Aufstieg der Nietz­scheaner – Warum Political Correct­ness doch nicht so falsch ist

Shut­ter­stock

Seit 2015 wird bis in den Main­stream hinein die Auffas­sung vertreten, links­li­be­rale Sprach­ver­bote hätten den Aufstieg der AfD provo­ziert. Nach dieser Theorie kehrt der bundes­re­pu­bli­ka­ni­sche Konsens zurück, wenn sich der Diskurs für rechte Posi­tionen öffnet. Vor dieser Strategie warnt der katho­li­sche Publizist Andreas Püttmann: Wenn Natio­na­lismus, Sozi­al­dar­wi­nismus und Argwohn gegen Menschen­gruppen in die poli­ti­sche Mitte einsi­ckern, wankt der mora­li­sche Boden. Sein Essay ist ein Plädoyer für eine diffe­ren­zierte „Political Correctness“. 

„Christ und Welt“, Beilage der Wochen­zei­tung „Die Zeit“, mahnte vor einem Jahr (26.10.2017) in einem Essay von Raoul Löbbert zur „Vorsicht vor dem Über­men­schen“: „Der mora­li­sche Boden wankt, auf dem die Bundes­re­pu­blik fast 70 Jahre blühte. Denn mehr als ums Detail wird heute ums Menschen­bild gestritten.“ Das Indiz:  „Wie Pilze schießen neuer­dings Nietz­scheaner aus dem deutschen Waldboden“. Friedrich Nietz­sches Idee, Nächs­ten­liebe schwäche den Menschen und hindere ihn daran, großartig und notfalls auch grausam zu sein, blitzt zum Beispiel auf in Rolf Peter Sieferles posthum erschie­nenen Traktat „Finis Germania“, das für ein neues „Pathos der realis­ti­schen Härte“ und ein „Ende über­kom­mener mora­li­scher Bedenken“ wirbt, oder in Peter Sloter­dijks Rede von einem „Abwehr­system“ gegen Flücht­linge, „zu dessen Konstruk­tion eine wohl­tem­pe­rierte Grau­sam­keit vonnöten ist.“

Die Vertei­di­gung des Vorrangs von Recht und Moral vor bloßem Willen und Interesse – oder unge­ord­neten Impulsen wie Zorn und Empörung – wird umso besser gelingen, je authen­ti­scher, trans­pa­renter, diffe­ren­zierter und reali­täts­näher ethische Perspek­tiven in poli­ti­sche Debatten einge­bracht werden. 

Solche intel­lek­tu­elle Inspi­ra­tion ist Musik in den Ohren xeno­phober und auto­ri­tärer Rechts­po­pu­listen, etwa des Thüringer AfD-Frak­ti­ons­chefs Björn Höcke, der im November 2015 die Rassen­theorie wieder aufleben ließ, indem er in der Migra­ti­ons­frage Menschen in den „lebens­be­ja­henden afri­ka­ni­schen Ausbrei­tungstyp“ und den „euro­päi­schen Platz­hal­tertyp“ einteilte. Martia­lisch vita­lis­ti­sche Töne richten sich aber auch gegen innere Feinde: Im Landtag von Sachsen-Anhalt gab Höckes Partei­freund André Poggen­burg die Parole aus, „links­extreme Lumpen“ gelte es als „Wucherung am deutschen Volks­körper endgültig loszu­werden“. Die Botschaft: Wo es ums Überleben geht, darf man nicht skrupulös, nicht zimper­lich sein. Statt mora­li­scher Normen sei die Erkenntnis und robuste Wahr­neh­mung von Inter­essen gefragt, wenn man beim „survival of the fittest“ nicht auf der Strecke bleiben wolle.

