Und plötzlich wird die Außen­po­litik zum Wahlkampf-Thema: Frank­reichs Präsi­dent­schafts­kan­di­daten in Erklärungsnot

Wahlplakate von Le Pen, Pécresse, Zemmour, Montage: LibMod

Im Wahlkampf ist Frank­reich norma­ler­weise völlig intro­ver­tiert. Der Rest der Welt spielt keine Rolle. Aber nun drängt der Krieg alles andere in den Hinter­grund, und die Kandi­daten müssen Position beziehen.

Für ein Land, das 160 Botschaften, 96 Kultur­in­stitute, und 800 Sprach­zentren in der ganzen Welt unterhält, einen perma­nenten Sitz im Sicher­heitsrat der Vereinten Nationen innehat, zu dem nach wie vor engen Kreis der Nukle­ar­mächte gehört und über 30 000 Soldaten in verschie­denen Krisen­ge­bieten einsetzt, nehmen geopo­li­tische Fragen einen sehr beschei­denen Platz ein, wenn es darum geht, den nächsten Präsi­denten zu wählen.

Im Wahlkampf ist Frank­reich zu einem erstaun­lichen Maße auf Nabel­schau program­miert. Vor zehn Jahren, im TV-Duell zwischen François Hollande und Nicolas Sarkozy, musste der Moderator David Pujadas nach mehr als zweieinhalb Stunden Sendezeit gegen halb zwölf geradezu darum betteln, eine außen­po­li­tisch relevante Frage stellen zu dürfen. So sehr waren die beiden Herren in ausschließlich innen­po­li­tische Themen vertieft. Auf das Bitten des renom­mierten Journa­listen hin ließen sie sich dann herab, kurz vor Mitter­nacht genau elf Minuten über Afgha­nistan und die Sahelzone zu sprechen.

Dieses Jahr zeichnete sich schon dasselbe Bild ab, trotz der simul­tanen EU-Ratsprä­si­dent­schaft Frank­reichs im Wahlkampf­se­mester. Das ist umso verwun­der­licher, als grade der Präsident mehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit Europa- und außen­po­li­ti­schen Verpflich­tungen und Krisen widmet.

Durch den Krieg Putins wird 2022 plötzlich alles anders. Die verblei­benden fünf Wahlkampf­wochen werden von den erschre­ckenden Bildern aus der Ukraine überlagert und grund­legend verändert. Das gilt für die Insze­nierung großer Wahlver­an­stal­tungen, und für die Rhetorik der wichtigsten Kandi­daten. Zumal diese ausnahmslos in Erklä­rungsnot geraten.

Klarer Vorteil für den Amtsinhaber

In Deutschland schüttelt man gerne missbil­ligend den Kopf über die Militär-Parade am Natio­nal­fei­ertag auf den Champs-Elysées. Ein solches Ritual erscheint als ein Relikt des kalten Krieges, autori­tären Regimen vorbe­halten und einer Demokratie schlecht anstehend.

Sozia­li­siert im bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Pazifismus, hat der Autor dieser Zeilen selber zwei Jahrzehnte gebraucht, bis er verstanden hat, wie wenig dies mit einer Glori­fi­zierung der Armee oder gar des Krieges zu tun hat.

Denn in ihrer überwäl­ti­genden Mehrheit sehnt sich die franzö­sische Nation keineswegs nostal­gisch nach Zeiten, in denen Ruhm und Ehre auf Schlacht­feldern erworben wurde. Ganz im Gegenteil: sie war schon 1918 zutiefst kriegsmüde, und an den unzäh­ligen Ehren­malen in den entle­gensten Dörfern wird am Natio­nal­fei­ertag keine Sieges­feier abgehalten, sondern konster­niert und gefasst dem unfass­baren Blutzoll gedacht.

Der zweite Weltkrieg wurde erlebt als Besatzung durch einen übermäch­tigen, aggres­siven Nachbarn, in der sich die Gesell­schaft schmerzlich in oppor­tu­nis­tische Kolla­bo­ra­teure, angepasste Mitläufer und mutige Wider­stands­kämpfer spaltete. Und die Unabhän­gig­keits­kriege im Koloni­al­reich der 50er Jahre lösten, abgesehen von ideolo­gisch verhär­teten Natio­na­lis­ten­kreisen, nirgendwo Begeis­terung aus.

Kriegs­ver­herr­li­chung ist im heutigen Frank­reich nicht gesell­schafts­fähig. Aber das von dem Mut und der Entschlos­senheit Charles de Gaulles dominierte (und entspre­chend jahrzehn­telang sehr selektive) Kollek­tiv­ge­dächtnis hat aus dem Wort „Krieg“ einen Erinne­rungsort gemacht, der eine Situation der fast ausweg­losen Bedrohung herauf­be­schwört, in der es gilt, sich dem Schicksal zu widersetzen.

