Das Paradies des Fortschritts
Uns Liberalen fehlt eine Vision. Nichts funktioniert mehr, alle sind genervt, doch eine neue Perspektive haben wir nicht zu bieten. Vielleicht erklärt das die Begeisterung, die Ezra Klein und Derek Thompsons neues Buch Abundance auslöst und die auch unseren Rezensenten, Marius Drozdzewski, erfasst hat.
Neu sind Klein und Thompsons Vorschläge nicht: Bürokratieabbau, mehr Wohnungsbau, günstigere Energie – das fordern viele. Abundance aber begeistert, weil es vertraute Ideen zu einer glaubwürdigen Utopie verdichtet. Wer das Buch liest, spürt Aufbruchsstimmung und hat den Wunsch, den Weg dorthin mitzugestalten.
Smart Homes statt Flugtaxis
Trotz des rasanten Wandels in den letzten 50 Jahren, blieben die großen Durchbrüche aus. Es gab iPhones statt Fusionsreaktoren, Smart Homes statt Flugtaxis. Dafür ist es schwieriger geworden zu bauen, die Infrastruktur unseres Alltags instand zu halten und große Probleme wie den Klimawandel zu lösen. Klein und Thompson versprechen uns, dass wir dieser Misere entkommen können. Sie zeichnen das Bild einer Welt um 2050, in der wir alles haben: Saubere und preiswerte Energie, preiswertes Wohnen, makellose Infrastruktur, rasanten medizinischen und technologischen Fortschritt. Abundance ist ein Manifest gegen Degrowth und Abschottung, weg von einer Denkweise, die Begrenzung und Knappheit betont.
Der Weg dorthin? Bauen und Forschen. Wir müssen, so die Autoren, grundlegende Revolutionen in der wissenschaftlichen Forschung ermöglichen und die Hindernisse, die schnelles Bauen unmöglich machen, aus dem Weg räumen. Es gilt unsere Institutionen neu ausrichten und Menschen ausbilden, die diese Zukunft erfinden und bauen.
Mehr Risiko wagen
Klein und Thompson machen dabei konkrete Reformvorschläge. Sie fordern eine umfassende Vereinfachung des Planungsrechts – von Regulierungen über Beteiligungsverfahren bis hin zur Vergabe öffentlicher Aufträge. Bei Risikoabwägungen solle der Staat häufiger mutige Entscheidungen treffen und nicht reflexhaft stets auf maximale Sicherheit setzen. Die zentrale Einsicht der Autoren lautet: Der Staat muss in vielen Bereichen weniger tun, damit er mehr leisten kann – oder überhaupt das schafft, was er sich heute schon vornimmt. Und was er übernimmt, soll er möglichst selbst erledigen können, statt dafür regelmäßig private Unternehmen beauftragen zu müssen. So bräuchte die Daseinsvorsorge nicht outgesourct werden.
Um Forschung und Innovation zu ermöglichen, so Klein und Thompson, müssen wir die bestehenden Strukturen überarbeiten. Dabei betrachten sie die amerikanische Forschungs- und Innovationspolitik und fordern, Macht von der Wissenschaftsbürokratie zurück an die Forschenden zu geben – etwa durch goldene Tickets, die Gutachter vergeben können, durch Pilotprojekte zur Entbürokratisierung oder Lotterien zur Projektvergabe. Diese entstehenden Entdeckungen sollten im Anschluss schnell ihren Weg in den Alltag finden, etwa mit staatlichen Abnahmegarantien für neue Technologien, um deren Entwicklung und Skalierung zu beschleunigen. Die anschaulichen Vorschläge, die die Autoren in all diesen Bereichen machen, sind wichtig, um den Realismus des Anliegens zu verdeutlichen.
Angebot, Angebot, Angebot
Und doch liegt die Faszination ihres Projektes erklärtermaßen nicht hier. Denn die Vorschläge sind weder neu noch allzu einfach gleichzeitig umzusetzen. Stattdessen schlagen die Autoren selbst vor, ihren Vorschlag als etwas Grundlegenderes zu verstehen: Als eine Linse, geschliffen aus den Werten von Überfluss und Fortschritt, durch die wir all diejenigen Probleme betrachten, die unserem Fortschritt als Gesellschaft im Wege stehen.
