Keine Illusionen, bitte!

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Seit dem Amtsan­tritt des neuen ukrai­ni­schen Präsi­denten Wolodymyr Selenskyj sind auch die deutsch-russi­schen Bezie­hungen wieder in Gang gekommen. Es wäre aller­dings falsch, über die neoim­pe­rialen und autori­tären Entwick­lungen in Russland hinwegzusehen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seit seinem Amtsan­tritt im Mai 2019 einige mutige Schritte für eine Deeska­lation der Lage im Donbass unter­nommen. So hat er die Modali­täten für die Auszahlung von Renten für ukrai­nische Staats­bürger in den Gebieten, die nicht unter der Kontrolle Kiews stehen, verein­fachen lassen. Die ukrai­ni­schen Kräfte führten auf sein Geheiß erste Maßnahmen zu einer Entflechtung der Front­linie rund um den Check­point Staniza Luhanska durch. Zudem venti­lierte Selenskyj Szenarien, wonach eine Aufhebung der Wirtschafts­blo­ckade denkbar sei. 

Portrait von Manuel Sarrazin

Manuel Sarrazin ist Bundes­tags­ab­ge­ord­neter von Bündnis 90/​Die Grünen. Er sitzt im Auswär­tigen Ausschuss sowie im EU-Ausschuss.

Diese Schritte Selen­skyjs führten zu einem neu verein­barten Waffen­still­stand, der, nach anfäng­lichen Problemen, bisher zu halten scheint. Diese Nachrichten führen in einigen Kreisen in Berlin und Moskau zu der Vorstellung, das „Ukraine-Problem“ relativ rasch so lösen zu können, dass eine wirtschaft­liche und politische Norma­li­sierung der Bezie­hungen möglich sei, ohne die Situation in den von Russland kontrol­lierten Gebieten des Donbass grund­legend zu ändern. Dies offenbart jedoch vor allem auf der Berliner Seite ein fehlendes Verständnis dafür, dass Russland in der Ostukraine ganz andere Pläne verfolgt, als es das Minsker Abkommen vorsieht.

Sicherlich standen die von Selenskyj unter­nom­menen Schritte in Bezug auf eine Deeska­lation des Krieges mit Russland auch in Zusam­menhang mit dem Wahlkampf, der am 21. Juli mit einem Durch­marsch seiner neu gegrün­deten Partei zur absoluten Mehrheit im ukrai­ni­schen Parlament endete. Im selben Zeitraum hat der Kreml Fakten in gegen­sätz­licher Richtung geschaffen: Direkt nach der ukrai­ni­schen Präsi­dent­schaftswahl Ende April wurde mit der Ausgabe von russi­schen Pässen in den so genannten Volks­re­pu­bliken im Osten der Ukraine begonnen. Nur wenige Tage vor der ukrai­ni­schen Parla­mentswahl am 21. Juli weitete Wladimir Putin diese Praxis, die klar dem Minsker Abkommen wider­spricht, auf die gesamte Ukraine aus. Die Ausgabe von Pässen eskaliert dabei nicht nur kurzfristig den Konflikt zwischen beiden Staaten. Nach Lesart der russi­schen Außen­po­litik erweitert sie das Reper­toire der Legiti­mation russi­scher Inter­vention in anderen Staaten („Vertei­digung russi­scher Bevöl­kerung“), und ist schon oft genug ein weiterer Schritt in Richtung einer fakti­schen Annexion von Gebieten gewesen.

Eine schnelle Lösung des Krieges im Donbass ist leider unrealistisch

Dieses Signal der Eskalation und Kompro­miss­lo­sigkeit wurde von außer­ge­wöhnlich blutigen Wochen an der Kontakt­linie begleitet, die auf die Wahl von Selenskyj folgten. Dazu kommt die Aufrecht­erhaltung der De-facto-Seeblo­ckade der ukrai­ni­schen Häfen am Asowschen Meer. Die im letzten Jahr in der Straße von Kertsch gefangen genom­menen ukrai­ni­schen Seeleute, die nach Anordnung des Inter­na­tio­nalen Seege­richtshofs in Hamburg freizu­lassen sind, sitzen ebenso weiter in russi­scher Haft wie dutzende weitere ukrai­nische politische Gefangene.

