Interview: Das Ende der Volksparteien?

Foto: Presse-Service Steponaitis

Mit der SPD zeigt eine Volks­partei erstaun­liche Resilienz, während die jahr­zehn­te­lang erfolgs­ver­wöhnte Union in einer schweren Krise nach dem histo­risch schlech­testen Wahl­er­gebnis auf Bundes­ebene steckt. Waren die „Volks­par­teien“ als Phänomen nur ein Relikt der Bonner Republik? Oder entsteht mit den Grünen sogar eine neue Volks­partei? Ein Interview mit dem Orga­ni­sa­ti­ons­for­scher Marcel Schütz.

David Harnasch: Definiert man „Volks­partei“ als Reprä­sen­tanz eines möglichst breiten poli­ti­schen Spektrums, dann ist die CDU unter Merkel auf Kosten klaren Profils mehr denn je eine geworden, während die SPD mit einem deutlich klareren inhalt­li­chen Programm in den Wahlkampf startete. Dessen Vertreter wurden aber im Keller des Willy-Brandt-Hauses versteckt, während der Kandidat mit Merkel-Raute auf Wessel­män­nern plaka­tiert wurde und angeblich „Kanzlerin“ kann. Ist der große Erfolg der SPD ein letztes Aufbäumen am Ende der Ära der „Volks­par­teien“?

Marcel Schütz: Ich bin mir nicht sicher, ob das Ende der Volks­par­teien erreicht ist. Wir müssen sehen: Das wurde wieder­holt in Aussicht gestellt. Dagegen sprechen, immerhin ein wenig, beacht­liche Prozent­ge­winne binnen weniger Wochen. Wenn man die Poten­zi­al­rech­nungen der Demo­skopen ansieht, haben die „klas­si­schen“ Volks­par­teien noch Möglich­keiten weit über 30, viel­leicht sogar gegen/​um 40 Prozent – aber das sind natürlich „nur“ Poten­ziale. Die Ironie dieser Geschichte nach 16 Jahren der Kanz­ler­schaft Merkel ist aber viel­leicht, dass gerade das „zu Tode siegen“ der Union den Erfolg der SPD wieder begünstigte.

Zählen Inhalte?

DH: Naja, die Union hat der SPD ja in der GroKo inhalt­lich praktisch alles gegeben, was diese verlangte. Viel­leicht honoriert der Wähler auch genau das – wer zufrieden war mit der Regie­rungs­ar­beit, der kann auch gleich die Partei wählen, deren Inhalte dort umgesetzt wurden, und das war Großteils die SPD. Braucht eine Volks­partei viel­leicht doch mehr Profil als die CDU zuletzt zu bieten hatte?

MS: Das ist das große Problem der Union gewesen: Die SPD, ausge­rechnet die SPD, hat der Union fast die gesamte Kanz­ler­schaft ermög­licht. Hinter dem sicher nicht unbe­rech­tigten Vorwurf, dass Unions­in­halte immer mehr „weich­ge­spült“ oder, sagen wir mal vorsich­tiger, stark gegenüber der SPD ange­gli­chen wurden, steht das Motiv des sicheren Macht­er­halts. Die Kanzler-Union hat der SPD oft die Bühne genommen. So ist der Eindruck entstanden, die Kanz­ler­schaft Angela Merkels sei eigent­lich eine „gemäßigte Sozi­al­de­mo­kratie“. Jetzt, wo die zentrale Figur dieser sehr moderaten Zeit das Spielfeld verlässt, scheint die SPD nicht nur mit ihren Kern­themen wieder mehr auf, sie hat auch viele Merkel-Wähler zurückbekommen.

Kret­sch­mann als bürger­li­cher Türöffner

DH: Als gebür­tiger Frei­burger blicke ich natürlich auf Baden-Würt­tem­berg, wo die Grünen ziemlich zwei­fels­frei inzwi­schen eine Volks­partei geworden sind. Haben sie dafür auch bundes­weit ein besseres Potential als die FDP – die ja erstaun­li­cher­weise bei Erst­wäh­lern sogar noch ein wenig besser abge­schnitten hat?

