Nachrichten aus der vermeintlichen „Black Box“ Belarus

Ingo Petz´ „Rasender Stillstand“ ist Geschichtswerk, Gegenwartsanalyse und Menschenrechtshandbuch zugleich – und kommt gerade zur rechten Zeit, um Diktator Lukaschenkas Vision der institutionalisierten Gedächtnislöcher etwas Emanzipatorisches entgegenzusetzen, schreibt unser Autor Marko Martin.
Die neuerliche „Amtseinführung“ des belarussischen Dauer-Herrschers Aljaksandr Lukaschenka Mitte März in Minsk hatte kaum noch internationale Reaktionen hervorgerufen. Fernsehbilder zeigten ein kaltes weiß-blattgoldenes Saal-Ambiente in jenem postsowjetischen Stil, dem auch die über tausend geladenen Gäste entsprachen. Die im Januar dieses Jahres stattgefundene Scheinwahl (außer zwei Zählkandidaten gab es keine wirklichen Oppositionsvertreter) hatte Lukaschenka mit angeblich 86,82 Prozent gewonnen. Massenproteste dagegen hatte es diesmal keine gegeben – im Unterschied zum Sommer 2020, als die ganz offensichtliche Wahlfälschung noch Hunderttausende Belarussen auf die Straßen ihres Landes getrieben hatte.
Mehr als eine historische Hommage
An jene zutiefst friedliche Revolution und ihre grausame Niederschlagung erinnert das aktuelle Buch des renommierten Osteuropa-Publizisten Ingo Petz. „Rasender Stillstand“ ist jedoch keineswegs allein eine historische Hommage, sondern öffnet räumlich und zeitlich weite Räume. Was übrigens weit über den Redaktionsschluss der Drucklegung hinausweist: Wer dieses Buch gelesen hat, wird – auch jenseits des Aufs und Abs medialer Aufmerksamkeits-Konjunktur – einen umfassenderen Blick auf jenes nur scheinbar peripher-abgelegene Belarus bekommen, das in Wirklichkeit ja eng mit seinen Nachbarländern Russland und Ukraine verknüpft ist.
Wäre es nämlich, das macht der Autor deutlich, in jenem Sommer 2020 gelungen, den seit 1994 autoritär regierenden Lukaschenka von der Macht zu verdrängen – Belarus hätte sich im Februar 2022 wohl kaum zum Aufmarschgebiet russischer Truppen für die Vollinvasion der Ukraine degradieren lassen. Auch hätte Putin dann in diesem Nachbarland gewiss keine russischen Atomraketen stationiert. Wie es mit Lukaschenka, der seinem Volk längst nur noch die diktatorisch konnotierten Mehltau-Vokabeln „Stabilität, Ruhe, Frieden“ anzubieten vermag, in Zukunft weitergehen wird, ist natürlich völlig offen. Dass Russland sich Belarus, mit dem es bereits durch einen „Unionsvertrag“ verbunden ist, bald offiziell einverleiben wird, schließt Ingo Petz indessen aus, da dem riesigen Nachbarreich vorerst eine wirtschaftliche und militärische Durchdringung zu genügen scheint. Überdies gibt es immer mal wieder Absetzbewegungen des kleinen Despoten vom größeren im Kreml, auf die der Westen jedoch nicht erneut hereinfallen sollte. In der angegriffenen Ukraine wird jedenfalls mit illusionsloser Aufmerksamkeit beobachtet, was sich im nördlichen Nachbarland tut und in welche Richtung(en) sich der dortige „rasende Stillstand“ entwickeln könnte.
Kurz währende Aufmerksamkeit des Westens: Die „singenden Frauen von Minsk“
Vor der Folie dieser alles andere als optimistisch stimmenden Gegenwart beschreibt und analysiert Petz nun ebenso profund wie lesbar die jüngste Vergangenheit, vor allem das Erwachen der belarussischen Zivilgesellschaft in den Jahren vor 2020. So beeindruckend die unzähligen konkreten Beispiele dieser Emanzipationsbewegung aber auch sind, so viel wir hier von der Tapferkeit findiger, hoffnungsfroher Frauen und Männer aller Generationen erfahren und deren Namen und Aktivitäten und dazu unzählige NGOs kennenlernen – das Buch versammelt weit mehr als eine Galerie von (Alltags-)Helden und Heldinnen.
