Ist die Annexion abgeblasen?

© Shut­ter­stock

Lange schien es, als wollte sich Russland Belarus einver­leiben. Tatsäch­lich verfügt der Kreml aber nur über einge­schränkte Mittel, um das Nach­bar­land zu annek­tieren. Wahr­schein­li­cher ist ein anderes Szenario.

Russlands jüngste Bestre­bungen, Belarus enger an sich zu binden, hat eine Welle alar­mie­render Schlag­zeilen in den west­li­chen Medien hervor­ge­rufen. Folgt man der üblichen Denkweise, dann ist der Unions­staat mit Belarus das, was Wladimir Putin braucht, um über 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. Deshalb, so die logische Schluss­fol­ge­rung, wird er Aljaksandr Lukaschenka dazu zwingen, sich Russland in irgend­einer Form anzu­schließen. Trotz dieser düsteren Aussicht scheint Minsk aber die Agenda für die Verhand­lungen mit Moskau zu bestimmen. 

Portrait von Artyom Shraibman

Artyom Shraibman ist Poli­to­loge und Autor bei tut.by und carnegie.ru.

Alles begann im Dezember des letzten Jahres. Minsk forderte Moskau auf, die durch neue Steu­er­re­ge­lungen entstan­denen Nachteile auszu­glei­chen – sie wurden durch Reformen in der russi­schen Ölin­dus­trie verur­sacht, welche die Vorzugs­preise beim Öl, die Minsk genießt, schritt­weise abbauen. Bisher war zoll­freies Öl die Haupt­säule der Unter­stüt­zung Russlands für die bela­rus­si­sche Wirtschaft.

Der Schlag gegen die Wirt­schaft von Belarus wird bis 2024 zu Minder­ein­nahmen von rund 10 Milli­arden Euro führen. In Reaktion auf wieder­holte Kompen­sa­ti­ons­an­sprüche durch Minsk forderte der russische Premier­mi­nister Dmitri Medwdew eine stärkere Inte­gra­tion, bevor weitere Wirt­schafts­hilfen angefragt werden. Alter­nativ dazu bot er eine Zusam­men­ar­beit im flexi­bleren Rahmen der Eura­si­schen Wirt­schafts­union an, ohne poli­ti­sche Inte­gra­tion und ohne Anspruch auf konti­nu­ier­liche wirt­schaft­liche Vorteile. Medwedew nannte dies ein „konser­va­tives Szenario“.

Verhand­lungen hinter den Kulissen

Das Ultimatum stieß in Minsk viele vor den Kopf. Lukaschenka warf Russland vor, sich Belarus heimlich einver­leiben zu wollen. In jenem Dezember traf er drei Mal mit Putin zusammen. Es wurde eine Arbeits­gruppe beider Regie­rungen einge­richtet, um die Unions­staats­ver­ein­ba­rung von 1999 zu revi­dieren und Bereiche für die Förderung der Inte­gra­tion zu definieren.

Diese Verein­ba­rung von 1999 ist ein sehr ehrgei­ziges Dokument. Dennoch erstreckten sich die Inte­gra­ti­ons­ab­sichten wie etwa in der Zollunion, der Energie- und Indus­trie­po­litik, der Steuer- und Währungs­po­litik sowie von Budget­fragen nur auf das Papier. Seit 20 Jahren, jedes Mal, wenn Minsk und Moskau zu dieser Idee zurück­kehrten, schei­terten sie an der Frage, wie diese Bereiche gemeinsam zu verwalten seien. Belarus wollte eine gleich­wer­tige Stimme, was auch ein Vetorecht für alle über­na­tio­nalen Entschei­dungen bedeuten würde. Russland lehnte diese Idee aufgrund des offen­sicht­li­chen Ungleich­ge­wichts in Größe und Macht zwischen den beiden Staaten ab.

Die neuer­li­chen Verhand­lungen fanden hinter den Kulissen statt, während der Druck von russi­scher Seite stieg. Anfang 2019 nahm der Botschafter Russlands in Belarus, der ehemalige Geheim­dienst­of­fi­zier Michail Babitsch, eine harte Position ein, stritt sich öffent­lich mit Lukaschenka und traf sich mit Vertre­tern der Oppo­si­tion in Minsk. Das kostete den Botschafter seinen Job – nach mehr­fa­chen Rügen durch das bela­rus­si­sche Außen­mi­nis­te­rium wurde Babitsch durch den sanfteren Diplo­maten Dmitri Mesenzew abgelöst.

