„Das ist auch unser Krieg“

Was bei Russlands Krieg gegen die Ukraine auf dem Spiel steht und was zu tun ist. Zehn Thesen von Ralf Fücks und Marie­luise Beck im Gastbeitrag für den SPIEGEL. 

Wir kommen gerade aus der Ukraine zurück, es war unsere dritte Reise seit Beginn der russi­schen Invasion. In Kiew führten wir politische Gespräche und trafen langjährige Freunde. Wir waren auch in Charkiw, wo die Menschen einen beein­dru­ckenden Selbst­be­haup­tungs­willen demons­trierten. So wie in vielen Regionen des Landes. Bei unserem letzten Besuch vergan­genen Juni war die Atmosphäre bedrü­ckend; die Stadt war halb leer, die militä­rische Lage unsicher. Jetzt ist sie wieder voller Leben, auch wenn von Norma­lität keine Rede sein kann – die Flugzeit russi­scher Raketen von jenseits der Grenze beträgt 40 Sekunden. In der Stadt Isjum erfuhren wir, was russische Besatzung bedeutet: Willkür­herr­schaft, Massen­gräber, Folter, sexua­li­sierte Gewalt. Die vielen Eindrücke haben unser Bild davon geschärft, was auf dem Spiel steht – nicht nur für die Ukraine, sondern für die Zukunft Europas.

