Globa­li­sierung & Digita­li­sierung: Warum wir Schulen jetzt weiter­ent­wi­ckeln müssen

Quelle: Shutter­stock

Populis­tische Bewegungen gewinnen auch deshalb Zulauf, weil sich ein Teil der Bürger den Heraus­for­de­rungen eines inter­na­tio­nalen und digitalen Arbeits­marktes nicht gewachsen sieht. Mehr Zuver­sicht könnte eine neue Bildungs­reform wecken, meint die Wissen­schaft­lerin Anne Sliwka: Länder wie Kanada führen vor, wie sich liberale Demokratien durch kluge Bildungs­po­litik zukunftsfest machen.

Das deutsche Schul­system in seiner heutigen Form kann auf die Heraus­for­de­rungen des 21. Jahrhun­derts nicht angemessen reagieren.

Deutschland hat sich zu einem der Länder mit der höchsten Zuwan­derung auf der Welt entwi­ckelt. Zuwan­derer und ihre Kinder bringen unter­schied­liche Bildungs­vor­aus­set­zungen mit und müssen an eine Gesell­schaft und ein Wirtschafts­system heran­ge­führt werden, in denen ein bestimmtes Bildungs­niveau die Voraus­setzung ist für gesell­schaft­liche Teilhabe, politische Selbst­be­stimmung und ökono­mische Eigen­ver­ant­wortung. Dass jeder dieses Bildungs­niveau erreicht, muss der Anspruch unseres Schul­systems sein.

In allen gesell­schaft­lichen Bereichen treibt die Digita­li­sierung den Wandel der Berufs­profile voran. Zwar werden Arbeits­plätze nicht unbedingt im großen Umfang wegfallen, doch wir müssen davon ausgehen, dass sich beruf­liche Anfor­de­rungen an Niedrig-Quali­fi­zierte ebenso wie an Fach- und Führungs­kräfte stark verändern: Upgrading (mehr und höhere Bildungs­ab­schlüsse) und Upskilling (neuartige Kompe­tenz­profile) wird von allen Menschen erwartet. 

Anne Sliwka ist Profes­sorin für Bildungs­wis­sen­schaft in Heidelberg und Mitglied der Exper­ten­kom­mission „Sicherheit im Wandel“

Einige Länder (etwa Kanada, Estland und Singapur, um Beispiele aus drei Konti­nenten zu nennen) entwi­ckeln ihr Bildungs­system bereits seit mehreren Jahren syste­ma­tisch weiter. Auf sechs Feldern besteht auch für Deutschland Handlungsbedarf:

1. Frühkind­liche Bildung

Viele Studien, etwa die des Wirtschafts­no­bel­preis­trägers James Heckman („Return on Investment in Education“), zeigen, wie wichtig hochwertige frühkind­liche Bildung ist, um Kinder aus bildungs­fernen Familien zu fördern. Noch bevor Kinder lesen und rechnen gelernt haben, kann man ihnen Bildungs­in­halte spiele­risch vermitteln. Weil nicht alle Eltern ihre Kinder schon vor der Einschulung fördern, sollte diese „Pre-Literacy-“ und „Pre-Numeracy Education“ verbindlich sein. Sie gleicht den hohen Bildungs­aufwand von Mittel­schicht­seltern aus und schafft faire Ausgangs­be­din­gungen für Kinder ungeachtet ihrer Herkunft.

2. Schwer­punkt auf Sprache und Mathematik

Bis zum Ende der Grund­schulzeit sollten so viele Kinder wie möglich in Mathe­matik und Deutsch ein hohes Kompe­tenz­niveau erreichen. Ein Vorbild ist das kanadische Schul­system, das Herkunft und Bildungs­erfolg deutlich besser entkoppelt als das deutsche. In Kanada gilt eine vierstufige Kompe­tenz­skala. Kinder, die lediglich die Kompe­tenz­stufen eins und zwei erreichen, haben ein Recht auf Förderung – zugleich besteht die Pflicht, dass sie die von der Schule organi­sierte Förderung wahrnehmen. Dadurch verbessert sich ein Großteil der Schüle­rinnen und Schülern und kann die weiter­füh­rende Schule unter ähnlichen Voraus­set­zungen beginnen.

Gerade eine Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft, die auch bildungs­ferne Zuwan­derer integrieren will, sollte die Fähig­keiten von Schülern regel­mäßig erfassen und sie entspre­chend fördern. Ressourcen, die in der Grund­schulzeit klug in Bildung inves­tiert werden, tragen dazu bei, Ungleich­heiten in der Bildung zu verringern und die Chancen­ge­rech­tigkeit zu erhöhen. Wenn der indivi­duelle Lernstand der Schüler in Zukunft digital erfasst würde, wären Lehrkräfte diagnos­tisch entlastet und könnten sich – wie heute schon in Kanada und Estland – auf die passgenaue Förderung fokussieren.

3. Bedürftige Schulen unterstützen

Noch immer spiegeln Schulen in Deutschland das soziale, ökono­mische und kultu­relle Kapital der jewei­ligen Eltern­schaft wider. Die Bildungs­un­gleichheit zwischen den Schulen sollte deshalb durch eine sozial­in­dex­ba­sierte Zuweisung finan­zi­eller Mittel ausge­glichen werden, wie es Hamburg bereits praktiziert.

