Wird China alt, bevor es reich wird?
Chinas Aufstieg zur größten Volkswirtschaft der Welt ist für viele eine ausgemachte Sache. Doch diese Woche meldete Peking die Zahl der Neugeburten im vergangenen Jahr. Und erinnerte damit an die Achillesferse des chinesischen Aufstiegs.
Erst im Dezember war es wieder einmal so weit. Da gab es eine neue Prognose, die voraussagte, wann China zur größten Wirtschaft der Welt aufsteigen wird. China wird die USA überholen und Washington 2028 als größte Volkswirtschaft der Welt verdrängen – fünf Jahre früher als bisher angenommen. Das meldete das britische Centre for Economics and Business Research am Ende des Corona-Jahres.
Politiker und Politikberater lieben den Blick in die Glaskugel. Der Aufstieg Chinas scheint Prognosen geradezu anzuziehen. Wahrscheinlich gibt es so viele Vorhersagen zu Chinas wirtschaftlicher Entwicklung wie es Chinesen gibt: 1,4 Milliarden. Das Problem der meisten dieser Zukunftsprognosen: Sie schreiben aktuelle Entwicklungen fort – und übersehen Faktoren, die in Vergessenheit geraten sind.
Einer dieser Faktoren brachte sich diese Woche mit Nachdruck in Erinnerung: Das chinesische Ministerium für öffentliche Sicherheit in Peking meldete, dass im vergangenen Jahr nur 10,04 Millionen Neugeborene auf die Welt gekommen seien. Im Vergleich zu 11,79 Millionen Geburten im Jahr 2019 entspricht das einem Rückgang von 15 Prozent. Experten sprechen von einem Alarmsignal – und glauben, dass die wirtschaftliche Entwicklung des Landes in Gefahr ist.
Zwar wird das chinesische Statistikamt erst im April die offizielle Zahl der Neugeburten vorlegen. Das Amt verschob die Veröffentlichung der Zahl von Januar auf April, nachdem es im vergangenen Jahr eine Volkszählung durchgeführt hatte. Aber schon jetzt legen regionale Geburtenzahlen nahe, dass der vom Ministerium für öffentliche Sicherheit gemeldete Rückgang in der Tendenz stimmt. In den vergangenen Monaten veröffentlichten mehrere chinesische Städte Daten, die den Geburtenrückgang auf neun bis 26 Prozent beziffern.
Für den Rückgang gibt es viele Gründe. Die in die Höhe schnellenden Immobilienpreise sowie die Ausbildungskosten für Kinder gehören dazu. Ebenso wie das Erbe der Ein-Kind-Politik. Mit dieser 1979 eingeführten Maßnahme wollten die chinesischen Familienplaner das Bevölkerungswachstum kontrollieren, um Nahrungsmittelengpässe zu vermeiden und wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen.
Doch die Geburtenkontrolle schuf neue Probleme: So gilt es in China heute als Norm, nur ein Kind zu haben. Dass die Ein-Kind-Politik 2016 offiziell abgeschafft wurde, änderte nichts daran. Hinzu kommen noch die Probleme jeder modernen Gesellschaft: Die Zahl der Trauungen geht zurück, während die Scheidungsrate steigt.
Für China sind das schlechte Nachrichten. Das Land hat sich zwei „Jahrhundertziele“ gesteckt: 2021, 100 Jahre nach der Gründung der Kommunistischen Partei, will China die Armut beseitigen. Und 2049, 100 Jahre nach der Gründung der Volksrepublik, will das Land ein „starkes, demokratisches, zivilisiertes, harmonisches und modernes sozialistisches Land“ sein, Parteijargon für: die unangefochtene Supermacht. Diese Ziele kann China nur erreichen, wenn es auch in Zukunft kräftig wächst. Aber schon lange befürchten Experten, dass die Bevölkerungsentwicklung Peking einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Das Land könnte alt werden, bevor es reich wird. Die Demografie gilt als die Achillesferse des chinesischen Aufstiegs.
Denn das Bevölkerungswachstum spielt für die wirtschaftliche Entwicklung eines Staats eine maßgebliche Rolle. Die simple Regel lautet: In modernen Gesellschaften mit geringer Säuglings- und Kindersterblichkeit müssen etwa 2,1 Kinder pro Frau geboren werden, um die Bevölkerung – ohne Immigration – auf einem konstanten Niveau zu halten. 2019 bezifferte China seine Geburtenrate auf 1,6. (Deutschland lag bei 1,54.) Doch manche Experten halten selbst diesen Wert für gefälscht. Nach Berechnungen des Familienplanungsexperten Yi Fu-Xian von der University of Wisconsin-Madison lag die chinesische Geburtenrate zwischen 2010 und 2018 bei durchschnittlich 1,18.
Doch dieser Wert scheint kein Ausrutscher, sondern nur der Auftakt eines neuen Trends zu sein. „China ist in eine Niedriggeburtenfalle geraten“, schrieb Liang Jianzhang, Wirtschaftsprofessor an der Guanghua School of Management der Universität Peking, jüngst in einem Artikel: „Obwohl die Zahl der Geburten dieses Jahr die niedrigste der letzten Jahrzehnte war, scheint es wahrscheinlich, dass sie in den nächsten Jahrzehnten die höchste sein wird.“
Wenn die Bevölkerung schrumpft, hat das drastische Auswirkungen auf die Wirtschaft. Weniger Geburten bedeuten weniger Erwerbstätige – was wiederum den Druck auf das Rentensystem erhöht, das auf die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung angewiesen ist. 2019 lebten in China nach Angaben des Statistikamts 254 Millionen Menschen im Alter von mindestens 60 Jahren – das sind 18 Prozent der Gesamtbevölkerung.
In seinem Buch „The 10 Rules of Successful Nations“ beschreibt Ruchir Sharma, was erfolgreiche Staaten von weniger erfolgreichen unterscheidet. Der Inder ist Chefstratege bei der Investmentbank Morgan Stanley in New York. Die erste Regel betrifft das Bevölkerungswachstum: „Erfolgreiche Nationen bekämpfen den demografischen Rückgang“, schreibt Sharma. Was China angeht, kommt der Stratege zu einem nüchternen Schluss: Die sinkende Zahl an Arbeitskräften mache es unwahrscheinlich, dass Chinas Wirtschaft auch in Zukunft um rund sechs Prozent pro Jahr wachsen werde.
Es könnte sein, dass die ein oder andere Prognose zum wirtschaftlichen Aufstieg Chinas noch einmal umgeschrieben werden muss.
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