MS: Die Grünen haben ein beträcht­li­ches, aber auch sehr stark schwan­kendes Potenzial, wie mir scheint. Es gibt derzeit regel­rechte Vorwürfe, warum man (ähnliche Diskus­sion führt man bei der Union) nicht den vermeint­lich „besseren“ Kandi­daten genommen hat, warum man – wie es heißt – „eine histo­ri­sche Chance verpasste“. Man bezieht sich hier auf die Spit­zen­werte in den Umfragen bei der Kandi­da­tenkür im Frühjahr. Das allein ist m.E. aber kein Maßstab – die Erfahrung haben ja auch andere gemacht. Insgesamt würde ich sagen, dass schon anhand der inten­siven gesell­schaft­li­chen, medialen und poli­ti­schen Diskus­sion über die Rolle der Grünen deren Präsenz und Gewicht deutlich zuge­nommen haben. Trotz der am Ende doch nied­ri­geren Ergeb­nisse, die ja faktische Gewinne sind – was sich aber wohl nicht ganz so anfühlt. Viel­leicht ist es inter­es­sant, dass die FDP recht wenig hinzu­ge­wonnen hat, aber – so mein Eindruck – fast noch mehr als „Gewinner“ der Wahl gesehen wird gegenüber den Grünen. Das hängt aber mit den Erwar­tungs­hal­tungen im Vorfeld zusammen.

DH: Ein Realo wie Winfried Kret­sch­mann macht auch einem jahr­zehn­te­langen CDU-Wähler keine Angst, wohin­gegen fast niemand, der sich diffus politisch links verortet, erwägt, die FDP zu wählen (Väter, denen das Sorge­recht vorent­halten wird, ausge­nommen, eine sehr, sehr spezi­fi­sche Ziel­gruppe). Liegt hier nicht eine Chance für die Grünen, dauerhaft aufzu­schließen zu CDU und SPD?

MS: Ja, Baden-Würt­tem­berg sehe ich als eine der wich­tigsten Stationen der Grünen in den vergan­genen Jahren. Hier hat man viel Satis­fi­ka­ti­ons­fä­hig­keit in der poli­ti­schen Land­schaft in Deutsch­land insgesamt gewonnen. Die Grünen machen auch der SPD ein wenig zu schaffen. Sie waren nie so natürlich mit der SPD verbunden, wie man viel­leicht später roman­ti­sierte, aber es gab vor allem über Landes­re­gie­rungen und dann über Rot-Grün im Bund gefühlt eine fast schon orga­ni­sche Beziehung. Der von Ihnen erwähnte Minis­ter­prä­si­dent Baden-Würt­tem­bergs ist nun einer derje­nigen, die auch deutlich die Unter­schiede in den Mittel­punkt rücken. Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Motive. Erstens: Die Grünen sehen ihre Chance, sich von der SPD quasi zu eman­zi­pieren, das heißt als eigene (noch linke) Führungs­kraft bestehen zu können. Robert Habeck hatte dies sogar als Ersatz für die SPD in Aussicht gestellt – zu früh und zu selbst­be­wusst, wie ich glaube. Zweitens: Binden sich die Grünen stärker mit ehema­ligen Gegnern, also Union und FDP, versucht man grüne Inhalte stärker ins bürger­liche Lager „hinein­zu­pflanzen“ – was ja als Bild hier gut passt. Damit könnte ein stärkerer Impact erreicht werden, gesell­schaft­lich, als in einer klassisch rein links geprägten oder domi­nierten Koalition. So zumindest die Erwar­tungen. Weshalb ja auch Jamaika nach wie vor sehr stark in aller Munde ist. In einer Ampel sind die Grünen wieder einem Kanzler „unter­stellt“, der eigent­lich ihrem eigenen Lager angehört, das sie doch am liebsten weiten bzw. daraus ausbre­chen würden.

Jamaika – ein schwaches Kanzleramt?

DH: A propos Jamaika: Da sein poli­ti­sches Überleben davon abhängt, Kanzler unter Grünen und FDP zu werden, dürfte Laschet willens sein, den Koali­ti­ons­part­nern inhalt­lich Haus und Hof zu über­lassen. „Siegt“ sich damit die CDU nicht endgültig „zu Tode“?