Es ist bemer­kenswert und zu begrüßen, dass es trotzdem möglich war, im Rahmen der trila­te­ralen Kontakt­gruppe in Minsk neben den Maßnahmen der Entflechtung und der Waffenruhe auch einen Gefan­ge­nen­aus­tausch zu verein­baren. Alle Maßnahmen, die zu einer Verrin­gerung der Todesrate an der Kontakt­linie und zu einer Verein­fa­chung des Austau­sches von Menschen über die Kontakt­linie hinweg führen, liegen im Interesse der Ukraine.

Dennoch sollte man sich keine Illusionen machen: Eine schnelle, weiter­ge­hende Lösung des Krieges im Donbass im Rahmen einer tatsäch­lichen Umsetzung des Minsker Abkommens oder eines neuen, etwa von VN-Friedens­truppen gestützten Friedens­plans ist unrealistisch.

Solange es im Kreml nicht zu einem grund­le­genden Umdenken in den Bezie­hungen zur Ukraine und zum Westen kommt, ist es so gut wie ausge­schlossen, dass Russland die Reinte­gration der besetzten Gebiete in die Ukraine im Rahmen einer nicht vom Kreml kontrol­lierten Neuordnung akzep­tiert. Konkret bedeutet dies: Moskau wird schlichtweg nicht bereit sein, seine militä­ri­schen und nachrich­ten­dienst­lichen Kräfte abzuziehen, was die Voraus­setzung für freie und demokra­tische Wahlen wäre. Wahlen im Rahmen der derzei­tigen Herrschafts­ver­hält­nisse vor Ort sind vor dem Hinter­grund der menschen­recht­lichen Lage weder vorstellbar noch akzep­tabel. Zudem wird Moskau weder offiziell noch faktisch bereit sein, der Ukraine wieder die Kontrolle über die ukrai­nisch- russische Grenze zu ermög­lichen. Dies würde nicht nur das politische Argument, man handle zum Schutz der örtlichen (bald russi­schen) Bevöl­kerung konter­ka­rieren, sondern darüber hinaus den notwen­digen militä­ri­schen und zivilen Nachschub für die Mario­net­ten­regime in Donezk und Lugansk abschneiden. Die beiden sogenannten Volks­re­pu­bliken würden unkon­trol­lierbar werden.

Realis­ti­scher ist: Selenskyj wird seine Wähler enttäuschen

Das gleiche Problem gilt auch für das Szenario eines aktuell disku­tierten VN-Friedens­plans, der die Einrichtung einer inter­na­tio­nalen Verwaltung zur Durch­führung von Wahlen vorsieht. Nicht nur, dass ein solcher Plan, nach dem Vorbild der Freistadt Danzig zwischen den Weltkriegen, eindeutig hinter der Maßgabe des Minsker Abkommens zur Durch­führung von Wahlen nach ukrai­ni­schem Recht zurück­bliebe. Es ist auch kaum vorstellbar, dass eine VN-Verwaltung vor dem Hinter­grund der inzwi­schen etablierten Gewalt­struk­turen und der organi­sierten Krimi­na­lität in den Gebieten zum effek­tiven Schutz Anders­den­kender in der Lage wäre.

Das realis­tischste Szenario ist ein anderes: Selen­skyjs Politik wird mögli­cher­weise zu einer Deeska­lation an der Kontakt­linie, aller­dings nicht zu einer Auflösung derselben und einem echten Frieden führen, selbst wenn man die Krim ausklammert. Selenskyj wird, gemessen an seinem zentralen Wahlver­sprechen eines schnellen Friedens, die Erwar­tungen vieler seiner Wähle­rinnen und Wähler, gerade im Süden und Osten der Ukraine, nicht erfüllen können. Für diese ist er nicht nur ein Hoffnungs­träger, sondern auch eine echte Alter­native zu den hart prorus­sisch agierenden Kräften. Der Kreml geht außerdem – auch vor dem Hinter­grund der eigenen Erfah­rungen mit dem Regime Wiktor Januko­witschs und der eigenen Einfluss­mög­lich­keiten auf die Oligarchen in der Ukraine – offen­sichtlich davon aus, dass Selenskyj nicht in der Lage sein wird, die Korruption im Land in dem Maß zu bekämpfen, wie er es angekündigt hat.