Natio­na­listen und Sozi­al­dar­wi­nisten gegen „huma­ni­ta­ris­ti­sches Theater“

Der AfD-Bundes­tags­ab­ge­ord­nete und Partei­phi­lo­soph Marc Jongen, Befür­worter einer „Entsiffung des Kultur­be­triebs“, will es aber nicht bei diesem rational-egois­ti­schem Kalkül belassen. Er bemängelt eine „thymo­ti­sche Unter­ver­sor­gung“ der Deutschen, eine Armut an Zorn, Wut, Empörung. Das altgrie­chi­sche „Thymos“ beschreibe eine der drei „Seelen­fa­kul­täten“ neben Logos und Eros, der Vernunft und der Lust, und sei zu Unrecht in Verruf geraten. Darunter leide unsere Wehr­haf­tig­keit gegenüber anderen Kulturen und Ideo­lo­gien, etwa dem Islamismus. 

Portrait von Andreas Püttmann

Andreas Püttmann ist Poli­tik­wis­sen­schaftler und freier Publizist

Es über­rascht nicht, dass unter der Logik und Befind­lich­keit eines robusten Egoismus völkische Natio­na­listen und sozi­al­dar­wi­nis­tisch radi­ka­li­sierte Wirt­schafts­li­be­rale politisch zusammen finden – wenn nicht in einer Partei, dann zumindest in gemein­samer Oppo­si­tion gegen das „huma­ni­ta­ris­ti­sche Theater“ (Michael Klonovsky) von „Gutmen­schen“ und „Altpar­teien“. Insbe­son­dere mit der Kirche und ihrer vermeint­li­chen Skla­ven­moral haben die neuen Nietz­scheaner nichts am Hut. Der Nächste „ ist für sie sekundär, egal ob in Syrien, Afrika oder Ober­hessen“; sie sehen „nie den Einzelnen. Afri­ka­ni­sche Männer gibt es bei ihnen nur im Plural, ohne Gesicht, ohne Geschichte, dafür mit dunkler Haut und dunklen Absichten“, so Löbbert. Der Einzelne löse sich auf in Kollek­tiven. „Und der Nächste? Es gibt ihn noch, aber er hat sich verändert. Er denkt nun wie man selbst, sieht aus wie man selbst, wählt wie man selbst, hat ähnlich viel zu verlieren wie man selbst. Jenseits des Selbst dagegen lauert die Bedrohung“. Promi­nen­tester Prophet dieser Art Nächs­ten­liebe sei US-Präsident Donald Trump. Das Bewusst­sein schwinde, „dass den Malocher im ameri­ka­ni­schen Rust Belt oder den Rentner in der ober­hes­si­schen Provinz oder den Wende­ver­lierer im verges­senen Osten“ etwas verbinde „mit dem Reis­bauern, dem afri­ka­ni­schen Mann, dem syrischen Bürger­kriegs­flücht­ling“. Dabei hätten die Genannten viel gemein. Um es zu erkennen, müsse man nicht mal Christ sein und an die Gottes­eben­bild­lich­keit glauben. Es reiche zu akzep­tieren, „dass ‚Menschen­würde’ mehr ist als eine Vokabel aus Bundes­prä­si­den­ten­reden. Dass sie nicht nur qua Grund­ge­setz, sondern aus sich heraus etwas Univer­selles und Unan­tast­bares hat“.

Kollek­ti­vis­ti­sches Chris­tentum versus die Gottes­eben­bild­lich­keit des Menschen

Die großen poli­ti­schen Alter­na­tiven im heutigen Europa lauten deshalb nicht mehr so sehr links oder rechts, sondern liberal oder autoritär, perso­na­lis­tisch oder kollek­ti­vis­tisch. Damit korre­spon­dieren zwei Verständ­nisse von Chris­tentum: Das eine sieht in ihm vor allem einen Ordnungs­faktor und kultu­rellen Iden­ti­täts­marker. Ein guter Staats­bürger ist dann, wer die tradierte Religion der eigenen Nation prak­ti­ziert, sich zur Kirche bekennt oder sie zumindest achtet; ein guter Politiker der, der das Kreuz in Amts­stuben verordnet oder einen Schutz­wall gegen Muslime baut. Der Glaube dege­ne­riert dabei leicht zum Herr­schafts­in­stru­ment. Aus römisch-katho­li­schen Christen wurden in Polen so „natio­nal­ka­tho­li­sche“, ähnlich wie in der Ortho­doxie. In der neurechten Zeit­schrift „Blaue Narzisse“ forderte Robin Classen im Juni 2016 ein „Neues Deutsches Chris­tentum“, eine „deutsche Kirche mit einem auf das Nötigste beschränkten Glau­bens­kom­pass“. Für christ­liche Sozi­al­ethik, zumal eine mit univer­sa­lis­ti­schem Anspruch, ist da kein Platz mehr.