Dass die sechs­malige Verwendung des Wortes „Krieg“ in Emmanuel Macrons Corona-TV-Ansprache vom 16. März 2020 von vielen deutschen Ohren als unange­brachtes „martia­li­sches“ Pathos empfunden wurde, war genauso vorher­sehbar wie daneben liegend. Für dieje­nigen, an die es gerichtet war klang es eher wie eine ernste, aber nüchterne Beschreibung der Sachlage.

Die tief verwur­zelte Kriegs­mü­digkeit sorgt auch dafür, dass dem Präsi­denten seine vergeb­lichen Versuche, Wladimir Putin auf diplo­ma­ti­schem Wege von einem Angriff auf die Ukraine abzuhalten, nicht als Scheitern ausgelegt werden, sondern als ehrliches, moralisch gebotenes Bemühen. Seine Heraus­for­derer wären schlecht beraten, ihm außen­po­li­tische Schwäche ankreiden zu wollen. Zumal er sie, jetzt da der Krieg da ist, sogar in den Elysée-Palast zu einer Konsul­tation einge­laden hat.

Was sie kriti­sieren werden, ist der quasi-automa­tische Vorteil, den der Amtsin­haber aus der alles überschat­tenden Krisen­si­tuation zieht. Sie erlaubt ihm, sein Profil als inter­na­tional anerkannter Staatsmann zu pflegen und gleich­zeitig den Niede­rungen des Wahlkampfs fernzubleiben.

Zumal er auch in der Sache seit Jahren eher richtig lag. Seine harte Kritik an der NATO („hirntot“) mag überzogen gewesen sein, aber sie war auch ein Wachrüttler. Seine wieder­holte Forderung nach mehr europäi­scher Eigen­ver­ant­wortung in Vertei­di­gungs­fragen stellt sich als zeitgemäß heraus. Und intern ist er der erste Präsident seit langer Zeit, der die natur­gemäß kostspielige (und entspre­chend jahrelang verschobene) Moder­ni­sierung der franzö­si­schen Armee durch eine konstante, progressive Erhöhung des Vertei­di­gungs­etats in Angriff genommen hat.

Das alles bietet wenig Angriffs­fläche. Und für die Heraus­for­derer kommt noch erschwerend hinzu, dass sie sich plötzlich recht­fer­tigen müssen für frühere Äußerungen und Stellung­nahmen zur Person Putins und zur russi­schen Großmachtpolitik.

Russland-Versteher unter Druck

Alle vier Kandi­daten, die gegen­wärtig in den Umfragen oberhalb der 10%-Schwelle liegen und sich noch Hoffnungen auf einen Platz im zweiten Wahlgang machen, sind davon mehr oder weniger belastet.

Am einfachsten wird sich noch Valérie Pécresse von der (vormals) moderaten Rechten aus der Affäre ziehen. Ihr selbst kann man keine Kreml-Nähe nachsagen, der Clique der Russland-Versteher in ihrer Partei (wie immer lautstark angeführt von Nicolas Sarkozy) hat sie sich nie angeschlossen. Und es ist ihr gelungen, das Problem François Fillon zu entschärfen. Der ehemalige Premier­mi­nister und über einen Skandal gestol­perte Präsi­dent­schafts­an­wärter von 2017 hatte zwei wohldo­tierte Aufsichts­rats­sitze in den Energie­kon­zernen Sibur und Zarubezhneft angenommen. Von beiden trat er jetzt zurück, augen­scheinlich nach einem Gespräch mit Valérie Pécresse, und erklärte in einem Zeitungs­ar­tikel, er habe sich über Putins wahre Absichten getäuscht.

Schwie­riger wird es für Marine Le Pen werden, sich von dem Bild einer Putin-Huldi­gerin zu befreien. In chroni­schen Finan­zie­rungs­nöten hatte sie für ihren Wahlkampf 2016/​17 einen Kredit von 9 Millionen Euro bei einer Moskauer Bank bekommen. Peinlicher ist indes der Wirbel, den sie damals im Wahlkampf um eine persön­liche Audienz bei Putin machte (damals noch an einem kleinen runden Kaffee­tisch), wobei sie mit lobprei­senden Worten nicht sparte und die EU-Sanktionen gegen die Krim-Annexion scharf kriti­sierte: „Mein Stand­punkt zur Ukraine deckt sich mit dem Russlands.“ Gut zu wissen. Das bei dieser Gelegenheit geschossene Handshake-Foto mit Putin findet sich jetzt ganz aktuell im bereits in 1,2 Millionen Exemplaren gedruckten Wahlkampf­trakt wieder, wie Libération dieser Tage genüsslich berichtete.

