Armeniens politische Nachkriegs­krise – ein Überblick

Foto: Shutterstock, Kacper Kawecki
Foto: Shutter­stock, Kacper Kawecki

Minis­ter­prä­sident Nikol Pashinyan sieht sich in Folge des verlo­renen Kriegs um Berg-Karabach schweren Protesten und Rücktritts­for­de­rungen ausge­setzt. Wie es hierzu kam und wie der Westen reagieren sollte, erklärt Richard Giragosian, Direktor des unabhän­gigen Thinktanks Regional Studies Center (RSC) in Jerewan, Armenien. (To the English version of this article.)

In den vergan­genen Wochen hat sich eine bereits seit längerem anhal­tende innen­po­li­tische Krise in Armenien verschärft. Den armeni­schen Minis­ter­prä­si­denten Nikol Pashinyan brachten seine Popula­rität als Opposi­ti­ons­führer und der Mut, mit dem er 2018 die Amtsent­hebung der korrupten Vorgän­ger­re­gierung erzwungen hat, an die Macht. Die damit einher­ge­hende anfäng­liche Euphorie ist inzwi­schen aller­dings gründlich verflogen. Und obwohl die Regierung das Moment von Reform und Demokra­ti­sierung aufrecht­zu­er­halten versucht hat, ist die Unter­stützung für sie seit dem beein­dru­ckenden Sieg der gewalt­losen “Macht des Volkes” bei der Samtenen Revolution immer weiter gesunken.

Eine Reihe ernst­hafter politi­scher Verfeh­lungen bewirkten eine schwe­lende politische Krise und brachten die Regierung, die angesichts ihres überwäl­ti­genden Sieges bei den freien und fairen Parla­ments­wahlen von 2018 ursprünglich über eine enorm hohe Legiti­mation verfügt hatte, kürzlich ins Strau­cheln. Im November 2020 eskalierte die bereits existie­rende Krise dann durch die unerwartete Niederlage im 44-Tage-Krieg mit Aserbai­dschan um Berg-Karabach massiv. Die armenische Regierung hatte die Gesell­schaft auf Umfang und Schwere der überra­schenden Kriegs­ver­luste nicht vorbe­reitet und so sah sich Pashinyan mit einer sofor­tigen sehr emotio­nalen Protest­welle konfron­tiert, in deren Rahmen er aufge­fordert wurde, Verant­wortung zu übernehmen und zurückzutreten.

Ungekannte Vulnerabi­lität nach dem Krieg

Die Schwere dieser Nachkriegs­krise in Armenien gründet in unerwartet hoher Vulnerabi­lität und fehlender Sicherheit. Minis­ter­prä­sident Pashi­nyans Allein­stellung als einzige armenische Führungs­figur, die jemals eine militä­rische Niederlage um Berg-Karabach hinnehmen musste, lässt ihn so vulnerabel wie exponiert erscheinen. Besonders gilt dies, da momentan eine noch neuartige Phase der Vulnerabi­lität angebrochen ist, denn der Konflikt um Berg-Karabach war lange Zeit das wichtigste Element der armeni­schen Sicherheits‑, Vertei­di­gungs- und Außen­po­litik. Es ist in den letzten Jahren der Sowjetzeit entstanden und existiert damit schon länger als die moderne staat­liche Unabhän­gigkeit und Souve­rä­nität Armeniens. Die armenische Regierung muss also mit einer grund­legend neuen geopo­li­ti­schen Realität umgehen und steht entspre­chend vor einer gewal­tigen Herausforderung.

Im Rahmen seiner Bewährung auf dem komplett unbekannten Terrain dieser Nachkriegs­rea­lität sah sich der armenische Präsident unter anderem gezwungen, ein von Russland erzwun­genes Waffen­still­stands­ab­kommen zu unter­schreiben, das den sechs­wö­chigen Krieg um Karabach erfolg­reich beendete, jedoch aus Sicher­heits­gründen auch die Präsenz russi­scher Friedens­truppen vorsieht. Dabei hatte Pashinyan weder die Wahl noch eine Alter­native – die armenische Einwil­ligung in das russische Abkommen rettete Leben und sicherte das verbliebene Terri­torium von Berg-Karabach ab. Aller­dings schreibt der Vertrag auch die erheb­lichen aserbai­dscha­ni­schen Gelän­de­ge­winne fest und verstärkt so Armeniens überwäl­ti­gende Niederlage. Das Waffen­still­stands­ab­kommen regelt nur eine begrenzte Zahl von Themen und trägt so wenig zur Konflikt­lösung bei. Zudem wirft es die unbeant­wortete Frage nach dem Status von Karabach auf, so dass die Rückkehr zu diplo­ma­ti­schen Verhand­lungen nötig ist, um Sicherheit und Stabi­lität langfristig zu sichern.

