Autokratie in Georgien – eine ernsthafte Gefahr für Europas Demokratie
Was sich derzeit in Georgien abspielt, ist weit mehr als eine innenpolitische Krise. Es ist ein strategisch orchestriertes Experiment seitens der russischen Föderation – und damit eine ernsthafte Gefahr für die demokratische Ordnung weit über die Landesgrenzen hinaus, analysiert Giorgi Butikashvili.
Lange galt Georgien als kleine Demokratie mit großen Ambitionen: ein Land, das auf dem Weg Richtung Europa gelegentlich strauchelt, demonstriert, enttäuscht – und doch letztlich im westlichen Orbit verbleibt. Diese Erzählung hat ihre Gültigkeit verloren. Statt ihrer ist es an der Zeit, Georgien als Prototyp zu betrachten. Europa darf nicht länger übersehen, dass Russland hier gerade ein politisches Experiment umsetzt – und zwar äußerst erfolgreich.
Georgien als Prototyp
Denn inzwischen ist Georgien keine angeschlagene Demokratie mehr – es ist ein politisches Testlabor. Ein funktionierender Prototyp dafür, wie sich demokratische Institutionen systematisch entkernen lassen – nicht durch permanente Gewalt oder klassische Putsche, sondern durch eine kontrollierte, juristisch legitimierte und strategisch eingesetzte Repressionspraxis. Gewalt gehört dabei sehr wohl zum Instrumentarium – etwa bei der Auflösung von Protesten oder bei der Einschüchterung politischer Gegner. Doch sie wird eingebettet in ein System scheinbarer Legalität: Gerichte, Gesetze und Behörden erzeugen die Fassade rechtsstaatlicher Verfahren, während gezielt Oppositionelle verfolgt, Medien unter Druck gesetzt und zivilgesellschaftliche Organisationen delegitimiert werden.
Der autoritäre Umbau erfolgt nicht mit Panzern, sondern mit Paragrafen – nicht mithilfe eines Ausnahmezustands, sondern unter dem Deckmantel von „Rechtsstaatlichkeit“, „Reformen“ und „europäischer Integration“. So entsteht eine Fassade von Demokratie, hinter der autoritäre Strukturen wachsen – schleichend, legalistisch, und oft unbemerkt von einem Westen, der lieber an Reformnarrativen festhält als den Verlust realer demokratischer Substanz einzugestehen. Es ist ein Regime, das Wahlen abhält, die diesen Namen schon längst nicht mehr verdienen, die – so das Ergebnis der internationalen Wahlbeobachter – manipuliert und gefälscht wurden. Ein Regime unter dem Proteste offiziell erlaubt sind, aber wirkungslos bleiben. In dem Korruption Alltag ist, politische Verantwortung jedoch systematisch ausgehebelt wird. Und vor allem: Es ist ein Regime, bei dem das Drehbuch des Kremls auf dem georgischen Boden perfektioniert wurde.
Die perfekte Simulation von Demokratie
Unter der informellen Herrschaft des Oligarchen Bidzina Iwanischwili hat Georgien eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren und die Rechtsprechung zur politischen Waffe umfunktioniert. Das Parlament erfüllt nur noch die Rolle eines Abnick-Gremiums. Kritische Medien werden wirtschaftlich ausgehungert, juristisch verfolgt oder durch orchestrierte Diskriminierungskampagnen eingeschüchtert. Oppositionspolitiker sehen sich absurden Strafverfahren ausgesetzt, während Demonstrierende brutal niedergeschlagen und öffentlich als Unruhestifter gebrandmarkt werden.
Und dennoch: Für Außenstehende wirkt die Lage stabil. Es gibt keine Panzer auf den Straßen, keinen Ausnahmezustand, keinen offenen Staatsstreich. Stattdessen erleben die Menschen in Georgien gezielte Gewalt in kontrollierter Form: Proteste werden mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern niedergeschlagen, Aktivist:innen und Journalist:innen systematisch eingeschüchtert, Oppositionelle durch Polizeiaktionen, willkürliche Festnahmen oder Strafverfahren unter Druck gesetzt. Gleichzeitig betonen die Sprecher der illegitimen Regierung weiterhin, dass der EU-Integrationskurs des Landes unverändert bleibt – während sie parallel Gesetze nach russischem Vorbild einführen, um NGOs und Presse zu kontrollieren und zu diskreditieren. Dieses Verhalten des Regimes in Georgien ist kein Zufallsprodukt. Es ist Teil einer durchdachten Strategie: Georgien ist heute ein Regime mit westlichem Erscheinungsbild und russischem Innenleben.
