Die eigene Geschichte macht Grund zur Hoffnung

Ausge­rechnet ihre eigene, persön­liche Geschichte macht Hoffnung: Die Israelin Tzipi Diskind ist gebürtige Jerusa­le­merin und gehört den ultra-religiösen Haredim an. Ihre Glaubens­ge­mein­schaft, meint die vierfache Mutter, könne im Konflikt mit den Paläs­ti­nensern eine besondere Vermitt­lungs­rolle spielen. Denn es verbinde sie vieles gerade mit den religiösen Muslimen. Damit Dialog zwischen Israelis und Paläs­ti­nensern gelingen könne, brauche es vor allem Vertrauen und Empathie für die Geschichte der anderen. Daran glaubt sie, der schwie­rigen politi­schen Situation zum Trotz.

Es war das Jahr 1934 und mein Urgroß­vater befand sich wieder einmal auf einer Geschäfts­reise in Kairo. Er reiste als Vertreter eines inter­na­tio­nalen Unter­nehmens auf der Strecke Damaskus-Alexandria. Dieses Mal hatte er etwas Wichtiges im Gepäck: Das Bild einer jungen Frau aus Tel Aviv, die sehr daran inter­es­siert schien, ihn zu heiraten. Er war viele Jahre älter als sie, sie war äußerst attraktiv: gutaus­sehend, hochin­tel­ligent, polyglott, eine hervor­ra­gende Bäckerin und Köchin. Aus irgend­einem Grund war er sich noch nicht sicher. Als er mit seinen Freunden aus Kairo zusam­mensaß, erwähnte er beiläufig diese Frau und zeigte ihnen ihr Bild.

Die Geschichte des Großvaters

„Bist du verrückt?“, lautete die Antwort. “Wie kannst du auch nur zweimal darüber nachdenken? Heirate sie!“

Der Rest ist Geschichte.

Und so sind die arabi­schen Freunde meines Urgroß­vaters aus Ägypten einer der Gründe, warum es mich gibt.

Diese Anekdote hat zahlreiche Facetten, die für uns heute relevant sind, aber die erste Frage, die ich stellen möchte, ist die: Warum könnte das heute nicht so passieren? Oder zumindest, warum stehen die Chancen dafür heute so schlecht? Warum kann ein jüdischer Geschäftsmann aus Jerusalem heute nicht mit seinen paläs­ti­nen­si­schen Kollegen aus Ramallah über seine mögliche zukünftige Ehefrau sprechen?

Für mich lautet die erste Antwort, dass wir gelernt haben, einander anhand von Etiketten und Stempeln zu betrachten und einander in Schub­laden zu stecken – oft gelenkt und allzu oft irrege­führt durch die Medien, die wir konsu­mieren. Nach so vielen Jahren der Feind­se­ligkeit zwischen unseren Nationen haben wir aufgehört, einander als Individuen zu betrachten, als Menschen, als Personen mit einem Leben voller alltäg­licher Details, als Charaktere mit Wünschen, Träumen und Hoffnungen. Wir haben aufgehört, zu versuchen zu verstehen, was die Motive für das Handeln der jeweils anderen Seite sind, oft haben wir nur Vermu­tungen darüber, die auf unseren früher getrof­fenen – falschen – Annahmen beruhen.

Haredim als Vermittler

Und das ist sehr bedau­erlich. Um einen Freund von mir zu zitieren: Wir Haredim könnten eine Brücke zu unseren Nachbarn sein. Denn die Tatsache, dass wir religiös sind, ermög­licht es uns, die religiösen Gefühle unserer Nachbarn im Allge­meinen und die alltäg­lichen Praktiken, die sich aus der Religion ergeben, im Beson­deren zu verstehen. Als Haredi-Frau, die sich sittsam kleidet und ihr Haar mit einem Kopftuch bedeckt und die ihre Kinder lehrt, ihr Leben nach den Wegen Gottes auszu­richten, kann ich mich sehr gut mit einer musli­mi­schen Frau identi­fi­zieren, die dasselbe tut. Ich unter­breche meinen Tag, um das Mincha-Gebet zu sprechen, genauso wie eine musli­mische Frau eines ihrer Nachmit­tags­gebete spricht. Ich könnte noch viel mehr dazu sagen.

