Kanzlerkandidatur der Union.
Ausgang des Ukraine-Krieges entscheidend für Zukunft Deutschlands und Europas
Unter diesen Bedingungen könnten sich auch die deutschen Eliten als – sagen wir – biegsam erweisen. Am Ende geht das Geschäft vor, wie bei NordStream und der fatalen Abhängigkeit, in die sich die deutsche Autoindustrie vom chinesischen Markt manövriert hat. Nicht ein neuer Adolf Hitler wäre 2029 das Problem, sondern ein deutscher Philippe Pétain, nicht deutsche Großmannssucht, sondern kleindeutsche Unterordnung unter chinesische und russische Ambitionen. Nicht nationaler Sozialismus, sondern autoritärer Kapitalismus und eine illiberale Demokratie nach ungarischem Muster.
Deshalb hängt auch die Zukunft der deutschen Demokratie davon ab, dass die Ukraine siegt. Auch wenn man vorsichtig geworden ist mit solchen Formulierungen. Wir erinnern uns: Der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Peter Struck meinte, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Aber Struck hatte ja nicht Unrecht. Sicherer ist Deutschland seit dem Rückzug aus Afghanistan nicht geworden. Sicherer ist Deutschland auch nicht geworden, seitdem die Ampelkoalition den Einsatz in Syrien beendet hat. Doch jene Niederlagen des Westens waren Peanuts im Vergleich zur Akzeptanz der russischen Aggression in der Ukraine 2014 und zum weltpolitischen Beben, das ein Zusammenbruch der Ukraine auslösen würde.
Über das Projekt 2029 der AfD wird auch am Donbass entschieden. Ob das der Kanzler weiß?
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