Der Westen schaut weg – und Putins Plan geht auf
Die Reaktionen aus Brüssel, Berlin, Paris und Washington bleiben bemerkenswert zaghaft und kontraproduktiv. Aus Angst versuchen unsere Freunde aus dem Westen, die letzten Gesprächskanäle mit dem oligarchischen Regime nicht zu verlieren, sie bleiben diplomatisch und halten sich zurück. Doch genau diese Zurückhaltung wird von der georgischen Regierung einkalkuliert, und: Sie wird strategisch genutzt.
Solange Gewalt weniger sichtbar ist, wegretuschiert und übersehen wird, bleiben Sanktionen aus. Solange man höflich auftritt, bleibt die Isolation fern. Der Westen wird dadurch – gewollt oder ungewollt – zu einem bloßen Statisten in einem autoritären Schauspiel. Gleichzeitig leben die Menschen in Georgien in einer politischen Simulation: Sie dürfen zwar wählen, aber nicht entscheiden. Sie dürfen zwar sprechen, aber niemand hört ihnen zu.
Wie das Regime die Opposition ausschaltet
Das Ivanischwili-Regime geht systematisch gegen die demokratische Opposition vor – und zwar nicht nur durch offene Gewalt, sondern mithilfe von Justizmissbrauch und gesetzlichen Tricks: Prominente Politiker wie Nika Melia, Nika Gvaramia, Zurab Japaridze sowie Giorgi Vashadze werden von konstruierten Strafverfahren überzogen, weil sie von der Regierung installierte, parlamentarische „Untersuchungskommissionen“ ignorieren oder angeblich „die Institutionen missachten“. Diese Kommissionen – geleitet von der Regierungspartei Georgian Dream und rückwirkend bis ins Jahr 2003 ausgeweitet – dienen nicht der Aufklärung: Sie wollen die Opposition diskreditieren. Ziel ist es, die gesamte pro-europäische Opposition als Teil einer „Kollektiven Nationalen Bewegung“ (so der Name der politischen Partei des ehemaligen Präsidenten Saakashvili) zu brandmarken und durch neue Gesetze zu verbieten. Am 13. Mai verabschiedete das Parlament ein entsprechendes Gesetzespaket – der erste Schritt zur juristischen Auslöschung der politischen Konkurrenz.
Die Strategie ist klar: Kein offenes Verbot, sondern die administrative Erstickung durch Justiz, Auflagen, Einschüchterung und politische Repression – bei gleichzeitiger Wahrung demokratischer Formen. Ein Modell, das täuscht – und das exportiert werden kann.
Auch westliche Diplomaten werden zum Ziel
Die Repression des Regimes macht nicht mehr an den Grenzen Georgiens halt. Am 18. Mai wurde der deutsche Botschafter Peter Fischer in Batumi öffentlich beschimpft – der Angreifer, ein mutmaßlicher Anhänger der Regierungspartei, prahlte in sozialen Medien mit seiner Tat. Die regierungsnahe Propagandaplattform POSTV verbreitete das Video gezielt. Die Regierung schweigt.
Zuvor war Fischer bereits vom Parlamentspräsidenten Shalva Papuashvili verbal attackiert worden, weil er eine Gerichtsverhandlung gegen die politisch inhaftierte Journalistin Mzia Amaghlobeli beobachtete. Ihm wurde vorgeworfen, „Druck auf die Justiz“ auszuüben – ein durchschaubarer Versuch, internationale Diplomatie zu diskreditieren und als unzulässige Einmischung darzustellen. Der Vorfall macht deutlich: Die hybride Repression des Regimes richtet sich längst nicht mehr nur gegen die eigene Opposition. Sie zielt inzwischen bewusst auf europäische Akteure, um die internationale Beobachtung zu untergraben, westliche Solidarität abzuschrecken – und das Land endgültig der autoritären Kontrolle zu unterwerfen.
