Liberalismus neu denken: Brauchen wir einen „Liberalismus der Furcht“?
Der Liberalismus zielt darauf ab, dass jeder Einzelne frei ist, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben, ungehindert durch die Furcht vor willkürlicher Gewalt und sozialer Not. Angesichts neuer innerer und äußerer Bedrohungen für freie Gesellschaften brauchen wir einen Liberalismus, der verhindert, dass Furcht zur dominierenden Stimmungslage wird, argumentiert Amichai Magen.
Liberalismus – ein Begriff, der lange Zeit großen konzeptionellen Umdeutungen und Missbrauch unterworfen war – ist eine politische Überzeugung, deren Vertreter sich dem Streben nach Wohlergehen der Menschen durch Ausübung individueller Freiheiten, wirtschaftlicher Offenheit, beschränkter und egalitärer Kontrolle durch Regierungen und Rechtsstaatlichkeit widmen. In ihrem Kern beruht sie auf Anerkennung von überragendem Wert und Würde jedes einzelnen menschlichen Wesens und letztendlich des Lebens selbst.
Die zentrale politische Mission des Liberalismus besteht darin, die für die möglichst vollständige Verwirklichung dieses überragenden individuellen Wertes und des damit verbundenen einzigartigen menschlichen Potentials erforderlichen Bedingungen sicherzustellen. Demzufolge lehnt er jegliche politische Doktrin und alle Regierungssysteme ab, die diesen Unterschied zwischen der Sphäre des Persönlichen und der des Staates, zwischen dem Bereich des individuellen Privatlebens (einschließlich des Lebens in der Familie und der Gemeinschaft) einerseits und dem staatlichen Bereich andererseits nicht respektieren.
Der Liberalismus verlangt als Mindestes, dass jeder Person gestattet sein muss, die Geschichte ihres Lebens selbst zu schreiben – ungehindert von Angst, Grausamkeit oder zerstörerischer Einmischung – soweit dies mit der entsprechenden Freiheit aller anderen Personen vereinbar ist. Die von den Einzelnen geschriebene Geschichte kann eine Heldengeschichte, eine bittersüße Komödie oder die Geschichte eines tragischen Versagens werden. Liberalismus besteht nicht auf einem Happyend, aber er besteht darauf, dass die Einzelnen ihre Geschichte selbst schreiben dürfen.
Mit anderen Worten: Liberalismus ist im Wesentlichen eine unserer Zeit entsprechende politische Suche nach einer Existenz, in der Menschen keine Angst haben müssen vor Vernichtung, willkürlicher Gewalt, unnötigem Zwang oder Verletzung dessen, was Isaiah Berlin in seiner typischen Untertreibung als „ein bestimmtes Minimum persönlicher Freiheit, die auf gar keinen Fall verletzt werden darf“ bezeichnet.[1]
Der Liberalismus der Furcht
Dieser „Liberalismus der Furcht“ auf den Montesquieu und Constant schon anspielten, der jedoch erst von Judith Shklar 1989 in ihrem brillanten Kapitel mit diesen Titel ausführlich behandelt und erforscht wurde, ist nicht die einzige Art im Stammbaum liberaler Traditionen, bei der sich die Suche nach Ideen für eine liberale Erneuerung des einundzwanzigsten lohnen würde.[2] Shklar erkennt dies selbst an, indem sie auf andere Arten des Liberalismus Bezug nimmt, insbesondere den „Liberalismus der natürlichen Rechte“ und den „Liberalismus der persönlichen Entwicklung“, die sich vom Liberalismus des Furcht unterscheiden.[3]
Ein weiterer Vorbehalt ist noch anzuführen, bevor ich mich der Aufgabe zuwende, eine Lanze für einen „Neuen Liberalismus der Furcht“ als eine Möglichkeit der liberalen Erneuerung zu brechen. „Furcht“ ist oberflächlich betrachtet ein unattraktives Mittel für den liberalen Überreder. Der Geruch der Angst gilt normalerweise als widerwärtig. Hoffnung, Einhörner und das Versprechen freier Liebe sind verständlicherweise die bevorzugten Marketinginstrumente des politischen Wahrsagers.