Das andere Verständnis geht von der „Imago Dei“-Lehre aus, von der Würde des einzelnen Menschen, der vom Schöpfer als sein Ebenbild ins Leben gerufen wurde und „zur Freiheit berufen“ (Gal 5,13) ist. Ihm, dem Indi­vi­duum, habe das poli­ti­sche System vor allem zu dienen – so wie es Artikel 1 I GG postu­liert. Der christ­liche „Nächste“ ist in der Tat nicht der Volks­ge­nosse, sondern jeder Mensch, unab­hängig von seiner Herkunft oder Religion, zuvör­derst der Notlei­dende diesseits und jenseits poli­ti­scher Grenzen. Dieses Verständnis hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts in unseren Kirchen durch­ge­setzt. Manche theo­lo­gisch Konser­va­tive werfen diako­nisch fokus­sierten Christen im Einklang mit der Neuen Rechten vor, eine zu „menschen­zen­trierte Agenda“ (so der kasa­chi­sche Weih­bi­schof Atha­na­sius Schneider) in der Kirche zu verfolgen. Doch ein Schöpfer, der den Menschen nach seinem Abbild, „nur wenig geringer als Gott“ (Ps 8) machte; der in Jesus selbst Mensch wurde und sich am Kreuz für die Menschen hingab; der eine den geringsten Brüdern erwiesene Liebe als Dienst an sich selbst quali­fi­zierte (Mt 25), der hat eine so anthro­po­zen­tri­sche Agenda, dass Christen ihn damit schwer­lich miss­achten können. Mora­li­sche Grenzen für den robusten Eigennutz zu setzen, Aufspren­gung der Clan­so­li­da­rität zugunsten einer funda­men­talen Gemein­sam­keit aller, die Menschen­ant­litz tragen – das ist das wahre, kostbare Erbe jenes „christ­li­chen Abend­lands“, das heute wieder beschworen wird.

„Der Staat lebt von den Früchten der Kirche“

Wie immer, wenn Irrtümer und Lügen besonders wirksam werden, ist ihnen auch in der neuen rechten Kritik an der Moral etwas Wahres beigemengt. Es gab und gibt tatsäch­lich in Teilen der Gesell­schaft und auch der Kirchen einen hyper­mo­ra­li­schen Diskurs, dem es an Reali­täts­bezug, an Einsicht ins Machbare und mensch­lich Abgrün­dige fehlt und der einen eindi­men­sio­nalen Idea­lismus zur Herr­schaft bringen will. Er sagt zwar „Demo­kratie“, vermag starke Minder­heiten oder sogar Mehr­heiten aber nicht zu respek­tieren und im Kompro­miss zu gewinnen. Er biegt sich Tatsachen zurecht, bis sie ins Konzept passen. Er mora­li­siert vor allem dort, wo die Kosten andere tragen. Jahr­zehnte lang haben Konser­va­tive unter diesem vornehm­lich linken Diskurs gelitten und sich dabei zuletzt, ermutigt in den Filter­blasen und Paral­lel­welten des Internets, zunehmend radikalisiert.