Eingeholt von früheren Lobes­hymnen auf Wladimir Putin wird auch Eric Zemmour, der noch vor wenigen Tagen in einem TV-Interview recht großspurig eine Wette gegen jede militä­rische Aggression eingehen wollte. Jetzt windet er sich nach Erklä­rungen für seinen lauthals vorge­tra­genen „Traum von einem franzö­si­schen Putin“ aus dem Jahr 2018 und seiner wieder­holten Bewun­derung für den „wahren Patrioten“ und Vertei­diger des christ­lichen Abend­lands („die letzte Bastion des Wider­stands gegen den Sturm der politi­schen Korrektheit“). Auch hatte er sich die Putinsche Doktrin, wonach die Ukraine eigentlich keine Existenz­be­rech­tigung habe, zu eigen gemacht und seit Jahren die angeb­liche Aggression Russlands durch den Westen gegeißelt. Für den laufenden Wahlkampf wird die Exhumierung dieser zahlreichen Zitate kaum dienlich sein.

Anders ist die Ausgangslage beim Vertreter der radikalen Linken, Jean-Luc Mélenchon, dem es trotz seiner unbestrit­tenen Gelehrtheit und Eloquenz über die Jahre nie gelungen ist, seinen prinzi­pi­ellen Anti-Ameri­ka­nismus zu nuancieren. In seiner Welt können Russland, Kuba oder Venezuela nur Opfer des ameri­ka­ni­schen Imperia­lismus sein, und das Verständnis für die Putinsche Auffassung von „Souve­rä­nität“ zieht sich wie ein roter Faden durch seine Äußerungen. Immerhin: auf Russland-Besuch traf er sich auch mit Dissi­denten, und Sympathie für die real existie­rende russische Demokratie kann ihm nicht nachgesagt werden. Jetzt ringt er sich durch, den Einmarsch in die Ukraine halbherzig zu verur­teilen und fokus­siert sich auf die EU-Sanktionen, die ihm gleich­zeitig illegitim und lächerlich erscheinen – ein leicht gequält wirkender Ansatz, die nur innerhalb seiner Partei Anklang finden wird.

Was die Fallbei­spiele verdeut­lichen, ist die Effizienz des prorus­si­schen Lobbyings, das die franzö­sische Politik über zwei Jahrzehnte im Putin­schen Sinne bearbeitet hat. Auch Emmanuel Macron, dem es sicherlich nicht an Klarsicht mangelt, konnte sich einer gewissen Faszi­nation für den bonapar­tis­ti­schen Werdegang des Weltmacht-Führers nicht komplett erwehren (man denke an den pompösen Empfang Putins im Schloss von Versailles 2017, anlässlich einer Ausstellung über Peter den Großen). Aller­dings hat er sich nie kompro­mit­tiert. Und seine République en Marche profi­tiert gewis­ser­maßen von der „Gnade der späten Geburt“.

Wahlkampf in Schockstarre

Die Weltpo­litik hat sich in den franzö­si­schen Wahlkampf einge­laden und wird so schnell nicht wieder verschwinden. Fieberhaft suchen die Kandi­daten nach dem richtigen Ton und einer angemes­senen Vorge­hens­weise, instinktiv wissend, dass die große Mehrheit der Bevöl­kerung jetzt kein klein­liches Gezeter hören will. Zumal sich das Weltge­schehen auf allen Bildschirmen breit­macht. Sogar die Abend­nach­richten auf den Haupt­sendern, die tradi­tionell alle auch nur annähernd außen­po­li­tisch wirkenden Inhalte notorisch vermeiden und seit Jahren die Zahl ihrer Auslands-Korre­spon­denten beschämend herun­ter­fuhren, haben erkannt, dass ihre Zuschauer sehr wohl verstehen, dass die Ukrainer vor unseren Augen der Kampf um Freiheit, Selbst­be­stimmung und Demokratie stell­ver­tretend ausfechten.

Plötzlich geht es um Krieg und Frieden. Da werden die seit Monaten hyste­risch gepushten Themen wie die ach, so bedrohte nationale Identität auf ihren wahren Rang zurecht­ge­stutzt. Man besinnt sich aufs wirklich Wesent­liche. Eine gesunde Lektion, egal, was der Wahlkampf noch bringen wird.

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