Ein Beispiel: Schulen, deren Schüle­rinnen und Schüler zu Hause keinen Zugang zu Büchern haben, benötigen zusätz­liche Mittel zur Einrichtung einer gut ausge­stat­teten Schul­bi­bliothek. Das Gegenteil ist bislang der Fall. Gymnasien haben Schul­bi­blio­theken, andere Schulen der Sekun­dar­stufe häufig aber nicht. Der Staat stattet Gymnasien durch höhere Lehrer­ge­hälter umfas­sender aus als Real- und Haupt­schulen – und gutsi­tu­ierte Eltern helfen häufig noch mit Spenden. So kommt es zum Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben“), das Bildungs­un­gleichheit verstärkt.

Besser wäre eine sozial­in­dex­ba­sierte Mittel­zu­weisung mit vielfäl­tigen Indika­toren. Australien und Neuseeland machten den Fehler, die Bedürf­tigkeit von Schulen in einem Prozentrang festzu­legen und das Ergebnis im Internet zu veröf­fent­lichen. Das trug natürlich zur Stigma­ti­sierung belas­teter Schulen bei und vergrö­ßerte die Ungleichheit. Klüger ist das kanadische Konzept: Der Zugang zu Ressourcen (beispiels­weise Mittel für zusätz­liche Lehrkräfte, kultu­relle Projekte oder eine gut ausge­stattete Bibliothek) wird an verschiedene Indika­toren geknüpft und aus der Summe der Indika­toren ergibt sich das Gesamt­budget einer Schule, das den Finanz­bedarf deckt.

4. Feedback und Motivation statt Noten

Bislang werden an staat­lichen Schulen Noten vergeben. Der Noten­spiegel tendiert zur Normal­ver­teilung, das heißt: immer nur wenige Schüler bekommen sehr gute Noten. Das motiviert nur die Besten und der Rest der Klasse resigniert. Über schlechte Schüler heißt es dann: „Das Kind kann es nicht“. Wäre es nicht besser, wenn sich der Schwer­punkt von Noten am Ende des Schul­jahres zu Rückmel­dungen während des Lernpro­zesses verschiebt? Lehrer sollten sagen: „Das Kind kann es noch nicht“ und während des Schul­jahres mit Schüle­rinnen und Schüler darüber sprechen, wo sie stehen und welche Schritte sie mit Unter­stützung der Lehrkräfte als Nächstes unter­nehmen können, um ihr gemeinsam gesetztes Bildungsziel zu erreichen.

5. Psycho­logen, Sozial­päd­agogen und Schulkrankenpfleger

Schulen müssen Kinder heute auch gesund­heits­prä­ventiv und sozial-emotional unter­stützen: von gesund­heit­licher Aufklärung (regel­mä­ßiges Zähne­putzen) bis zum gelin­genden Zusam­men­leben (etwa Mobbing-Prävention). Der Lehrer­beruf hat zuletzt auch deswegen an Attrak­ti­vität verloren, weil er mit profes­sio­nellen Erwar­tungen überladen ist. Die stärksten Schul­systeme reagieren auf diese Heraus­for­derung durch multi­pro­fes­sio­nelle Teams, in denen Schulpsycholog/​innen, Sozialpädagog/​innen, Schulkrankenpfleger/​innen („school nurses“) und Sonderpädagog/​innen mit Lehrern zusammenarbeiten.

Schon jetzt stellt der Staat Geld zur Verfügung, um Kinder aus bedürf­tigen Familien zu unter­stützen. Leider ist das häufig mit einem hohen bürokra­ti­schen Aufwand verbunden, wie zum Beispiel bei den Mitteln aus dem Bildungs- und Teilha­be­paket. Die Mittel werden deshalb häufig nicht abgerufen. Es wäre besser, auf solche Antrags­ver­fahren zu verzichten und die Mittel den Schulen direkt zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel zur Schaffung multi­pro­fes­sio­neller Teams.  So würden die Gelder da einge­setzt, wo sie die größte Wirkung erzielen. Übrigens zeigen Daten der TALIS-Studie der OECD: Wenn Lehrkräfte und andere Profes­sio­nelle im Team arbeiten, verbessern sich nicht nur Schüler­leis­tungen, sondern es steigt auch die Berufs­zu­frie­denheit der Lehre­rinnen und Lehrer.

6. Stärkung des spezi­fisch Mensch­lichen in der Bildung

Wegen der Entwicklung künst­licher Intel­ligenz werden mensch­liche Fähig­keiten wie Problem­lösen, Kreati­vität und Sozial­kom­petenz an Bedeutung gewinnen. Nicht nur ist der Mensch den Maschinen in diesen Bereichen überlegen. Es sind zugleich diese Fähig­keiten, durch die er Zufrie­denheit, Selbst­be­stimmung und soziale Zugehö­rigkeit gewinnt. Bisher leisten Schulen zu wenig, um sie zu entwi­ckeln. Vor allem in weiter­füh­renden Schulen wird es darum gehen müssen, das Lernen so zu verändern, dass Schüle­rinnen und Schüler fachliches Wissen kreativ anwenden und weiter­ent­wi­ckeln. Phasen der Anleitung durch Lehrkräfte sollten sich abwechseln mit Phasen des Lernens, in denen Schüler fachlich anspruchs­volle Projekte – unter­stützt von Lehrkräften – selbst verantworten.

In Singapur und Kanada ist der Lehrplan um bis zu 20 % entschlackt worden, damit Schüler genug Zeit für projekt- und problem­ori­en­tiertes Lernen haben. Genau das sollten wir auch in Deutschland tun. So ermög­lichen wir „tiefes Lernen“ und erwecken fachliches Wissen durch Problem­lösen, Kreati­vität und Sozial­kom­petenz zum Leben.

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