In der präzisen Herausarbeitung der Genese jenes Sommers 2020, als die Dreistigkeit des amtlich verfügten Wahlbetrugs jenes Tröpfchen „too much“ war, welches das Fass zum Überlaufen brachte, beschreibt Ingo Petz etwas beinahe Metaphysisches: Ein kollektives „Es-reicht“ aus dem Geist eines verletzten Gerechtigkeitsgefühls, das zwar bereits seit Jahrzehnten malträtiert und verhöhnt worden war, sich aber jetzt aufbäumte. Und wir im Westen? Haben vermutlich, höchstens, noch ein paar der damaligen Fernsehbilder im Gedächtnis, etwa jene wallenden Fahnenmeere aus dem vom Regime verbotenen und gar als „faschistisch“ bezeichneten Weiß-Rot. Dazu jene „singenden Frauen von Minsk“. Jedoch wurden dann auch diese damals ganz schnell wieder von den rasant aufeinander folgenden Covid-Meldungen verdrängt, so dass in Westeuropa dieses Aufbäumen – durchaus vergleichbar mit 1953 in Ostberlin, 1956 in Poznan und Budapest, 1968 in Prag, 1980 in Gdansk – inzwischen fast völlig vergessen ist. Doch als wäre es eine griechische Agora des freien Gedankenaustauschs waren damals selbst die Hinterhöfe der sowjet-typischen Wohnblocks zu Orten der Diskussion geworden, bei denen KünstlerInnen und AktivistInnen auf ArbeiterInnen und Angestellte trafen, die plötzlich ihre Angst zu verlieren begannen und einander quasi dabei zusahen, wie sie alle innerlich und äußerlich frei zu werden begannen…
Putin und der „kleine Diktator“ in Minsk
…bis das Regime seine Schlägertruppen dann auch dorthin sandte, liebevoll gestaltete Installationen wüst zertrampeln und die verzweifelten Menschen an den Haaren in Gefängnistransporter schleifen ließ. Viele, vor allem Jüngere, kamen dabei ums Leben, zahlreiche befinden sich bis heute in Haft. Noch mehr jedoch, beinahe alle der damals Aktiven, darunter auch viele Journalisten und Anwälte, wurden zu „Extremisten“ erklärt, mussten aus ihrer Heimat fliehen und fanden Zuflucht in Polen, den baltischen Demokratien oder in der Ukraine – ehe sie nach dem 24. Februar 2022 auch dort nicht mehr sicher waren. Die auf solch brachiale Weise „freigewordenen“ Arbeitsplätze wurden sogleich neu besetzt, unzählige weitere Stellen im Überwachungsapparat auch erst geschaffen – in einem totalitären Aufstiegsmechanismus, der Loyalitäten kreiert, Ja-Sagern zugutekommt und mit dem bereits Stalin nach den massenmörderischen „Säuberungen“ im Jahr 1937 erfolgreich experimentiert hatte.
