Globalisierung & Digitalisierung: Warum wir Schulen jetzt weiterentwickeln müssen
Populistische Bewegungen gewinnen auch deshalb Zulauf, weil sich ein Teil der Bürger den Herausforderungen eines internationalen und digitalen Arbeitsmarktes nicht gewachsen sieht. Mehr Zuversicht könnte eine neue Bildungsreform wecken, meint die Wissenschaftlerin Anne Sliwka: Länder wie Kanada führen vor, wie sich liberale Demokratien durch kluge Bildungspolitik zukunftsfest machen.
Das deutsche Schulsystem in seiner heutigen Form kann auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht angemessen reagieren.
Deutschland hat sich zu einem der Länder mit der höchsten Zuwanderung auf der Welt entwickelt. Zuwanderer und ihre Kinder bringen unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen mit und müssen an eine Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem herangeführt werden, in denen ein bestimmtes Bildungsniveau die Voraussetzung ist für gesellschaftliche Teilhabe, politische Selbstbestimmung und ökonomische Eigenverantwortung. Dass jeder dieses Bildungsniveau erreicht, muss der Anspruch unseres Schulsystems sein.
In allen gesellschaftlichen Bereichen treibt die Digitalisierung den Wandel der Berufsprofile voran. Zwar werden Arbeitsplätze nicht unbedingt im großen Umfang wegfallen, doch wir müssen davon ausgehen, dass sich berufliche Anforderungen an Niedrig-Qualifizierte ebenso wie an Fach- und Führungskräfte stark verändern: Upgrading (mehr und höhere Bildungsabschlüsse) und Upskilling (neuartige Kompetenzprofile) wird von allen Menschen erwartet.
Einige Länder (etwa Kanada, Estland und Singapur, um Beispiele aus drei Kontinenten zu nennen) entwickeln ihr Bildungssystem bereits seit mehreren Jahren systematisch weiter. Auf sechs Feldern besteht auch für Deutschland Handlungsbedarf:
1. Frühkindliche Bildung
Viele Studien, etwa die des Wirtschaftsnobelpreisträgers James Heckman („Return on Investment in Education“), zeigen, wie wichtig hochwertige frühkindliche Bildung ist, um Kinder aus bildungsfernen Familien zu fördern. Noch bevor Kinder lesen und rechnen gelernt haben, kann man ihnen Bildungsinhalte spielerisch vermitteln. Weil nicht alle Eltern ihre Kinder schon vor der Einschulung fördern, sollte diese „Pre-Literacy-“ und „Pre-Numeracy Education“ verbindlich sein. Sie gleicht den hohen Bildungsaufwand von Mittelschichtseltern aus und schafft faire Ausgangsbedingungen für Kinder ungeachtet ihrer Herkunft.
2. Schwerpunkt auf Sprache und Mathematik
Bis zum Ende der Grundschulzeit sollten so viele Kinder wie möglich in Mathematik und Deutsch ein hohes Kompetenzniveau erreichen. Ein Vorbild ist das kanadische Schulsystem, das Herkunft und Bildungserfolg deutlich besser entkoppelt als das deutsche. In Kanada gilt eine vierstufige Kompetenzskala. Kinder, die lediglich die Kompetenzstufen eins und zwei erreichen, haben ein Recht auf Förderung – zugleich besteht die Pflicht, dass sie die von der Schule organisierte Förderung wahrnehmen. Dadurch verbessert sich ein Großteil der Schülerinnen und Schülern und kann die weiterführende Schule unter ähnlichen Voraussetzungen beginnen.
Gerade eine Einwanderungsgesellschaft, die auch bildungsferne Zuwanderer integrieren will, sollte die Fähigkeiten von Schülern regelmäßig erfassen und sie entsprechend fördern. Ressourcen, die in der Grundschulzeit klug in Bildung investiert werden, tragen dazu bei, Ungleichheiten in der Bildung zu verringern und die Chancengerechtigkeit zu erhöhen. Wenn der individuelle Lernstand der Schüler in Zukunft digital erfasst würde, wären Lehrkräfte diagnostisch entlastet und könnten sich – wie heute schon in Kanada und Estland – auf die passgenaue Förderung fokussieren.
3. Bedürftige Schulen unterstützen
Noch immer spiegeln Schulen in Deutschland das soziale, ökonomische und kulturelle Kapital der jeweiligen Elternschaft wider. Die Bildungsungleichheit zwischen den Schulen sollte deshalb durch eine sozialindexbasierte Zuweisung finanzieller Mittel ausgeglichen werden, wie es Hamburg bereits praktiziert.
