Menschenwürde, kosmopolitische Bildung und Flüchtlingspolitik
Immanuel Kant legte mit der Idee eines Weltbürgerrechts den Grundstein für eine Ethik, die auch im Zeitalter der Globalisierung Orientierung bietet. Die europäische Debatte um die Flüchtlingspolitik lässt befürchten, dass diese Grundlagen der Humanität nun wieder aufgegeben werden.
In einem hoch umstrittenen Buch – „The Ethics of Immigration“, 2013 – streitet der kanadische Philosoph Joseph Carens für die These, dass alle Menschen das Recht haben, sich überall niederzulassen – Sozialsysteme hin oder her. Tatsächlich erfahren derzeit sowohl in politischer Theorie als auch Philosophie Überlegungen eine Renaissance, die den antiken Begriff des „Kosmopolitismus“ aufnehmen und weiterzuentwickeln suchen. So die an der Yale University lehrende Seyla Benhabib, die sich in dem von ihr 2008 herausgegebenen Sammelband „Kosmopolitismus und Demokratie“ mit den philosophischen Grundlagen kosmopolitischer Normen auseinandersetzt und dabei wesentlich auf Immanuel Kant Bezug nimmt; aber auch der ebenfalls früher in Yale lehrende Thomas McCarthy, der sich in seiner Monographie „Race, Empire and the Idea of Human Development“ im Jahr 2009 mit dem Paradox auseinandersetzt, dass ein universalistisch gesonnener Philosoph wie Kant gleichwohl Rassentheorien akzeptierte; und schließlich ist die in Utrecht lehrende Pauline Kleingeld zu nennen, die in ihrem 2012 publizierten Buch „Kant and Cosmopolitanism. The Philosophical Ideal of World Citizenship“ nachweist, dass genau diese Philosophie der Aufklärung, Kants Philosophie die Basis für ein reales Weltbürgertum darstellen könnte.
Tatsächlich hat Kant in seiner Schrift zur „Metaphysik der Sitten“ aus dem Jahr 1798 im §62 die Idee eines „Weltbürgerrechts“ konzipiert, eines Rechts, in dem das „Recht des Erdenbürgers“ postuliert wird,„die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird.“
Drei Jahre zuvor schon, 1795, hat Kant in seiner Schrift zum „Ewigen Frieden“ zur Idee eines Weltbürgerrechts geäußert:„Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft[...] die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum).“
Allerdings: Kant gab nämlich seinem Weltbürgerrecht – um jedem kolonialistischem Missbrauch vorzubeugen – folgenden Wortlaut: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ Hospitalität aber umfasst das Recht eines Fremdlings, “seiner Ankunft auf dem Boden eines anderen wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.“ Kant postuliert aber vor allem, dass „der andere“ den Fremdling nur abweisen kann, „wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann.“
Das aber ist der entscheidende Punkt: Das Weltbürgerrecht, das „Hospitalitätsrecht“, verbietet das Abweisen von Fremden, sofern es den absehbaren Untergang des Fremdlings zur Folge hat. Aus diesem Verbot folgt eine positive Konsequenz: Die Pflicht zur Aufnahme aller an die Grenzen eines Landes Kommenden, sofern ihre Zurückweisung nicht mit möglichen schweren Beeinträchtigungen ihrer Würde, ihrer Gesundheit oder ihres Lebens verbunden ist. Präzisiert man dieses Prinzip um die in der globalisierten Welt unabweisbar gewordene Einsicht, dass „politische“ Verfolgung keineswegs notwendig an die gezielte Verfolgung durch staatliche Akteure gebunden ist, sondern um letztlich politisch verursachte Fluchtgründe, so kann daraus nichts anderes folgen, als dass Bürgerkriegsflüchtlinge allemal asylantragsberechtigt sind.
Das sieht eine für die Globalisierung sensibilisierte politische Philosophie und die ihr entsprechende Ethik nicht anders. Seyla Benhabib drückte das so aus, dass sie einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Kants Postulaten der Gastfreundschaft feststellte: „Der Status des Fremden ist durch staatliche wie durch internationale Gesetze geschützt; der Gast ist nicht länger Gast, sondern ein ‚resident alien‘, wie es in den USA heißt, oder ein ‚foreign citizen‘, ein ‚ausländischer Mitbürger‘, wie Europäer sagen.“
Man wird indes fragen müssen, ob sich gegenwärtig in den Ländern des Westens nicht eine Gegenbewegung abzeichnet, jene Anfänge weltbürgerlicher Vergemeinschaftung wieder zurückzunehmen, wovon die Flüchtlingspolitik der EU und nicht zuletzt die gegenwärtigen deutschen Koalitionsverhandlungen zeugen.
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