Der Liberalismus der Furcht leidet demzufolge unter einem ihm innewohnenden Marketingproblem. In diesem Sinne ist er ein wenig wie Isaiah Berlins Begriff der „negativen Freiheit“ – weise, aber nicht attraktiv.[4] Der durchschnittliche Verbraucher politischer Ideen wird im Liberalismus der Furcht keine kuschlige Bequemlichkeit finden. Was ihn nach Shklars eigenen Worten von den anderen Arten des Liberalismus unterscheidet ist, dass er völlig „nichtutopisch“ ist.[5]
Der Liberalismus der Furcht schaut dem Schrecken geradewegs ins Gesicht und schaudert. Er ist sich der Abgründe, in die menschliche Wesen sinken können, und des Ausmaßes der Grausamkeit und Zerstörung, denen wir zerbrechliche Menschen – insbesondere durch institutionalisierte Gewalt – ausgesetzt werden können, aufs Deutlichste bewusst.
Der Liberalismus der Furcht ist durch eine schreckliche Bescheidenheit der Ansprüche gekennzeichnet. Es ist der Liberalismus der Schadensbegrenzung und des „gerade gut genug, um sich durchzuwursteln“. Es ist der Liberalismus des Vermeidens von Auschwitz-Birkenau, der sowjetischen Gulags und – in unserer Zeit – der Gewalt gegen die Jesiden, des Hungers der Jemeniten oder der Gefangenlager in Nordkorea und Xinjiang. Sein wichtigstes und in mancher Hinsicht urtümliches Ziel besteht darin, uns darauf zu konzentrieren, dass wir das Schlimmste, das uns geschehen könnte, vermeiden, statt anzunehmen, dass es irgendwie nicht dazu kommen wird oder uns von den verlockenden, aber falschen utopischen Versprechen einer von Tragik freien Welt verführen zu lassen.
Ein Liberalismus der Schadensbegrenzung
Der „neue Liberalismus der Furcht“ beginnt damit, dass er die historische Amnesie abschüttelt, die unsere Kultur seit 1989 durchdrungen hat. Zufrieden, selbstgefällig und mehr als nur ein wenig naiv schlummerten wir nach 1989 unter der warmen Decke des Triumphes – im Vertrauen darauf, dass das Ende der Geschichte gekommen wäre, dass sich der Weg des moralischen Universums unabwendbar der Gerechtigkeit zuwenden würde und dass sich der Rest der Welt unausweichlich einer sich stetig ausbreitenden Liberalen Internationalen Ordnung zuwenden würde
Unter dem Einfluss des Fukuyama-Komas wurde es dem Liberalismus gestattet, zu stagnieren und zu verfallen. Ironischerweise begingen wir Liberalen die Todsünde des Marxismus – die Sünde des historischen Determinismus. Wir ließen uns treiben und verspielten zum großen Teil die durch harte Arbeit errungene Friedensdividende, die uns der Sieg in heftigen Kämpfen gegen Faschismus, Nazismus und Sowjet-Kommunismus im Laufe des blutigen zwanzigsten Jahrhunderts eingebracht hatte. Wir vernachlässigten die Pflege der Tugenden, Werte und Institutionen, von denen das Überleben moderner liberaler Demokratien abhängt – aktive und engagierte Bürgerbeteiligung, wirksames Funktionieren des Staates und leistungsfähige öffentliche Einrichtungen, echte demokratische Rechenschaftspflicht, um sicherzustellen, dass die Regierungen im Interesse der Mehrheit tätig sind, und Rechtsstaatlichkeit, um diejenigen zu zügeln, die ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht dazu nutzen, Zwang über die Übrigen auszuüben.