Die Agenda der Arbeits­gruppen blieb im Verborgenen

Dennoch ist Russlands Vorgehen insgesamt nicht milder geworden. Im Früh­sommer 2019 erklärten russische Offi­zi­elle, dass die Verhand­lungen mit Belarus zu den Gaspreisen für 2020 erst aufge­nommen würden, wenn der Fahrplan für die Inte­gra­tion verein­bart worden sei. Außerdem hat Minsk das verspro­chene Darlehen von 630 Millionen US-Dollar nicht erhalten, wiederum unter dem Vorwand der Inte­gra­ti­ons­ver­hand­lungen, die nicht abge­schlossen gewesen seien.

Die Agenda der Arbeits­grup­pen­ge­spräche blieb lange Zeit im Verbor­genen. Natürlich gab es Anlass für zahl­reiche Speku­la­tionen. Die Wirt­schafts­mi­nister, die den Vorsitz der Gruppe inne­hatten, Dmitry Krutoj von Belarus und Maxim Oreschkin von Russland, meldeten, dass sie knapp vor dem Abschluss des Inte­gra­ti­ons­fahr­plans stünden. Ursprüng­lich verspra­chen sie, sich bis Ende Juni darauf zu verständigen.

Wie so oft in den bela­rus­sisch-russi­schen Bezie­hungen, verpassten sie die Frist. Lukaschenka und Putin trafen am 17. und 18. Juli wieder zusammen, nur um die Ange­le­gen­heit wieder auf die lange Bank zu schieben. Eine neue Frist wurde gesetzt – der 8. Dezember 2019, der 20. Jahrestag des Unionsstaatsvertrags.

Die Angst, dass Belarus seine Souve­rä­nität verliert, schien übertrieben

Die Angst, dass Belarus vor dem Verlust der Souve­rä­nität stehe, schien lange Zeit nicht ange­bracht, um es milde auszu­drü­cken. Oreschkin und Krutoj, der neue russische Botschafter Mesenzew und der bela­rus­si­sche Premier­mi­nister Sergei Rumas stimmten darin überein, dass Moskau und Minsk vorrangig über eine Harmo­ni­sie­rung von Gesetzen und Märkten zu disku­tieren hätten. Der gesamte Prozess müsse bis 2021 abge­schlossen sein, sagte der bela­rus­si­sche Wirt­schafts­mi­nister. Die Politiker bezeich­neten die Idee einer gemein­samen Währung als eine Perspek­tive, die zu weit in der Ferne liege, um sie zu diskutieren.

Eine Harmo­ni­sie­rung von Märkten und Gesetzen war immer das Ziel, das Minsk in seiner Beziehung zu Moskau erreichen wollte. Es führt zu gleich­wer­tigen Bedin­gungen und einer Aufhebung der Handels­bar­rieren für Waren aus Belarus auf dem russi­schen Markt und umgekehrt – alles ohne die Gründung weiterer supra­na­tio­naler Gremien.

Fairer­weise muss man fest­stellen, dass der Begriff „Inte­gra­tion“ norma­ler­weise eine sehr viel engere Annä­he­rung bedeutet. Wenn zwei Länder nicht gemein­same Regeln und Insti­tu­tionen schaffen, um diese Regeln auszu­führen, dann gibt es keine effek­tiven Mecha­nismen zur Umsetzung der „harmo­ni­sierten“ Gesetze. Es sind lediglich zwei souveräne Staaten, die ihre Stra­te­gien koordinieren.

Die Büro­kra­tien sind träge

Dennoch, selbst diese weniger ehrgei­zigen Ziele könnten für Russland und Belarus zu kompli­ziert sein. Die Geset­zes­sys­teme beider Länder haben sich mehr als 25 Jahre lang unab­hängig vonein­ander entwi­ckelt. Sie entspre­chen den jewei­ligen natio­nalen Volks­wirt­schaften und Modellen der Regie­rungs­füh­rung, die sich mitt­ler­weile stark vonein­ander unterscheiden.

Eine einheit­liche Gesetz­ge­bung erreicht man nur in einem kompli­zierten und lang­wie­rigen Prozess. Ein kleines Beispiel: Russland und Belarus kämpfen seit über zwei Jahren gegen den Wider­stand der Mobil­netz­be­treiber für die Abschaf­fung der Roaming-Gebühren für Mobil­te­le­fone. Man kann sich gut vorstellen, wie viele Prot­ago­nisten sich mit ihren Eigen­in­ter­essen den Versuchen der Harmo­ni­sie­rung des gesamten Steu­er­sys­tems oder des Agrar­markts entge­gen­stellen würden. Selbst mit einem starken poli­ti­schen Willen ist das ein Prozess, der viele Jahre, wenn nicht Jahr­zehnte, dauert. Es ist einfach unvor­stellbar, dass Belarus und Russland in so vielen Bereichen die Trägheit ihrer jewei­ligen Büro­kra­tien bis 2021 über­winden können.