  1. Reden wir nicht lang herum: Die deutsche Politik ist mitver­ant­wortlich für diese europäische Katastrophe. Von der Kumpanei zwischen Schröder und Putin über die Merkel-Jahre bis in den Februar 2022 hat sie die Gefah­ren­zeichen aus Moskauherun­ter­ge­spielt und die falschen Signale Richtung Kreml gesendet. Die Liste ist lang: Die Leise­tre­terei nach der russi­schen Invasion in Georgien, das verlegene Schweigen nach dem groß angelegten Hacker­an­griff auf den deutschen Bundestag, die hartnä­ckigen Illusionen über eine »diplo­ma­tische Lösung« nach der Annexion der Krim und der Besetzung von 20 Prozent des ukrai­ni­schen Terri­to­riums 2014, die Ignoranz gegenüber den geschichts­re­vi­sio­nis­ti­schen Pamphleten Putins, das sture Festhalten an der »Energie­part­ner­schaft mit Russland«, die achsel­zu­ckende Hinnahme der russi­schen Kriegs­ver­brechen in Syrien – all das bestärkte Putin & Co. im Glauben, dass von Deutschland kein ernst­hafter Wider­stand zu erwarten sei. Mit den Öl- und Gasim­porten aus Russland finan­zierten wir die Aufrüstung des Regimes, während Waffen für die Ukraine zum Tabu erklärt wurden, um »Russland nicht zu provo­zieren«. Faktisch haben wir damit die Schwelle für den russi­schen Angriff gesenkt.
  2. Das ist die Vorge­schichte. Aber auch der Ausgang des Krieges berührt uns unmit­telbar. Putin attackiert nicht nur die Ukraine, sondern das trans­at­lan­tische Bündnis und die europäische Sicher­heits­ordnung. Man muss nur endlich ernst nehmen, was die russische Führung am Vorabend des Angriffs forderte: eine Revision der Nato-Osterwei­terung und eine Rückkehr zum Prinzip von Jalta, der Konferenz am Ende des Zweiten Weltkriegs, bei der das östliche Europa der sowje­ti­schen Einfluss­sphäre zugeschlagen wurde. Wenn der Westen sich jetzt als schwach zeigt, was sollte Putin daran hindern, die Nato im Baltikum zu testen, sobald sich Russland militä­risch wieder stark fühlt? Entweder wird der russische Neoim­pe­ria­lismus in der Ukraine gestoppt – oder der nächste Krieg findet auf Nato-Terri­torium statt. Polen und die balti­schen Länder wissen das.
  3. Bei der unein­ge­schränkten Unter­stützung der Ukraine geht es nicht allein um Solida­rität. Dieser Krieg berührt unsere ureigenen Inter­essen: Das Völker­recht darf nicht dem Faust­recht weichen; Angriffs­kriege müssen geächtet und die gleiche Souve­rä­nität aller Staaten respek­tiert werden; kollektive Sicherheit kann es nur mit Gewalt­ver­zicht geben. Wenn wir uns als unfähig erweisen, diese Prinzipien zu vertei­digen, wird das autoritäre Regimes weltweit ermutigen, Gewalt als Mittel der Politik einzu­setzen. Jeder noch so kleine Erfolg Putins in der Ukraine wird zugleich die Risse in der trans­at­lan­ti­schen Allianz und innerhalb der EU vertiefen. Kriegs­be­reite Regimes verachten Konflikt­scheue als Schwäche. Gegen sie müssen Frieden und Sicherheit mit einer Politik der Stärke verteidigt werden.
  4. Aus alledem folgt: Das ist auch unser Krieg. Daraus folgt nicht, dass wir die Bundeswehr in die Ukraine schicken und den großen Showdown zwischen Russland und der Nato riskieren sollten. Die Ukrainer sind bereit, auch für uns zu kämpfen. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass sie gewinnen. Den Krieg gewinnen heißt: die volle terri­to­riale Integrität und politische Souve­rä­nität der Ukraine vertei­digen. Die große Mehrheit der Ukrainer ist dazu fest entschlossen, trotz aller Opfer, die der Krieg fordert. Sie wissen, was es bedeutet, unter russi­scher Besatzung zu leben: Gewalt­herr­schaft, Massen­gräber, Folter, willkür­liche Verhaf­tungen, Depor­ta­tionen, Auslö­schung der ukrai­ni­schen Sprache und Kultur. Niemand darf die Ukraine nötigen, Millionen Menschen preis­zu­geben. Und niemand darf die Ukraine zu »terri­to­rialen Konzes­sionen« drängen, die ihre Sicherheit und ökono­mische Lebens­fä­higkeit auf Dauer untergraben.
  5. Ob die Ukraine den Krieg gewinnen kann, hängt entscheidend von uns ab. Der Westen verfügt über das weitaus größere ökono­mische, technische und militä­rische Potenzial gegenüber Russland. Woran es fehlt, ist der politische Wille, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Bei aller Anerkennung für die bislang geleistete Unter­stützung: Sie zielte darauf ab, dass sich die Ukraine unter großen Verlusten behaupten, nicht aber, dass sie die Oberhand gewinnen konnte.