Auf diesem Weg haben wir viele unserer Mitbürger zurückgelassen, denn wir haben törichterweise das oberste Prinzip des modernen Liberalismus außer Acht gelassen, nämlich dass die Zustimmung der Regierten die einzige solide Basis für eine funktionierende demokratische Ordnung ist. Wir geben vor, dass die dunklen Seiten der Globalisierung entweder nicht vorhanden sind oder keine große Rolle spielen (dass sie bald durch das Wirken der Kräfte der liberalen Konvergenz verschwinden werden) oder dass sie allein durch die unsichtbare Hand des Marktes wirksam im Zaum gehalten werden könnten. Wir haben versäumt, mit sich beschleunigender Konnektivität, Komplexität und zerstörerischen angsteinflößenden technischen Entwicklungen Schritt zu halten. Wir haben es nicht geschafft, überzeugende liberale Lösungen für große, neu heraufziehende Bedrohungen zu entwickeln, wie z.B. für den chinesischen Autoritarismus, Umweltzerstörung, unkontrollierte Migration, entstaatlichte Regionen, Verbreitung von Kernwaffen, Pandemien, unkontrollierte künstliche Intelligenz und eine degradierte Informationsökologie, die uns in die Gefahr bringt, dass wir unsere Fähigkeit, uns auf grundlegende wissenschaftliche und historische Tatsachen zu einigen, verlieren.
Der „Neue Liberalismus der Furcht“ fordert ein stark entwickeltes historisches Gedächtnis und eine auf geschichtlicher Grundlage aufgebaute Vorstellung von der Zukunft der Menschheit. Demzufolge würde er die Geschichte wieder ins Spiel bringen, und zwar auf drei unterschiedlichen Wegen:
Zum Ersten würde er unter Umschreibung dessen, was Hal Brand und Charles Edel schrieben, darauf bestehen, dass ein Verständnis für Tragik unabdingbar bleibt für Politik, Regierungskunst und die Erhaltung der Weltordnung.[6] Wenn wir vergessen, welche Zerbrechlichkeit den liberalen Ordnungen innewohnt und wie sehr sie ständiger Verteidigung, fortgesetzten Schutzes und stetiger Aktualisierung bedürfen, werden wir unaufhaltsam Vergessenheit und Verfall anheimfallen.
Für die Moral der liberalen Ordnungen eintreten
Zum Zweiten würde er Zeit und Kraft investieren, um Partei für die Moral (ja, Moral, nicht nur Effizienz) der liberalen Ordnungen zu ergreifen. Er würde stolz die seit Beginn der liberalen Ära und insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten bei allen Indikatoren für menschliches Wohlergehen dort wo liberale Werte und Einrichtungen Wurzel gefasst haben, erreichten erstaunlichen Fortschritte der Menschheit, darstellen und feiern. Er würde die fantastischen 3.000 Prozent Zuwachs des realen BIP seit 1800 für die ärmsten Menschen hervorheben und zeigen, dass in den vergangenen drei Jahrzehnten der größte Teil dieser „Großen Bereicherung“ nicht im „weißen Amerika“ oder Westeuropa, sondern im sich liberalisierenden Lateinamerika, Osteuropa, China, Indien und immer mehr auch Afrika stattfand.[7]
Der „Neue Liberalismus der Furcht“ würde aktiv danach streben, gegenwärtigen und künftigen Generationen die wahre Bedeutung der folgenden statistischen Angaben verständlich zu machen – als Zahl der verschonten, verbesserten, bereicherten und befreiten Menschenleben: 1950 lag die Lebenserwartung weltweit bei unter 30 Jahren, heute beträgt sie 72,6 Jahre. 1950 betrug die Kindersterblichkeit 24. Das bedeutet, dass fast eins von vier Kindern vor Erreichen des fünften Geburtstages starb. Heute sind es 4 Prozent. 1950 lebten 63,5 Prozent der Weltbevölkerung in extremer Armut, heute sind es weniger als 9 Prozent. Und 1950 lebten nur 10 Prozent der Weltbevölkerung in Demokratien, heute – auch nach eineinhalb Jahrzehnten weltweiten Demokratieabbaus – leben 56 Prozent der Menschen in Demokratien.[8] Dies ist ein erstaunlicher Rekord materiellen und moralischen Fortschritts. Dieser Fortschritt ist nicht perfekt, er ist unvollständig und zerbrechlich, aber er ist auch unschätzbar gut und verdient unsere Dankbarkeit, unseren Schutz und ständige Weiterentwicklung.