Dabei miss­ach­teten auch manche Christen die „relative Autonomie der Kult­ur­sach­be­reiche“, die das katho­li­sche Konzils­do­ku­ment „Gaudium et spes“ anerkennt. „Durch ihr Geschaf­fen­sein haben alle Einzel­wirk­lich­keiten ihren festen Eigen­stand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigen­ge­setz­lich­keit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Aner­ken­nung der den einzelnen Wissen­schaften und Techniken eigenen Methoden achten muss“ (GS 36). Die christ­liche Ethik gibt zwar Werte, Normen und Tugenden vor, setzt aber eine realis­ti­sche Lage­ana­lyse und Zweck-Mittel-Kalku­la­tion voraus, um zu guten, trag­fä­higen Entschei­dungen zu kommen. Die Schriften des Chris­ten­tums enthalten keine poli­ti­sche Rezeptur. Auch in den Kirchen wird um manche politisch-ethische Posi­tionen kontro­vers gerungen.

Doch auch wenn mancher Geist­liche die schwin­dende Resonanz für Glau­bens­in­halte zu kompen­sieren sucht durch „gewis­sens­knir­schende poli­ti­sche Kanne­gie­ßerei“ (Josef Isenee), statt zu beher­zigen: „Der Staat lebt nicht nach den Weisungen der Kirche, sondern von den Früchten ihrer geist­li­chen Existenz“ (Hermann Ehlers); auch wenn mora­li­schen Himmels­stür­mern jeder Prove­nienz mit Karl Popper zu entgegnen ist: „Die Hybris, die uns versuchen lässt, das Himmel­reich auf Erden zu verwirk­li­chen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwan­deln. Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Welten­be­glü­ckung aufgeben“, so gilt doch nicht weniger dessen Einschrän­kung: „Dennoch können und sollen wir Welt­ver­bes­serer bleiben – aber beschei­dene Weltverbesserer“.

Plädoyer für eine diffe­ren­zierte Ethik

Die Vertei­di­gung des Vorrangs von Recht und Moral vor bloßem Willen und Interesse – oder unge­ord­neten Impulsen wie Zorn und Empörung – wird umso besser gelingen, je authen­ti­scher, trans­pa­renter, diffe­ren­zierter und reali­täts­näher ethische Perspek­tiven in poli­ti­sche Debatten einge­bracht werden. Hinter der modischen Denun­zia­tion der Moral und ihrer poli­ti­schen Relevanz an sich steht indes nichts anderes als der Versuch der Selbst­er­mäch­ti­gung, nach subjek­tivem Gutdünken „das Eigene“ – Schlüs­sel­be­griff neurechter Ideologie – anderen autoritär zu verordnen oder egois­tisch vorzuenthalten.

Die rechte Klage über mora­li­sie­rende „Political Correct­ness“ ist genau besehen eine Klage darüber, dass man selbst nicht die Mehrheit hat. In Wert­prä­fe­renzen wurzelnde Sprach­re­ge­lungen sind keine Marotte oder abge­feimte Strategie eines bestimmten poli­ti­schen Lagers, sondern dienen allseits als Ausdruck eigener, insbe­son­dere stark moralisch oder emotional aufge­la­dener Über­zeu­gungen, für die man im öffent­li­chen Raum „Diskurs­ho­heit“ gewinnen oder vertei­digen will. Was den einen ihr Gender-Sternchen, ist den anderen ihr „Mittel­deutsch­land“ für die neuen Bundes­länder. Jenny Günther, ein Jahr lang stell­ver­tre­tende Vorsit­zende der „Jungen Alter­na­tive“ Bran­den­burg, berich­tete: „Als ich dann aber AfD-Mitglied war, habe ich gemerkt: Die Stimmung ist sehr aggressiv. Wer eine abwei­chende Meinung vertreten hat, wurde sofort ange­gangen. Und zwar nicht auf der argu­men­ta­tiven Ebene, sondern immer persön­lich.“ Für den Vorwurf des Mora­li­sie­rens und into­le­ranten „Main­strea­mings“ gilt eben auch Jesu Wort: „Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, den Balken im eigenen Auge aber nicht?“

Textende

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