Aber wie oft denken wir so? Wie oft haben wir wirklich innege­halten, um über unsere Nachbarn nachzu­denken und sie als Menschen zu sehen? Ich weiß genau, wie und warum wir so geworden sind, aber ich denke, dass wir das nur ändern können, wenn wir anfangen, einander kennen­zu­lernen. Die einzigen Paläs­ti­nenser, die wir kennen, sind die, die in Israel arbeiten. Also kennen wir sie vielleicht als Bauar­beiter oder Möbel­packer, aber wir wissen fast nie etwas über ihr Leben. Wer sind sie, warum leben sie hier, wie sieht ihr Leben aus?

Mitein­ander statt überein­ander sprechen

Der einzige Weg, das zu durch­brechen, besteht darin, aufzu­hören uns über die anderen zu infor­mieren. Lassen Sie mich also mit mir selbst beginnen: Ich bin Mutter von vier Kindern und lebe in Jerusalem, wo meine Mutter und mein Großvater geboren wurden. Ich bin ausge­bildete Software-Ingenieurin und schreibe über Wissen­schaft, Techno­logie und Auslands­nach­richten für das Mishpacha Magazine, eine viel gelesene Zeitschrift für die jüdisch-orthodoxe Gemein­schaft auf der ganzen Welt. Ich betrachte es als großes Privileg, in der Stadt zu wohnen, in der auch meine Vorfahren gelebt haben. Meine jüngste Tochter geht in die Schule, die direkt gegenüber dem Haus liegt, in dem die Großeltern meines Großvaters gewohnt haben – ihre Wohnung ist immer noch dort. Als religiöse Frau fühle ich mich doppelt privi­le­giert, im Heiligen Land zu leben, denn viele der Mitzwot (hebräisch für Gebote) setzen voraus, dass wir in diesem Land leben. Es ist eine Mizwa der Tora, der fünf Bücher Mose, die uns den Namen „Volk des Buches“ gegeben hat, im Heiligen Land zu leben. Und es gibt eine Reihe von Mizwot, die wir nur mit den Produkten oder auf den Feldern des Heiligen Landes erfüllen können. Es ist dieser Wunsch, Gottes Gebote zu erfüllen, der meine Vorfahren dazu gebracht hat, in dieses Land zurück­zu­kehren, und es ist der Grund, warum ich und viele tausend Menschen meiner Gemeinde hier leben – nicht aus politi­schen Gründen, sondern aus dem Wunsch heraus, das zu tun, was Gott uns aufge­tragen hat.

Seite an Seite mitein­ander leben

Diese Weltan­schauung veran­lasste eine Delegation von Haredi-Rabbinern aus Jerusalem, am 24. Februar 1924 nach Jordanien zu reisen, um den Emir Abdallah, den späteren ersten König von Jordanien, und seinen Vater, den Sheriff Hussein Bin Ali, zu treffen. Sie wollten sicher­stellen, dass die Araber wussten, dass es die Absicht unserer Gemein­schaft war, hier Seite an Seite mit den Arabern zu leben und mit ihnen zusam­men­zu­ar­beiten. Hussein Bin Ali stimmte voll und ganz zu – aber die Geschichte nahm einen anderen Verlauf.

Es ist an der Zeit, diese Bemühungen zu erneuern – lassen Sie uns Delega­tionen unserer religiösen Führer zusam­men­bringen. Lassen Sie uns einander treffen. Es ist an der Zeit, dass wir den Bann des Blutver­gießens brechen und uns für eine gemeinsame Zukunft einsetzen. Ich glaube, dass wir es schaffen können. Glauben Sie das auch?

Der Artikel wurde zunächst in der Paläs­ti­nen­si­schen Tages­zeitung AlQuds veröffentlicht.

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