Im Februar 2021 eskalierte die Krise erneut deutlich durch eine unerwartete Inter­vention der Streit­kräfte in die Sphäre der Politik, die es so bislang noch nicht gegeben hatte. In einem Akt des offenen Wider­stands gegen die Regierung forderten rund 40 hohe Militär­of­fi­ziere Minis­ter­prä­sident Nikol Pashinyan zum Rücktritt auf. Bedeutsam war dieser Vorgang zum einen als weitrei­chender Versuch, die tradi­tionell stabilen Bezie­hungen zwischen zivilen und militä­ri­schen Kräften zu schwächen, zum anderen demons­trierte er in ungewöhn­licher Weise die Politi­sierung der norma­ler­weise neutralen Streit­kräfte. Motivation und Bedeutung dieser neuar­tigen Entwicklung gründen in drei Faktoren, die größeren und konflikt­haften politi­schen Kontext zeigen.

Das Fortbe­stehen des “Kriegs­zu­stands”. Die armenische Gesell­schaft hat den Schock noch nicht überwinden können, den die unerwartete militä­rische Niederlage im November 2020 auslöste, als der Krieg um Karabach zu Ende ging. Dies ist zum Teil auf das Versäumnis der armeni­schen Regierung zurück­zu­führen, die Öffent­lichkeit auf das Ausmaß und die Schwere der militä­ri­schen Niederlage im 44-Tage-Krieg vorzu­be­reiten. Zum Teil ist dafür jedoch auch der noch anhal­tende “Kriegs­zu­stand” verant­wortlich, der nur deshalb verlängert wurde, weil Aserbai­dschan es noch nicht geschafft hat, eine angemessene Zahl armeni­scher Kriegs­ge­fan­gener und als Geiseln genom­mener Zivilisten zurückzugeben.

Ungewissheit und mangel­hafte Sicher­heitslage nach dem Krieg. Ein zweiter Faktor, der zur Eskalation der Nachkriegs­krise führte, sind Ungewissheit und mangelnde Sicherheit in der neuen Nachkriegs­rea­lität. Ungewissheit entsteht durch die vagen und unvoll­stän­digen Bestim­mungen des von Russland erzwun­genen Vertrags, der den Krieg am 9. November beendete, sowie durch die sich verzö­gernde Wieder­auf­nahme der diplo­ma­ti­schen Verhand­lungen. Der Vertrag steht zwar für die wichtige Beendigung der Feind­se­lig­keiten, die den Weg zur Entsendung einer russi­schen Friedens­truppe nach Berg-Karabach freimachte, er ist jedoch bei weitem kein Friedens­vertrag und kann den Karabach-Konflikt nicht lösen. Zudem vertagt er die Frage nach dem Status von Berg-Karabach auf spätere diplo­ma­tische Verhand­lungen und lässt auch zahlreiche weitere Fragen unbeant­wortet, etwa die nach dem Rückzug des Militärs oder einer Demobi­li­sierung. Verstärkt wird diese Ungewissheit durch einen Mangel an Sicherheit – der Verlauf der armeni­schen Nachkriegs­grenzen hat zu einer unklaren lokalen Sicher­heitslage geführt, etwa durch die unmit­telbare Nähe der südlichen Grenz­re­gionen Armeniens zu aserbai­dscha­ni­schen Militäreinheiten.

Mangelnde Verant­wortung und Lähmung des Staates. Ein dritter Faktor in der andau­ernden innen­po­li­ti­schen Krise ist der allge­meine Eindruck, dass die Verant­wortung für die militä­ri­schen Verluste wie auch die politi­schen Entschei­dungen im Krieg nicht ausrei­chend übernommen wird. Aus größerer Perspektive betrachtet geht das darauf zurück, dass der Karabach-Konflikt tatsächlich älter als die armenische Unabhän­gigkeit ist und sich die Regierung Pashinyan so als einzige armenische Führung, die Karabach jemals “verloren” hat, auf völlig unbekanntem politi­schen Terrain befindet. Für sich betrachtet war die Antwort der Regierung auf den unerwar­teten Kriegs­verlust aller­dings sowohl unange­messen als auch unzurei­chend. Dass die armenische Regierung sich nicht auf die Nachkriegs­rea­lität einge­stellt hat, also über keinerlei verän­derte oder neue diplo­ma­tische Strategie verfügt und auch ihre militä­rische Haltung weder modifi­ziert noch refor­miert hat, lässt sie in ihrem “Zustand der Verleugnung” unfähig aussehen. Und da sich das Land keinen zeitlichen Luxus leisten kann, hat es dem Vertrauen in die Regierung schwer geschadet, dass diese die Notwen­digkeit, aus dem Krieg zu lernen, nicht anerkannt hat. Und so verstärken die spärliche politische Reaktion und die marginale Rolle des Parla­ments den Eindruck einer staat­lichen Lähmung, obwohl es seit dem Regie­rungs­wechsel demokra­tische Zugewinne gegeben hat.