Ein solches Scheitern Selen­skyjs würde vor dem Hinter­grund der massiven Verschie­bungen in der Partei­en­land­schaft des Landes vermutlich zu einer Situation der Desori­en­tierung führen, in der Russland alle Trümpfe in der Hand hielte: Entweder akzep­tiert die Ukraine eine „russische Lösung“ („Russkyij Mir“) des Krieges mit einer Schaffung von autonomen Staats­ge­bilden unter russi­schem Einfluss, der die Westbindung des Landes blockieren würde. Oder der Kreml wird die faktische Anglie­derung der Gebiete, in denen mit der Ausgabe russi­scher Pässe begonnen wurde, noch inten­siver und schneller fortsetzen. Einher­gehen würden beide Ansätze mit der gezielten Stärkung prorus­si­scher politi­scher Kräfte in den ukrai­nisch kontrol­lierten Gebieten im Osten der Ukraine. Dies könnte perspek­ti­visch auch ein Wieder­auf­leben des Konzepts eines russi­schen Teilstaats („Neuru­ssland“) möglich machen, der dann den Osten der Ukraine umfassen würde.

Ursula von der Leyen sollte die Unter­stützung der EU für die Ukraine bekräftigen

Deswegen ist der Glaube an eine mögliche Norma­li­sierung der Bezie­hungen der EU und Deutsch­lands zu Russland nicht nur naiv, sondern gefährlich. Der Kreml nimmt sehr genau wahr, dass Teile der deutschen Politik die Deeska­lation in der Ukraine nicht der ukrai­ni­schen Seite zuschreiben, sondern sie als Anlass sehen, an Nord Stream 2 festzu­halten oder offen für eine Aufhebung der Sanktionen einzu­treten – die wegen des immer noch andau­ernden russi­schen Krieges in der Ukraine verhängt wurden.

Gleich­zeitig ist die EU zögerlich in ihrer Unter­stützung der Ukraine und gibt – aus der Sicht wichtiger Personen im Umfeld des Präsi­denten Selenskyj – einen unzuver­läs­sigen Partner ab. Sie verspielt so ihr strate­gi­sches Asset als Zielpunkt einer perspek­ti­vi­schen Westin­te­gration der Ukraine.

Für die Ukraine könnte das bedeuten, dass die EU als Akteur immer mehr an Bedeutung verliert und – ganz in der Logik des Kalten Krieges – nur noch Russland und die USA als Alter­na­tiven gesehen werden. Eine Entwicklung, die für die Sicher­heits­ar­chi­tektur in Europa und auch für die NATO hochge­fährlich wäre.

Gleich­zeitig werden die Signale aus Berlin, wie beispiels­weise die butter­weiche Rede von Außen­mi­nister Heiko Maas auf dem Peters­burger Dialog vor zwei Wochen, in Moskau sehr wohl gehört. Und zwar nicht als Anlass, das eigene Vorgehen zu ändern oder die eigene Strategie der Außen­po­litik, die den Konflikt mit dem Westen für die eigene Macht­le­gi­ti­mation braucht, zu überdenken. Im Gegenteil, diese Signale werden als eine schlei­chende Legimi­tation des eigenen Vorgehens auf der Krim gesehen, als ein Zeichen, dass Russland nur warten müsse: Mit der Zeit werde die EU schwach und werde um des lieben Friedens willen nachgeben.

Diese sanfte Gangart von Teilen der SPD und der CDU schadet damit nicht nur der Entwicklung der Ukraine. Sie droht, die EU und die NATO zu spalten und damit den ameri­ka­ni­schen Falken die Möglichkeit eines Heraus­kaufens zentral­eu­ro­päi­scher Staaten in die Hände zu legen. Vor allem aber schwächt sie die russische Opposition, deren wesent­liches Argument nicht zuletzt ist, dass sie die Isolierung Russlands von der europäi­schen Werte­ge­mein­schaft ablehnt. Sie strebt eine Partner­schaft zwischen Russland und dem Westen an, die vom Regime Putin offen­sichtlich und schon aus Gründen des eigenen Macht­er­halts, bekämpft wird.

Um zu verhindern, dass die EU an Bedeutung verliert, braucht es ein Europa, das gegenüber dem Kreml selbst­be­wusst seine Werte verteidigt. Es wäre deshalb ein wichtiges Signal, wenn Ursula von der Leyen, die neu gewählte Präsi­dentin der EU-Kommission, bald nach Kiew reisen und die Unter­stützung der europäi­schen Gemein­schaft für die Ukraine bekräf­tigen würde.

Textende

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