Das Modell Georgien als Vorreiter für Europa
Georgien ist kein Einzelfall – aber es ist Vorreiter. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in Serbien, Ungarn oder Slovakei beobachten: Autokraten, die die Sprache des Westens beherrschen, aber dessen Werte systematisch untergraben. In Georgien ist diese hybride Herrschaft besonders weit fortgeschritten. Das Regime inszeniert Demokratie – und entkernt sie zugleich. Es zeigt Ordnung – und zersetzt die Freiheit. Wird dem, was in Georgien geschieht, kein klares Stoppsignal entgegengesetzt, droht dieses Modell zur Blaupause für andere Länder zu werden – auch für Staaten, die geografisch und politisch deutlich näher an der Europäischen Union liegen. Denn Georgien zeigt, wie sich Demokratie im 21. Jahrhundert nicht durch Putsche oder Kriege beseitigen lässt, sondern durch die schrittweise Aushöhlung rechtsstaatlicher Institutionen bei gleichzeitiger Wahrung demokratischer Äußerlichkeiten. Es ist die perfekte Simulation eines demokratischen Staates, in dem Gerichte existieren, die weder unabhängig sind noch Recht wahren; in dem Wahlen stattfinden, die keine sind; in dem Medien zu Propagandainstrumenten geworden sind.
Dieses autoritäre Modell mit demokratischem Anstrich ist für viele Regime attraktiv – weil es effektiv ist und dennoch kaum internationalen Druck erzeugt: Es ist kein offener Bruch mit der Demokratie, sondern ihre langsame Entkernung unter Wahrung der Fassade. Ungarn, Serbien oder gar EU-Beitrittskandidaten wie Moldau und Bosnien-Herzegowina sehen sich bereits ähnlichen Dynamiken ausgesetzt. Wenn Georgien damit durchkommt – trotz offenkundiger Repressionen, trotz des neuen Gesetzes gegen „ausländische Agenten“ nach russischem Vorbild (und dessen Titel bereits in die Irre führt), trotz der systematischen Ausschaltung der Opposition – dann ist die Botschaft klar: Man kann Demokratie abbauen, ohne den Preis der Isolation zu zahlen. Das stärkt all jene autoritären Kräfte auch innerhalb der EU, die ähnliche Wege einschlagen wollen. Europa muss erkennen: Georgien ist kein Einzelfall in der östlichen Nachbarschaft. Es ist ein Vorzeichen. Wer heute in Tiflis schweigt, wird morgen in Belgrad, Sofia oder sogar Warschau das Echo hören.
Der Westen muss die pro-europäischen Kräfte in Georgien unterstützen
Erstens: Die Illusion einer „herausgeforderten Demokratie“ muss beendet werden. Georgien ist ein gekaperter Staat – und muss als solcher behandelt werden.
Zweitens: Der Westen darf gefälschten Wahlen und politische Scheinformate nicht länger legitimieren. Dialog und Diplomatie darf nicht an die Stelle von klaren Bedingungen treten.
Drittens: Sanktionen gegen Defacto-Regierer Bidzina Iwanischwili und sein Umfeld sind kein symbolischer Akt. Sie sind ein entscheidendes, scharfes und nur dadurch auch wirksames Mittel. Denn dieses Regime lebt nicht nur von autoritärer Ideologie, sondern auch vom Zugang zu westlichen Finanzmärkten. Und es lebt letztendlich vom Schweigen Europas.
Schließlich: Der Westen muss jenen zuhören, die Widerstand leisten: Journalisten, Aktivisten, Bürger. Ihre Stimmen sind es, die inmitten der Täuschung noch Demokratie vertreten.
Georgien mag geographisch klein erscheinen. Doch es steht im Zentrum einer Auseinandersetzung, die schon jetzt die Demokratien Europas erfasst. Der Prototyp Georgien steht kurz vor seiner Vollendung. Wenn wir das nicht verhindern, dann wird das Beispiel Georgien Schule machen und andere Länder werden nach dessen Vorbild und entlang des russischen Drehbuchs umgebaut werden zu autoritären Regimen. Dazu braucht es nicht unbedingt Waffen, sondern das Schweigen der Zuschauer und eine gute Inszenierung. Demokratien drohen dann infolge schleichend zu ersticken.
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