China: Ein Blick hinter die Fassade einer (nur scheinbar) gleich­ge­schal­teten Gesellschaft 

Foto: Shutterstock, rongyiquan
Foto: Shut­ter­stock, rongyiquan

China wird immer auto­ri­tärer – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Das führt dazu, dass das Land im Westen zunehmend als rigoros durch­zen­sierte Gesell­schaft gesehen wird. Doch der Schein trügt.

Für Menschen wie David Ownby sind es schwere Zeiten. Der Kanadier ist China-Wissen­schaftler, er lehrt und forscht an der Univer­sität Montréal. Ownby hat Bücher über die Rolle von Religion im modernen China geschrieben. Aber seit ein paar Jahren inter­es­siert er sich besonders für chine­si­sche Geistesgeschichte.

Aber Ownby hat ein Problem: Chine­si­sche Geis­tes­ge­schichte steht derzeit nicht gerade hoch im Kurs. Und das liegt nicht nur daran, dass sie ein Orchi­deen­fach ist.

Seit einiger Zeit liegt das auch daran, dass China vor allem für negative Schlag­zeilen sorgt. Von der Unter­drü­ckung der Uiguren in der Nord­west­pro­vinz Xinjiang über die Nieder­schla­gung der Demo­kra­tie­be­we­gung in Hongkong bis hin zur Mili­ta­ri­sie­rung des Südchi­ne­si­schen Meeres: Pekings zunehmend auto­ri­tärer Gestal­tungs­an­spruch stößt – völlig zurecht – in der Öffent­lich­keit auf Kritik.

Doch hinzu kommt, dass Peking nicht nur nach außen autoritär ist, sondern auch nach innen. 

Die Zensoren halten Jour­na­listen, Künstler und Wissen­schaft­lern an der kurzen Leine. So dringen immer weniger Infor­ma­tionen ins Ausland. Gleich­zeitig lässt Peking immer weniger auslän­di­sche Korre­spon­denten ins Land. Unab­hän­gige, vor Ort recher­chierte Infor­ma­tionen sind Mangel­ware. Das führt dazu, dass in der globalen Diskus­sion über China kaum Chinesen zu Wort kommen, sondern vor allem chine­si­sche Propagandisten.

Im Westen hat das zu etwas geführt, das der Jour­na­list und Pulitzer-Preis­träger Ian Johnson „Sino-Pessi­mismus“ nennt.

Gemeint ist damit, dass immer mehr Menschen im Westen glauben, dass es sich nicht lohnt, sich mit China ausein­an­der­zu­setzen – sei es sprach­lich, kulturell oder intel­lek­tuell. Sie glauben, dass die chine­si­sche Gesell­schaft gleich­ge­schaltet ist – ohne jeglichen Raum für eigenes Denken und offene Debatten. Kurz: Sie haben China als einen tota­li­tären Monolith abgeschrieben.

Dabei ist das grund­falsch, findet David Ownby. 

Der Kanadier hat vor ein paar Jahren eine Seite ins Internet gestellt, sie nennt sich „Reading The China Dream“. Mit dieser Webseite will Ownby gegen den „Sino-Pessi­mismus“ anschreiben. Er übersetzt dort Artikel und Essays chine­si­scher Intel­lek­tu­eller. Wer sich durch die Über­set­zungen klickt, erhascht einen Blick hinter die Fassade einer Gesell­schaft, die nur scheinbar gleich­ge­schaltet ist. Einer Gesell­schaft, in der Intel­lek­tu­elle nach wie vor Uner­hörtes denken und schreiben.

Zum Beispiel Qin Hui. Der Histo­riker gehört zu einer Gruppe liberaler Denker. Ownby hat einen Essay übersetzt, in dem Qin China mit dem Südafrika der Apartheid-Ära vergleicht. (https://www.readingthechinadream.com/qin-hui-looking-at-china-from-south-africa.html) Qins Argument: Die Wirt­schafts­wunder in China und Südafrika basieren auf Diskri­mi­nie­rung – in Südafrika gegen Schwarze, in China gegen Bauern. In einem anderen Essay entwi­ckelt Qin den Gedanken, dass Chinas geringe Achtung von Menschen­rechten die Globa­li­sie­rung ad absurdum führt. Chinas Aufstieg zur Fabrik der Welt und der damit verbun­dene Rückgang von Jobs im Westen habe bewirkt, dass Länder im Westen in eine doppelte Krise geraten seien: Zum einen müssten sie immer mehr Geld für Sozi­al­aus­gaben beisei­te­legen. Zum anderen verschul­deten sie sich immer tiefer bei China.