MS: Ich kann mir das Szenario kaum vorstellen. Die Union hat jetzt etwas erlebt, das praktisch nur die SPD kennt. Man blickt – gemessen an dem, woher man kommt – in den Abgrund. Die Union hat fast 9 Prozent verloren und die SPD – die man vor einigen Wochen teils wohl eher müde belä­chelte – hat die Wahl immerhin knapp gewonnen. Die Vorstel­lung, man könne jetzt die tief­grei­fenden Ideen der Grünen ebenso alle mitver­folgen wie zugleich die vielen Forde­rungen der Liberalen nach Dere­gu­lie­rung, erscheint mir doch etwas idea­li­siert. Natürlich gibt es die Möglich­keit zu vielen Formel­kom­pro­missen und auch zur Vertagung von Streit­punkten. Prüf­auf­träge etc. – die üblichen Künste der Regie­rungs­di­plo­matie, wie man etwas erstmal für später zurück­stellt. Aber das ist natürlich auch ein Risiko für die Grünen und die FDP. Die Frage ist, ob die Grünen ihre Punkte nicht immer noch eher mit der SPD reali­sieren können. Bei dem Ampel­sze­nario hat man dann aber die FDP als den kriti­schen Spieler. Das Problem sowohl von Jamaika als auch der Ampel ist ja, dass einer von beiden, von Grünen oder FDP, die größeren Zumu­tungen in Kauf nehmen muss, durch den jewei­ligen Lager­wechsel. Das mag für die Spitzen der Parteien keine so große Nummer sein, nur muss man es auch der Basis verkaufen können.

DH: Nicht zu regieren, dürfte zumindest der FDP-Basis schwerer zu verkaufen sein, als inhalt­liche Zumu­tungen, da haben die Grünen die Oberhand, vermute ich. Aber: SPD und CDU hätten eine komfor­table Mehrheit für eine SPD-geführte GroKo, man könnte den Wähler­willen also auch als deutliche Zustim­mung zum „Weiter so“ inter­pre­tieren. Mit Grünen und FDP hingegen werden bei allen Kompro­missen wichtige Poli­tik­be­reiche refor­miert werden. Wäre es nicht seriöser von SPD und CDU, direkt Verhand­lungen mitein­ander zu beginnen?

MS: Die GroKo ist deshalb ein inter­es­santes Szenario, da sie ausweis­lich der Umfragen immer noch auf einige Akzeptanz stößt. Die neue GroKo wäre natürlich wirklich neu, da die Union sich als Junior einordnen müsste. Die Stimmung dazu scheint bei SPD und Union ambi­va­lent. Für die Union wäre immerhin die halbe insti­tu­tio­nelle Macht zu erhalten gegenüber dem Risiko einer baldigen Oppo­si­tion, falls Jamaika nichts wird. Viele sagen, die SPD-Basis würde das nicht mittragen. Das darf man aber bezwei­feln. Wenn dadurch eine Kanz­ler­schaft erreicht werden kann, wird sich jede Partei­basis fragen, ob man eine Ablehnung in so einer Lage riskieren sollte. Die Verlierer wären dann natürlich genau jene, die jetzt als Kanz­ler­ma­cher beschworen wären: FDP und Grüne. Man darf erwarten, dass eine neue GroKo einigen Missmut verur­sa­chen würde. Aber, real­po­li­tisch gesehen, ist sie aus Sicht von Union und SPD natürlich eine patente Option. Viele Jour­na­listen und Wähler von Grünen und FDP werden das natürlich anders sehen.

DH: Was bedeutet eine Drei­er­ko­ali­tion für den Stel­len­wert der Kanzlerschaft?

MS: Die formale „Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz“ wird geschwächt erscheinen. Man wird dafür dann stärker auf informale Ressourcen der Mode­ra­tion setzen müssen. Da vier von sechs im Bundestag vertre­tenen Parteien unter­ein­ander jederzeit koali­ti­ons­fähig sind, bleibt jeder Kanzler in einer solchen Koalition erpressbar. Das sind wir nicht gewohnt in Deutsch­land. Es gibt größere Bruch­ri­siken, was wohl zu einigem Entge­gen­kommen diszipliniert.

DH: Eine Art Schweizer „Konkor­danz“ durch die Hintertüre?

MS: In die Richtung wird es gehen, das werden wir lernen müssen. Aber das ist ja per se keine schlechte Entwicklung.

DH: Ich danke für das Gespräch!


Marcel Schütz lehrt und forscht an den Univer­si­täten Oldenburg und Bielefeld mit dem Schwer­punkt Orga­ni­sa­ti­ons­wis­sen­schaft. Für seine Arbeit unter­sucht er Entwick­lungs- und Verän­de­rungs­pro­zesse in verschie­denen Unter­nehmen, Kirchen, Verbänden und Parteien. Gerade erschien von ihm „Die Realität der Reform. Über Wahr­neh­mung und Wirk­lich­keit der Verän­de­rung von Orga­ni­sa­tionen“, Wiesbaden, Springer VS. Regel­mä­ßige Beiträge u. a. für die Neue Zürcher Zeitung, Deutsch­land­funk und Frank­furter Rundschau. Daneben gesell­schaft­liche und poli­ti­sche Kommen­tie­rung des Zeit­ge­sche­hens auf Twitter. 

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