Als Letztes ist hier anzuführen, dass der „Neue Liberalismus der Furcht“ dafür eintreten würde, dass ein Neudenken des Liberalismus auch eine Erweiterung unserer Vorstellungen von Geschichte umfassen muss, und zwar nicht nur hinsichtlich der Vergangenheit mit ihrer ständigen Wiederholung von Erfolgen und Versagen, Triumphen und Verbrechen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft. Ein Neudenken des Liberalismus muss eine Verpflichtung enthalten, wie sie Toby Ord in seiner wundervollen Widmung seinem Buch „The Precipice“ vorangestellt hat: „Den hundert Milliarden Menschen vor uns, die unsere Zivilisation geschaffen haben; den sieben Milliarden jetzt Lebenden, deren Handlungen möglicherweise unser Schicksal bestimmen; den Trillionen nach uns, deren Existenz in der Waagschale liegt.“[9]
Leben in Furcht macht uns unfrei
Die Antwort auf die Frage ob wir in einer freien Gesellschaft leben oder nicht, hängt nach dem Verständnis des „Neuen Liberalismus der Furcht“ stark von der kollektiven Psychologie ab. Shklar schrieb „Wir fürchten eine Gesellschaft ängstlicher Menschen“, denn systematische Angst der Massen macht menschliche Freiheit unmöglich.[10] Wenn wir in Angst leben, sind wir fundamental unfrei.
Hightech-Tyranneien wie die von der chinesischen kommunistischen Partei angebotene können „effizienter“ sein als die Politik der Unvollkommenheit, persönlichen Wahlfreiheit und Unsicherheit, die der Liberalismus bietet. Aber welchen Nutzen bringt eine solche Effizienz dem menschlichen Geist? Worin liegt ihr Sinn, wenn sie uns in eine riesige Kolonie ängstlicher, sich duckender Sklaven verwandelt? Ähnlich steht die Frage nach dem Sinn unserer menschlichen Zivilisation, wenn wir unseren Planeten unbewohnbar machen oder es unkontrollierter künstlicher Intelligenz gestatten, Amok zu laufen und uns in Sklaverei oder sogar Ausrottung zu stürzen. Der Neue Liberalismus der Furcht blickt in diesen seelenlosen Abgrund möglicher dystopischer Fallgruben und schaudert. Er weigert sich, sanft in diese alptraumhaften Nächte hinüber zu dämmern. Er bäumt sich auf gegen das Erlöschen des Lichts.
Liberale haben zu unterschiedlichen Zeiten Verschiedenes gefürchtet und haben deshalb danach gestrebt, politische Ordnungen zu schaffen und anzupassen, die sich einer Abfolge sich ändernder Ängste entgegenstellen. Der frühe moderne Liberalismus – und es gab keinen Liberalismus in der Welt vor der Moderne – entstand aus dem von religiöser Intoleranz und Krieg hervorgerufenen Chaos und Gemetzel. Die Angst vor religiösem Zwang ist der Ursprung des modernen Liberalismus. Allmählich – im Laufe des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts – stellten wir fest, dass Toleranz der Grausamkeit des religiösen Fanatismus überlegen war.
Dann, in einer zweiten Welle des Kampfes darum, welche politische Ordnung herrschen sollte, erwiesen sich die Prinzipien und Institutionen eines begrenzten und egalitären Staates als vorteilhafter – militärisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und in Hinsicht auf das persönliche Glück – als der Absolutismus. Als der Leviathan dann die Macht übernommen hatte, stellten wir fest, dass er uns noch leichter und systematischer verschlingen könnte als es die Mächte der Vormoderne je gekonnt hätten. Demzufolge haben wir immer neue Mechanismen erfunden um den Leviathan zu zähmen. Wir haben dafür verschiedene Bezeichnungen, zum Beispiel als bürgerliche und politische Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Konstitutionalismus, Föderalismus und letztlich als moderne repräsentative Demokratie. Diejenigen Gesellschaften, die diese Mechanismen einführten und anwandten, errangen größere Macht, Wohlhabenheit und Dynamik.
Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelten sich unsere liberalen Ordnungen weiter – national, regional und international – denn wir begannen, Armut, totalen Krieg und den Aufstieg kollektivistischer totalitärer Ideologien und Staaten zu fürchten. Angespornt von diesen Ängsten stellten sich auf Nationen begründete, marktbasierte liberale Demokratien ihren imperialen, faschistischen, nazistischen und sowjetkommunistischen Gegnern entgegen und besiegten diese letztendlich.
Aus dieser Sicht betrachtet sind die gegenwärtigen liberalen Ordnungen im Wesentlichen „dreifach destillierte“ Systeme normativer und institutioneller Güter, geschaffen im Laufe von Jahrhunderten im Zuge einer Abfolge historischer Kämpfe, aus denen die „liberale Lösung“ siegreich hervorging, indem sie sich als ihren Opponenten überlegen erwies hinsichtlich der Schaffung physischen und ontologischen Wohlbefindens. Unsere modernen Formen der liberalen Ordnung, deren Genom aus Toleranz, begrenztem staatlichen Einfluss, auf Freiwilligkeit basierender repräsentativer Demokratie und Marktwirtschaft besteht, sind das Ergebnis wiederholter Infragestellung und Auswahl, aus denen sie stets als Sieger hervorgingen. Die liberale Ordnung hat überlebt und sich durchgesetzt, weil sie sich hinsichtlich der Gewährleistung physischer und ontologischer Sicherheit als überlegen erwies. Gleichzeitig herrscht jedoch eine kalte evolutionäre Logik. Falls es den liberalen Ordnungen nicht gelingt, sich wieder dem Wettbewerb zu stellen und ihre Überlegenheit erneut zu beweisen, müssen wir damit rechnen, dass antiliberale Angriffe zunehmen und immer mehr Menschen diesen Ordnungen abtrünnig werden.[11]
Die Angst vor menschlicher Redundanz
Was fürchten wir heutzutage am meisten? In einigen Ländern fürchten wir immer noch, was Locke, Constant, Mill, Popper, Hayek, Arndt, Berlin, Solschenizyn und Shklar in der Vergangenheit fürchteten – die ungleiche Macht des autoritären und räuberischen Staates über das Individuum. Und doch würde der „Neue Liberalismus der Furcht“ zugeben – mit einer Prise Skepsis gemischt mit vorsichtiger Zufriedenheit – dass das, was wir in den meisten der jetzt bestehenden Gesellschaften die meiste Zeit über am stärksten fürchten, nicht die Macht des Staates ist. Tatsächlich ist es in vielen Ländern mit einem schwachen Staat (darunter Irak und Libyen, Syrien, Somalia, Kongo und Haiti, um nur einige traurige Beispiele zu nennen) so, dass das, was die Menschen am meisten fürchten, die Folgen des Fehlens eines funktionierenden Staates sind.
Letztendlich ist das, was wir – in den bis vor Kurzem leichthin als „Freie Welt“ bezeichneten Ländern – am meisten fürchten, ein künftiges Überflüssigwerden der Menschheit. Wir fürchten physische Redundanz infolge existenzieller Katastrophen wie dem demografischen Wandel, dem Klimawandel, einem unüberwindbaren Zusammenbruch der Zivilisation oder unüberwindlicher Dystopie im Ergebnis natürlicher oder von Menschen hervorgerufener Bedrohungen. Wir fürchten, dass unkontrollierte Kräfte der Finanzmärkte, Big-Tech-Algorithmen und allgegenwärtige Überwachung durch Unternehmen und Behörden den Menschen vollständig seines wirtschaftlichen und politischen Einflusses berauben. Wir fürchten eine metaphysische Redundanz durch den Verlust von Bedeutung, Sinn, Zugehörigkeit und Bindung – nicht so sehr in Folge einer mit dem Industriezeitalter einhergehende Entfremdung, sondern durch die Übernahme durch Maschinen und künstliche Biologie des Digitalzeitalters. Wir fürchten sogar eine epistemische Redundanz dadurch, dass sehr bald KI und Deep-Fake-Technologien sehr wohl in der Lage sein werden, es gewöhnlichen Menschen unmöglich zu machen, mit der immer schneller zunehmenden Komplexität der Welt zurechtzukommen oder den Unterschied zwischen Tatsachen und Aussagen einer Verschwörungstheorie zu erkennen.