Ein Beispiel: Schulen, deren Schülerinnen und Schüler zu Hause keinen Zugang zu Büchern haben, benötigen zusätzliche Mittel zur Einrichtung einer gut ausgestatteten Schulbibliothek. Das Gegenteil ist bislang der Fall. Gymnasien haben Schulbibliotheken, andere Schulen der Sekundarstufe häufig aber nicht. Der Staat stattet Gymnasien durch höhere Lehrergehälter umfassender aus als Real- und Hauptschulen – und gutsituierte Eltern helfen häufig noch mit Spenden. So kommt es zum Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben“), das Bildungsungleichheit verstärkt.
Besser wäre eine sozialindexbasierte Mittelzuweisung mit vielfältigen Indikatoren. Australien und Neuseeland machten den Fehler, die Bedürftigkeit von Schulen in einem Prozentrang festzulegen und das Ergebnis im Internet zu veröffentlichen. Das trug natürlich zur Stigmatisierung belasteter Schulen bei und vergrößerte die Ungleichheit. Klüger ist das kanadische Konzept: Der Zugang zu Ressourcen (beispielsweise Mittel für zusätzliche Lehrkräfte, kulturelle Projekte oder eine gut ausgestattete Bibliothek) wird an verschiedene Indikatoren geknüpft und aus der Summe der Indikatoren ergibt sich das Gesamtbudget einer Schule, das den Finanzbedarf deckt.
4. Feedback und Motivation statt Noten
Bislang werden an staatlichen Schulen Noten vergeben. Der Notenspiegel tendiert zur Normalverteilung, das heißt: immer nur wenige Schüler bekommen sehr gute Noten. Das motiviert nur die Besten und der Rest der Klasse resigniert. Über schlechte Schüler heißt es dann: „Das Kind kann es nicht“. Wäre es nicht besser, wenn sich der Schwerpunkt von Noten am Ende des Schuljahres zu Rückmeldungen während des Lernprozesses verschiebt? Lehrer sollten sagen: „Das Kind kann es noch nicht“ und während des Schuljahres mit Schülerinnen und Schüler darüber sprechen, wo sie stehen und welche Schritte sie mit Unterstützung der Lehrkräfte als Nächstes unternehmen können, um ihr gemeinsam gesetztes Bildungsziel zu erreichen.
5. Psychologen, Sozialpädagogen und Schulkrankenpfleger
Schulen müssen Kinder heute auch gesundheitspräventiv und sozial-emotional unterstützen: von gesundheitlicher Aufklärung (regelmäßiges Zähneputzen) bis zum gelingenden Zusammenleben (etwa Mobbing-Prävention). Der Lehrerberuf hat zuletzt auch deswegen an Attraktivität verloren, weil er mit professionellen Erwartungen überladen ist. Die stärksten Schulsysteme reagieren auf diese Herausforderung durch multiprofessionelle Teams, in denen Schulpsycholog/innen, Sozialpädagog/innen, Schulkrankenpfleger/innen („school nurses“) und Sonderpädagog/innen mit Lehrern zusammenarbeiten.
Schon jetzt stellt der Staat Geld zur Verfügung, um Kinder aus bedürftigen Familien zu unterstützen. Leider ist das häufig mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden, wie zum Beispiel bei den Mitteln aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Die Mittel werden deshalb häufig nicht abgerufen. Es wäre besser, auf solche Antragsverfahren zu verzichten und die Mittel den Schulen direkt zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Schaffung multiprofessioneller Teams. So würden die Gelder da eingesetzt, wo sie die größte Wirkung erzielen. Übrigens zeigen Daten der TALIS-Studie der OECD: Wenn Lehrkräfte und andere Professionelle im Team arbeiten, verbessern sich nicht nur Schülerleistungen, sondern es steigt auch die Berufszufriedenheit der Lehrerinnen und Lehrer.
6. Stärkung des spezifisch Menschlichen in der Bildung
Wegen der Entwicklung künstlicher Intelligenz werden menschliche Fähigkeiten wie Problemlösen, Kreativität und Sozialkompetenz an Bedeutung gewinnen. Nicht nur ist der Mensch den Maschinen in diesen Bereichen überlegen. Es sind zugleich diese Fähigkeiten, durch die er Zufriedenheit, Selbstbestimmung und soziale Zugehörigkeit gewinnt. Bisher leisten Schulen zu wenig, um sie zu entwickeln. Vor allem in weiterführenden Schulen wird es darum gehen müssen, das Lernen so zu verändern, dass Schülerinnen und Schüler fachliches Wissen kreativ anwenden und weiterentwickeln. Phasen der Anleitung durch Lehrkräfte sollten sich abwechseln mit Phasen des Lernens, in denen Schüler fachlich anspruchsvolle Projekte – unterstützt von Lehrkräften – selbst verantworten.
In Singapur und Kanada ist der Lehrplan um bis zu 20 % entschlackt worden, damit Schüler genug Zeit für projekt- und problemorientiertes Lernen haben. Genau das sollten wir auch in Deutschland tun. So ermöglichen wir „tiefes Lernen“ und erwecken fachliches Wissen durch Problemlösen, Kreativität und Sozialkompetenz zum Leben.
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