  6. Das politische Ziel bestimmt die militä­ri­schen Mittel. Wenn am Ende dieses Krieges die Befreiung der besetzten Gebiete und die unein­ge­schränkte Souve­rä­nität der Ukraine stehen soll, muss der Westen so rasch wie irgend möglich alle Waffen zu Verfügung stellen, die sie für eine erfolg­reiche Gegen­of­fensive benötigt. Solange Putin darauf hoffen kann, dass der Westen ermüdet und die Ukraine am Ende in einen »Kompromiss« mit Russland nötigen wird, gibt es keine Chance auf einen Frieden, der diesen Namen verdient. Die ständig wieder­holte Formel, die Ukraine müsse selbst entscheiden, zu welchen Zugeständ­nissen sie bereit sei, bleibt eine hohle Phrase, wenn wir sie militä­risch so kurzhalten, dass sie nur noch die Wahl zwischen einem verlust­reichen Abnut­zungs­krieg und einem Waffen­still­stand hat, der eine Teilung des Landes festschreibt. Das wäre eine Tragödie für die Ukraine und ein verhee­rendes Signal weit über Europa hinaus.
  7. Die deutsche Politik hat seit dem Beginn der russi­schen Großof­fensive einen weiten Weg zurück­gelegt. Wir sind inzwi­schen – wenn auch mit weitem Abstand zu den USA– der zweit­wich­tigste Waffen­lie­ferant der Ukraine. Dennoch folgt unsere Unter­stützung bis heute dem Muster »too little, too late«. Der Bundes­kanzler nennt das Beson­nenheit. Tatsächlich treibt unsere Zöger­lichkeit die ukrai­ni­schen Verluste in die Höhe. Sie trug dazu bei, dass die Ukraine das Momentum der erfolg­reichen Gegen­of­fensive im Herbst 2022 nicht nutzen konnte, um einen Großteil ihres Terri­to­riums zu befreien. Sie gab Russland Zeit, seine Rüstungs­pro­duktion anzukurbeln, seine Front­linien zu befes­tigen und sich hinter Minen­feldern zu verschanzen. Das neuer­liche Hin und Her um die Lieferung von Taurus-Lenkra­keten schränkt die Fähigkeit der Ukraine ein, russische Stütz­punkte, Depots und Nachschubwege in der Tiefe des Raums anzugreifen.
  8. Unsere Furcht vor einer weiteren Eskalation des Krieges hält die Ukraine in einer asymme­tri­schen Krieg­führung fest. Sie wird von Russland aus angegriffen, soll sich aber nur auf ihrem Terri­torium vertei­digen können. Das völker­rechtlich verbriefte Recht auf Selbst­ver­tei­digung macht jedoch nicht an der eigenen Staats­grenze halt. Russland setzt das gesamte konven­tio­nelle Waffen­ar­senal einer Großmacht ein, wir zögern bei jedem neuen Waffen­system, das die Ukraine in eine stärkere Position bringt . Statt uns den Kopf über Putins »rote Linien« zu zerbrechen, sollten wir ihmklare Grenzen setzen. Der Kreml muss wissen, dass jeder neue Raketen­an­griff, jeder Angriff auf den ukrai­ni­schen Getrei­de­export, jede Attacke auf die Energie­ver­sorgung mit verstärkter Unter­stützung der Ukraine beant­wortet wird. Dazu gehört auch die Botschaft: Lasst die Finger von Massen­ver­nich­tungs­waffen. Ihr Einsatz hätte verhee­rende Konse­quenzen für Russland. Man nennt das Abschre­ckung. Sie ist nach allen vergeb­lichen Verhand­lungen die einzige Sprache, die Putin versteht.
  9. Verhand­lungen kann es erst geben, wenn Moskau bereit ist, die volle politische Souve­rä­nität der Ukraine zu respek­tieren und seine Truppen aus den besetzten Gebieten zurück­zu­ziehen. Wohlge­merkt: Das sind keine Maximal­for­de­rungen, sondern das Minimum des Völker­rechts und der europäi­schen Friedens­ordnung. Zu jedem nachhal­tigen Frieden gehört auch, dass die Verant­wort­lichen für die russi­schen Kriegs­ver­brechen zur Rechen­schaft gezogen werden. Wer einen Angriffs­krieg gegen einen fried­lichen Nachbarn vom Zaun losbricht, darf nicht ungeschoren davon­kommen. Ein drittes Element jeder Verhand­lungs­lösung müssen Entschä­di­gungen für die Zerstö­rungen sein, die Russland in der Ukraine angerichtet hat. Mit dem einge­fro­renen Vermögen der russi­schen Zentralbank gibt es dafür ein Faust­pfand. Klar muss auch sein, dass weder der Beitritt der Ukraine zur EU noch ihre Mitglied­schaft in der Nato verhan­delbar sind. Russland hat kein Recht, über die Zukunft seiner Nachbarn zu bestimmen.
  10. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Test der Stärke der westlichen Demokratien. Künftige Histo­riker werden in ihm einen Schlüs­sel­moment für die Zukunft Europas und der inter­na­tio­nalen Ordnung sehen. Wenn wir diese Prüfung nicht bestehen, versagen wir nicht nur gegenüber der Ukraine. Die Kräfte­ver­hält­nisse verschieben sich dann weiter zugunsten der autori­tären Mächte, die den »dekadenten Westen« im Niedergang sehen. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun. Umgekehrt kann eine unabhängige, freie Ukraine zu einem Anker­punkt für eine demokra­tische Trans­for­mation in der gesamten Region werden. Das gilt auch für Russland. Wer dieses Land nicht auf Dauer abschreiben will, sollte alles tun, damit der russische Neoim­pe­ria­lismus in der Ukraine scheitert. Das ist Voraus­setzung für jeden Wandel zum Besseren.

Der Beitrag erschien zuerst bei SPIEGEL Online.

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