Die Herausforderung, vor der wir Liberale gegenwärtig stehen, besteht darin, uns der Redundanz, also dem Überflüssigwerden der Menschheit entgegen zu stellen und diese Entwicklung umzukehren. Wir brauchen einen neuen humanistischen Liberalismus, der gleichzeitig die zentralen Werte des traditionellen Liberalismus vertritt und eine bessere Weiterentwicklung der Menschheit gewährleistet als die von unseren autoritären und kollektivistischen Opponenten angebotenen Lösungen.
Die Herausforderung, vor die uns der „Neue Liberalismus der Furcht“ stellt, ist sehr groß, möglicherweise existenziell, aber die Lage ist nicht völlig aussichtslos. Wie Bernard Williams in seinen eigenen Mediationen zu dem Text von Judith Shklar aussagte: „der Liberalismus der Furcht beschränkt sich nicht auf Warnungen und Mahnungen. Falls es gelingt, grundlegende Freiheiten zu gewährleisten und grundlegende Ängste zu beschwichtigen, wird sich die Aufmerksamkeit des Liberalismus der Furcht anspruchsvolleren Konzepten der Freiheit zuwenden ...“[12] Uns direkt, entschlossen und kreativ mit den schlimmsten Ängsten unserer Zeit zu befassen, ist möglicherweise die beste Möglichkeit, voranzuschreiten und wieder einen Liberalismus der Hoffnung zu erreichen.
[1] Isaiah Berlin, „Two Concepts of Liberty“, in Four Essays on Liberty (Oxford: Oxford University Press, 1969) S. 118–172 auf S. 122.
[2] Zu Montesquieus Bezugnahme auf das menschliche Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit als Vorbedingung für politische Freiheit siehe Montesquieu, The Spirit of the Laws, in der Übersetzung von Cohler, Miller und Stone (Cambridge, 1989), S. 157. Auch Benjamin Constant denkt in seinem Vortrag „The Liberty of the Ancients Compared with That of the Moderns“ von 1819 über das Verhältnis von Sicherheit, Angst und Freiheit nach. Judith N. Shklar, “The Liberalism of Fear”, in Liberalism and the Moral Life, Nancy L. Rosenblum (Hrsg..) (Harvard 1989) S. 21–38.
[3] Shklar, ibid. S. 26–27
[4] Berlin, Supra, Anmerkung 1.
[5] Ibid. S. 26.
[6] Siehe: Hal Brands und Charles Edel, The Lessons of Tragedy: Statecraft and World Order (Yale University Press, 2019).
[7] Die vollständigen Angaben finden Sie in der Datenbank The Maddison Project Database 2020 (https://www.rug.nl/ggdc/historicaldevelopment/maddison/releases/maddison-project-database-2020?lang=en). Zusammenfassung und Analyse siehe: Deidre N. McCloskey, Bourgeois Equality: How Ideas, Not Capital or Institutions, Enriched the World (Chicago University Press, 2016); Steven Pinker, Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (Viking, 2018).
[8] Zahlen aus Our World in Data (unter https://ourworldindata.org/a‑history-of-global-living-conditions-in-5-charts). Zur Lebenserwartung siehe https://ourworldindata.org/life-expectancy#:~:text=The%20divided%20world%20of%201950,achieved%20in%20a%20few%20places.
[9] Im Original: „To the hundred billion people before us, who fashioned our civilization; To the seven billion now alive, whose actions may determine our fate; To the trillions to come, whose existence lies in the balance.” Toby Ord, The Precipice: Existential Risk and the Future of Humanity (Hachette, 2020).
[10] Shklar, Supra, Anmerkung 3, S. 29.
[11] Siehe: Amichai Magen, Liberal Order in the Twenty-First Century: Searching for Eunomia Once Again, 139/2–4 Journal of Contextual Economics (2019) 271–284.
[12] Bernard Williams, In the Beginning Was the Deed: Realism and Moralism in Political Argument (Princeton University Press, 2005) S. 60.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.