Dass wir zu wenig Wohnungen bauen, den Staat nicht digitalisieren, keine bahnbrechenden Erfindungen in den Alltag bringen können – diese Probleme verlangen unterschiedliche Lösungen. Aber vielleicht hilft es, wenn wir sie jeweils aus der Perspektive einer auf mehr Angebot ausgerichteten Strategie betrachten. Können wir mehr bauen, schneller und besser forschen, mehr neue Technologien schaffen, mehr saubere Energie bereitstellen? Und wenn wir es bisher nicht können, warum nicht?
Nicht alle Verwunderung, die die Autoren über die verschiedensten Weisen des Staatsversagens mitbringen, ist dabei berechtigt. Spätestens seit den Einsichten der Public-Choice Tradition sollten wir wissen, dass auch oder gerade demokratische Entscheidungsprozesse zu bestimmten Formen der Verhinderung von Veränderung führen können: Kleine Interessensgruppen können sich leichter organisieren, Subventionen und Privilegien für sich erwirken und die Kosten auf die breite Mehrheit abwälzen. Deutsche Bauern und ihre Agrardieselsubvention sind hier ein gutes Beispiel.
Auch ist nicht alles Vertrauen vernünftig, das Klein und Thompson in den Staat haben, diese Probleme auch wieder zu lösen. Denn der durchaus technokratische Ansatz der beiden Autoren muss erfahrungsgemäß dort scheitern, wo dem Staat Wissen oder Anreize fehlen, effizient und schnell Probleme zu lösen. So ist etwa die Pandemieerfahrung – selbst wenn man zugesteht, dass solche Notsituationen aktive Industriepolitik erfordern – eine Fundgrube staatlicher Fehlallokationen. Die Technokratie von Klein und Thompson hat also ihre Tücken.
Eine Bewegung für den Fortschritt
Ganz allein müssen Klein und Thompson die Probleme unserer Welt zum Glück jedoch nicht lösen. Sie sind Teil einer größeren intellektuellen Bewegung, die in den USA über die Bedingungen von Fortschritt nachdenkt. Diese gibt es in linker Ausführung mit Marc Dunkelmans Why nothing works, in konservativer Variante mit James Pethokoukis‘ Conservative Futurist und in klassisch liberale Variationen mit den Ideen von Tyler Cowen, James Crawfords Roots of Progress oder Works in Progress. Diese Progress-Bewegung eint, dass sie optimistisch in die Zukunft schaut und durch Forschung und Technologie die Probleme unserer Zeit lösen will. In Kalifornien trifft sie sich auf Konferenzen und fördert weltweit junge Menschen, die Lösungen vorschlagen, erproben und weiterdenken wollen.
In Deutschland gibt es eine solche Bewegung bislang nicht. Hier erwartet die Bevölkerung zwar die Lösung all ihrer Probleme von der neuen Regierung – bis 2029 muss geliefert werden. Doch interessante Lösungsansätze finden sich im Koalitionsvertrag nicht. Da kommen die Vorschläge von Klein und Thompson gerade recht. Auch wenn uns vieles von den USA trennt, die Probleme sind ähnlich: Es wird zu wenig gebaut, zu wenig erfunden, große Probleme nicht gelöst. Dabei könnte das Land der erfindungsreichen Mittelständler hier sicher Einiges bieten. Noch hält uns jedoch das Unbehagen vor großen optimistischen Ideen zurück. Und wenn gebaut wird, macht das ja auch immer so viel Dreck. Lieber halten wir andere davon ab, unsere Vorgärten zu verschandeln. Eine Bewegung, die von Fortschritt begeistert ist und technische Veränderung als Lösung umarmt, hat es in Deutschland wohl nicht ganz leicht.
Was Klein und Thompson betrifft, so muss der Makel des teils technokratischen Staatsvertrauens die Leistung des Buches nicht schmälern, wenn man es als Teil einer breiteren Progress-Bewegung liest. Abundance bietet eine Utopie, die inspiriert. Und macht Vorschläge, wie wir zu ihr gelangen können. Es lohnt sich, es als Teil eines Puzzles zu lesen, das uns die Zukunft zeigen kann. Die letzte politische Fortschrittskoalition ist gescheitert; vielleicht sollten wir es auch in Deutschland mal mit einer intellektuellen Fortschrittsbewegung versuchen.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.