Am ehesten werden Minsk und Moskau die Erklärung zum Fahrplan zu dem, was sie jetzt Inte­gra­tion nennen, tatsäch­lich unter­zeichnen. Dennoch ist der Prozess nach aktuellem Stand zu einem endlosen büro­kra­ti­schen Hin-und-Her zwischen den beiden Haupt­städten verdammt.

Minsk scheint zu akzep­tieren, dass die Unter­stüt­zung endet

Die wich­tigste Frage ist, ob diese schwache Inte­gra­tion der russi­schen Führung genügen wird, um die wirt­schaft­liche Unter­stüt­zung für Belarus wieder aufzu­nehmen. Derzeit gibt es wenig Grund zur Annahme, dass es so kommen wird.

Die russische Seite besteht darauf, dass die Steu­er­re­gu­lie­rung – die Frage, die die gesamte Proble­matik ins Rollen brachte – eine interne Ange­le­gen­heit des betref­fenden Landes sei. Das bedeutet keinerlei Entschä­di­gung für auslän­di­sche Partner. Sie werden ihre Position nicht ändern, nachdem sie diese mona­te­lang vertei­digten, nur weil Minsk einer unver­bind­li­chen Diskus­sion über Harmo­ni­sie­rung von Markt und Gesetzen zuge­stimmt hat.

Wichtig ist, dass selbst Minsk zu akzep­tieren scheint, dass sich die wirt­schaft­liche Unter­stüt­zung von russi­scher Seite in Luft auflösen wird. Das bela­rus­si­sche Budget für 2020 wird ohne Steu­er­aus­gleich aufge­setzt. Dasselbe trifft auf das verspä­tete russische Darlehen in Höhe von 630 Millionen US-Dollar zu – Minsk hat bereits in China um eine ähnliche Summe angefragt. Vertreter der bela­rus­si­schen Seite deuten bereits an, dass die Benzin­preise in den nächsten fünf Jahren ansteigen werden. Letztlich ordnete Lukaschenka an, dass die Regierung nach alter­na­tiven Öllie­fe­ranten suchen solle, um nicht alleine von Russland abhängig zu sein.

Belarus wehrt sich vehement gegen eine Annexion

Panik­ma­cher könnten einwenden, dass der Kreml von seinen Plänen, Belarus zu annek­tieren, nicht abrücken und weiterhin Druck ausüben werde. Dennoch, die Frage ist, welche Instru­mente Moskau bleiben, da Minsk sich vehement gegen den Verlust der Souve­rä­nität wehrt.

Eine voll­stän­dige wirt­schaft­liche Blockade wäre riskant, da Russland immer noch vom Gas- und Öltransit über bela­rus­si­sches Terri­to­rium abhängig ist. Die Einmi­schung in die bela­rus­si­sche Innen­po­litik ist keine mögliche Option. Es ist relativ einfach, sich in die poli­ti­schen Prozesse eines demo­kra­ti­schen Staates einzu­mi­schen, aber es ist viel schwie­riger zu beein­flussen, was in einer Auto­kratie passiert.

Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass der Kreml in Belarus weder wichtige poli­ti­sche Infra­struktur noch stra­te­gi­sche Regionen wie die Krim vorfindet, die als Ansatz für eine Einmi­schung genutzt werden könnten. Man sollte sich auch daran erinnern, dass Russland in seiner post­so­wje­ti­schen Geschichte nie erfolg­reich eine Regierung gestürzt hat und schon gar nicht eine derart konso­li­dierte Auto­kratie wie das Regime Lukaschenkas.

Radi­ka­lere mili­tä­ri­sche Optionen sind für Russland einfach zu kost­spielig und zu riskant. Alle innen­po­li­ti­schen Ziele, die Putin für 2024 haben könnte, können durch sehr viel billigere und einfa­chere konsti­tu­tio­nelle Anpas­sungen erreicht werden.

Deshalb scheint es sehr wahr­schein­lich, dass Minsk und Moskau sich an Medwedews „konser­va­tivem Szenario“ orien­tieren. Es bedeutet eine schritt­weise Distan­zie­rung und einen Ausbau der Souve­rä­nität beider Länder. Belarus wird zu einer Diver­si­fi­zie­rung und weiteren Reformen seiner Wirt­schaft gezwungen sein, um selb­stän­diger zu werden. Russland seiner­seits wird einiges Geld sparen, welches es aktuell wohl selbst ganz gut gebrau­chen kann.

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