Und noch eine weitere Verbindungslinie gibt es zum Kreml: Wladimir Putin hatte sich damals genau angeschaut, wie der „kleine Diktator“ in Minsk nicht nur die Repressionsorgane straff neu geordnet und noch stärker auf sich persönlich ausgerichtet hatte, sondern auf welch effektive Weise er auch mit der Zivilgesellschaft (selbst bei eher unpolitischen Initiativen wie jenen zur Hilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen) radikal tabula rasa machte. Kein Zufall deshalb, dass der Vollinvasion der Ukraine dann auch in Russland ein Vereins-Verbot nach dem anderen vorangegangen war, um selbst die letzten verbliebenen Fermente unabhängigen Denkens und Tuns auszulöschen. Das Fazit, ohne Pathos und gerade deshalb ein einziges Trotzdem: „Es ist keine Seltenheit, dass Revolutionen nicht zu ihrem Ziel gelangen, das herrschende System abzulösen. Manchmal brauchen sie dazu mehrere Anläufe.“
„Gott bewahre, dass in Belarus eine Frau gewählt wird“
Ingo Petz, der beim verdienstvollen online-Portal Dekoder die Belarus-Redaktion leitet, erinnert an all das – und dazu an den für das Verständnis des Geschehenen so entscheidenden toxischen Machismus des Systems. Denn nicht nur Swjatlana Tsichanouskaja (die Umschrift aus dem Belarussischen folgt derjenigen im Buch), die anstelle ihres inhaftierten Mannes Sjarhej 2020 als Präsidentschaftskandidatin angetreten war – und nach unabhängigen Zählungen die Wahl haushoch gewonnen hatte – war vom schnauzbärtig-feisten Machthaber Lukaschenka zuvor und danach aufs Übelste misogyn angegangen worden. „Gott bewahre, dass in Belarus eine Frau gewählt wird... Es ist nicht der Stil einer Frau. Eine Frau sollte auch eine Frau sein. Deshalb sollte eine Frau nicht mit solchen Befugnissen, solchen Verantwortlichkeiten belastet werden.“ Folgerichtig war unter den im Nachgang der gefälschten Wahl verfolgten und verbotenen NGOs auch der Verein Radislava gegründet worden, der sich für Frauen engagierte, die Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Ebenso wie Wladimir Putin wusste und weiß auch „Hausherr“ Lukaschenka, wo genau man ansetzen muss, um eine Gesellschaft brutal in die Willfährigkeit zurückzudrücken. Währenddessen sitzt Tsichanouskajas damalige Mitstreiterin Maryja Kalesnikawa seit September 2020 in belarussischen Kerkern, dazu viele, deren Namen der Öffentlichkeit kaum bekannt sind.
Bewusstwerdung im Westen
Es ist deshalb gut, dass am Schluss dieses Buchs praktische Informationen über einige jener mit Belarus befassten Initiativen zu finden sind, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, aus dem Exil heraus die westlichen Demokratien aufzuklären – und ihre daheim verbliebenen Landsleute mit unabhängigen Informationen zu versorgen. Was wichtiger ist denn je, denn: „Je länger die Diktatur weiter herrscht, desto größer die Gefahr, dass im prodemokratischen Teil der Bevölkerung die Hoffnungen auf einen Wandel schwinden – und damit die in der Protestbewegung zum Tragen gekommenen Bedürfnisse nach politischer Teilhabe. Die Erfahrung der Protestbewegung könnte zu einer ´romantischen Episode´ verblassen. Wenn es dem Regime gelingt, den Zugang zu unabhängigen Informationsquellen weiter zu erschweren, könnten sich Propagandanarrative und in der Folge autoritäre Denk- und Handlungsmuster gerade unter Heranwachsenden verfestigen.“
Noch ein hoffnungsvolles Post Scriptum, das sich nicht im Buch findet: Im November letzten Jahres wurde in Berlin erstmals der Werner-Schulz-Preis verliehen, zum Gedächtnis an den zwei Jahre zuvor unerwartet verstorbenen DDR-Bürgerrechtler. Der langjährige Bundestags- und Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen war den osteuropäischen Menschenrechtsbewegungen zutiefst verbunden gewesen. Erste Preisträgerin wurde die 1976 in Ostberlin geborene Ina Rumiantseva, die sich zusammen mit ihrem in Minsk geborenen Ehemann tatkräftig dafür einsetzt, dass die politischen Gefangenen in Belarus nicht in Vergessenheit geraten. Ermutigend, wie viele Menschen in Ost und West, jeder an seiner Stelle und auf seine Weise, dafür arbeiten, dass das Gedächtnisloch, an dem der Diktator und seine Schergen und Propagandisten täglich graben, nicht noch größer wird. Auch deshalb ist die Relevanz von Ingo Petz´ Buch gar nicht zu überschätzen.
Ingo Petz: Rasender Stillstand. Belarus – eine Revolution und die Folgen. edition.fotoTAPETA, Berlin 2025, 186 S., brosch., Euro 15,-
Die Buchpremiere findet statt am Mittwoch, 30. April, um 19 Uhr im Berliner „Club der polnischen Versager“ (Ackerstraße 168).
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