Oder Xiang Lanxin. Ownby hat ein Interview mit dem Poli­tik­wis­sen­schaftler übersetzt, in dem Xiang die „Wolfs­krie­ger­di­plo­matie“ des chine­si­schen Außen­mi­nis­te­riums kriti­siert. In Anlehnung an eine in China hoch­gradig populäre Action-Film-Reihe wird damit ein diplo­ma­ti­scher Stil bezeichnet, der auf Konfron­ta­tion und Aggres­sion setzt. Als Prototyp des „Wolfs­krie­gers“ gilt Zhao Lijian, ein Sprecher des chine­si­schen Außenamts. Zhao stellte im vergan­genen Jahr die unbelegte Behaup­tung in den Raum, ameri­ka­ni­sche Soldaten hätten das Coro­na­virus nach China einge­schleppt. Xiangs Argument: Die diplo­ma­ti­sche Abwärts­spi­rale, die durch die „Wolfs­krie­ger­di­plo­matie“ ausgelöst wird, schadet der inter­na­tio­nalen Ordnung – und damit auch China.

Der China-Forscher Ownby beschäf­tigt sich schon lange mit China. Und bis zum Amts­an­tritt von Präsident Xi Jinping hat der Kanadier so etwas wie ein goldenes Jahrzehnt beob­achtet. Zwischen 2000 und 2015 ­– wohl ange­trieben durch den Inter­net­boom – habe in China ein regel­rechter Plura­lismus geherrscht, findet Ownby. Seit dem Amts­an­tritt von Xi ist das anders. Die meisten Intel­lek­tu­ellen publi­zieren zwar immer noch, aber viele sind zurück­hal­tender geworden.

Ein Beispiel: Im Denken von Ren Jiantao erkennt Ownby klare Unter­schiede. Vor einem Jahrzehnt habe der Poli­tik­wis­sen­schaftler noch argu­men­tiert wie ein west­li­cher Libe­ral­kon­ser­va­tiver – und die Volks­re­pu­blik für vieles kriti­siert. Heute sei Ren von Chinas Aufstieg besoffen – und habe nur noch Positives zu berichten. Manche Intel­lek­tu­elle sind sogar ins Faden­kreuz des Regimes geraten: Der liberale Rechts­wis­sen­schaftler Xu Zhangrun wurde im vergan­genen Jahr vorüber­ge­hend fest­ge­nommen – nachdem er Xi Jinping in einem Essay kriti­siert hatte, ohne ihn beim Namen zu nennen.

Trotz alledem sei „Sino-Pessi­mismus“ nicht ange­bracht, findet Ownby. In China werde immer noch gedacht und gestritten. Natürlich habe die Zensur unter Präsident Xi zuge­nommen. Aber: „Nur weil chine­si­sche Intel­lek­tu­elle nicht alles sagen dürfen, was sie wollen, heißt das nicht, dass sie nichts sagen dürfen“, sagt er.

Erin­ne­rung daran, dass es Chinesen gibt, mit denen wir reden können

Ownby übersetzt auf seiner Webseite Artikel und Essays von Menschen, die er „öffent­liche Intel­lek­tu­elle“ nennt. Also von Denkern, die über ihr Wirken in ihrer univer­si­tären Disziplin hinaus ein gewisses öffent­li­ches Profil haben. Essays von Dissi­denten sucht man auf der Webseite vergeb­lich. Der Gedanke dahinter: Die Posi­tionen von Dissi­denten – so legitim sie sind – spiegeln fast nie den chine­si­schen Main­stream wider. Genau das möchte der Kanadier aber: Er will einen Einblick in die wilde Welt der chine­si­schen Intel­lek­tu­ellen ermög­li­chen – aber nicht ausgehend von den Rändern des Meinungs­spek­trums, sondern von seiner Mitte.

„Sino-Pessi­mismus“ spiele letzten Endes den Propa­gan­disten in die Hände, findet Ownby. Denn die Ablehnung im Westen ermutige die Propa­ganda dazu, ungeniert zu immer schril­leren Tönen zu greifen. „Ich denke, die Lektüre meiner Denker kann als Korrektiv dienen“, sagt Ownby: „Als Erin­ne­rung daran, dass es Chinesen gibt, mit denen wir reden können.“

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