Gefähr­liche Präzedenzfälle

Vor diesem Hinter­grund bedrängen die armenische Demokratie außerdem zwei allge­meine Trends, die mit den jüngsten Verlusten im Krieg um Karabach beide unmit­telbar zusam­men­hängen und die armenische Demokratie mit ihrem zerstö­re­ri­schen Druck schwer belasten. Der erste ist die gefähr­liche Auffassung, der zufolge der jüngste Krieg um Karabach ein Präze­denzfall dafür ist, dass der Einsatz von Gewalt als Mittel zur Lösung im Kern politi­scher Konflikte zulässig und gerecht­fertigt ist. Das Risiko, dass sich Aggression und Militär­gewalt lohnen, indem sie als glaub­würdige Optionen zur Lösung diplo­ma­ti­scher Ausein­an­der­set­zungen angesehen werden, ist mit Blick auf mögliche Konse­quenzen daraus für andere Konflikte – von Zypern bis zur Krim – sehr besorg­nis­er­regend. Die Heraus­for­derung, die ein solcher Präze­denzfall des Einsatzes militä­ri­scher Mittel zur Erzwingung von Konflikt­lö­sungen darstellt, muss erfolg­reich gemeistert werden, damit sich das Konzept “Die Macht hat immer recht” in den inter­na­tio­nalen Bezie­hungen nicht durch­setzen kann.

Der zweite gefähr­liche Trend ist ein hiermit verwandter Präze­denzfall – die derzeit erkennbar gegebene Anerkennung des militä­ri­schen Sieges zweier viel größerer und mächti­gerer autori­tärer Staaten (Aserbai­dschans und der Türkei) über eine kleine Demokratie. Sollte es zu einer wie auch immer gearteten Konso­li­dierung des Sieges dieser aggres­siven und autori­tären Staaten kommen, würde Zustimmung dazu zu einem gewissen Grad auch Kompli­zen­schaft und Schuld bedeuten. Daher muss die inter­na­tionale Gemein­schaft bei der Frage, ob sie einen solchen Präze­denzfall zulässt, sehr vorsichtig sein, vor allem weil dies die autoritäre Repres­si­ons­welle in Aserbai­dschan und der Türkei fördern und stärken würde, zum Nachteil sich bemühender Demokratien wie Armenien.

Was die inter­na­tionale Gemein­schaft tun muss

Angesichts dieser kombi­nierten Heraus­for­de­rungen und der Bedeutung einer auf drama­tische Weise neu struk­tu­rierten Nachkriegs­um­gebung sieht sich die Demokratie in Armenien zurzeit einem Angriff ausge­setzt. 2018 hat sich die Bevöl­kerung in Überwindung ihrer Apathie der Vertei­digung der Demokratie verpflichtet und durch ihren Aktivismus eine fried­liche Revolution in Gang gesetzt, deren enorme Gewinne für Armenien als willkommene Ausnah­me­erscheinung weithin mit Begeis­terung angenommen wurden. Nun sind Stabi­lität und Sicherheit in Armenien jedoch gefährdet. Die Aufgabe, die neue Nachkriegs­rea­lität den natio­nalen Inter­essen Armeniens anzupassen und sie entspre­chend zu gestalten, liegt vor allem bei der Regierung. Aller­dings trägt auch die inter­na­tionale Gemein­schaft Verant­wortung – sie muss sich selbst wieder auf die Demokra­ti­sierung verpflichten und in Armenien erneut in Reformen inves­tieren. Das Risiko des Rückschritts und des Rückzugs von Reformen und Demokratie gefährdet nicht nur Armenien, es bedroht auch die inter­na­tionale Gemein­schaft. Und für die Zukunft Armeniens ist der Schutz der Demokratie momentan genauso wichtig wie die Förderung der Demokratie.

 

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