Frank­reich: Die Stolper­steine im kollek­tiven Gedächtnis

Foto: Shutter­stock, Everett Collection

In einem Wahlkampf, dem von allen Seiten her identi­täts­po­li­tische Themen aufge­zwungen werden, ist der Weg zur Präsi­dent­schaft mit einer Reihe heikler Gedenktags-Stolper­steine aus der Koloni­al­ge­schichte gepflastert.

Ein Freund­schafts­spiel, das keines war

Vor zwanzig Jahren, am 6. Oktober 2001 fand das erste und bis heute einzige Fußball-Länder­spiel zwischen Frank­reich und Algerien statt. Ausgangs­punkt war die anhal­tende Euphorie um die multi­eth­nische Weltmeis­ter­mann­schaft von 1998 um Zinedine Zidane, ihren in Marseille geborenen Superstar mit algeri­schen Wurzeln. Geplant war ein „Freund­schafts­spiel“ im besten Sinne des Wortes, angedacht in Algier, mangels Zustimmung der lokalen Behörden dann doch im „Stade de France“ von Saint-Denis, das an diesem Tag seinen Namen definitiv nicht verdiente.

Die gutge­meinten Absichten für eine Art Fest der Versöhnung endeten in einem Fiasko, dem zum zwanzigsten Jahrestag eine Reihe von rückbli­ckenden Analysen gewidmet wurden. Zu Recht, denn das Match, das nach 76 Minuten wegen eines spontanen Platz­sturms einer großen Zahl meist junger Zuschauer abgebrochen werden musste, enthüllte die Zerbrech­lichkeit des „black-blanc-beur“-Slogans, mit dem der Fußball den Zusam­menhalt der Nation beschworen hatte.

Die Stimmung im Stadion damals war von Beginn an seltsam aufge­heizt. Das Publikum, abgesehen von der zahlreich reprä­sen­tierten Regierung um Premier-Minister Lionel Jospin, zeigte schon beim Aufwärmen der beiden Teams ein hohes Maß an Aggres­si­vität gegenüber der franzö­si­schen Mannschaft, wobei Zidane besonders mit Schmäh­rufen bedacht wurde. Die Natio­nal­hymne ging in Pfiffen und Buhrufen unter – ein Eklat.

Während des Spiels schienen sich die Gefühle zunächst etwas abzukühlen. Natürlich war der amtie­rende Welt- und Europa­meister haushoch überlegen, aber als den Algeriern kurz vor der Pause ein Ehren­treffer zum 3:1 gelang, schien die Stimmung eher positiv umzuschlagen. Eine Viertel­stunde vor Spielende gelang es dann einer Zuschauerin, mit einer algeri­schen Flagge bis auf den Rasen vorzu­dringen. In kürzester Zeit folgten ihr einige Hundert weitere junge Leute, an eine Wieder­auf­nahme des Spiels war nicht zu denken. Die Beschwich­ti­gungs­ver­suche der kommu­nis­ti­schen Sport­mi­nis­terin Marie George-Buffet über den Lautsprecher erwiesen sich, nicht unerwartet, als eher kontraproduktiv.

In der Aufar­beitung des Geschehens während der folgenden Tage wurde deutlich, dass keiner der Platz­stürmer wirklich in der Lage war, das kollektive Anliegen in Worte zu fassen. Der Eindruck, der sich verfes­tigte, war der einer tiefsit­zenden Verwirrung der Gefühle, eines unbehol­fenen Ausdrucks des Nicht-Angekommen-Seins in einer Gesell­schaft, die für multiple kultu­relle Identi­täten nur wenig Verständnis zeigt. Ein stummer, aber umso lauter nachhal­lender Vorwurf an eine Nation, die ihre koloniale Vergan­genheit mit all ihren verdrängten Schand­flecken und Nachwir­kungen nie wirklich aufar­beiten wollte.

Der Fußball ist ein verläss­licher Produzent von Gedenk­tagen fürs kollektive Gedächtnis. Die großen Triumphe der Natio­nal­mann­schaft, aber auch die nie beendete, nie nachge­holte, nie neu aufge­legte Begegnung des 6. Oktober 2001 haben sich dort eingra­viert. Sicher, es war „nur“ ein Fußball­spiel. Aber eines, dessen zwanzigster Jahrestag sich in eine ganze Reihe von post-kolonialen Erinne­rungs­orten einordnet, die ein nicht zu unter­schät­zendes Spalt­po­tential gemein haben. Besonders in den langen Monaten eines Präsidentschaftswahlkampfes.

Eine Schandtat, die nie aufge­ar­beitet wurde

Frank­reich liebt Gedenktage. Keine Woche vergeht, ohne dass auf einen Jahrestag hinge­wiesen wird. Der Histo­riker Pierre Nora, der das ungemein erfolg­reiche Konzept der „Erinne­rungsorte“ (Lieux de mémoire) in den 1980er Jahren geprägt hat, beschei­nigte seinem Land gar eine „komme­mo­rative Bulimie“.

Der Herbst 2021 macht da keine Ausnahme. In einer verun­si­cherten, zunehmend fragmen­tierten Gesell­schaft, die nach identi­täts­stif­tenden Narra­tiven zu lechzen scheint, berufen sich Regierung und Medien permanent auf die Vergan­genheit. Zum 40. Jahrestag der Abschaffung der Todes­strafe wurden die humanis­ti­schen Werte von Mitter­rands Justiz­mi­nister Robert Badinter, einer allseits hochge­schätzten Persön­lichkeit, detail­liert aufge­ar­beitet. Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Georges Brassens wurde dieses Monument des franzö­si­schen Chansons in Hommagen in allen denkbaren Formaten geehrt. Und 40 Jahre „TGV“ waren der SNCF ein wunderbar emotio­nales und tatsächlich auch ästhe­tisch geglücktes Video wert.

Nicht alle Gedenktage sind so konsen­suell. Insbe­sondere, wenn es um das kompli­zierte, nie wirklich aufge­ar­beitete Erbe der franzö­si­schen Koloni­al­ge­schichte geht.

Ungleich schwie­riger als die kopfschüt­telnd abgehakte, letztlich harmlose Erinnerung an das missratene Länder­spiel – zu dem auch kein offizi­eller Kommentar erwartet wurde – war das Gedenken an einen der dunkelsten Schand­flecke der Fünften Republik: das Massaker des 16. Oktober 1961, als eine fried­liche Demons­tration algeri­scher Arbeiter gegen eine diskri­mi­nie­rende Ausgangs­sperre in unfass­barer Bruta­lität von der Polizei nieder­ge­schlagen wurde. Dieses Staats­ver­brechen wurde jahrzehn­telang vertuscht, seine gründ­liche Aufar­beitung behindert. Bis heute wurde die genaue Zahl der Opfer – wahrscheinlich um die 120 Menschen – nie endgültig ermittelt.

Eines solchen Schand­flecks der franzö­si­schen Geschichte angemessen zu gedenken, ist eine gefähr­liche Gratwan­derung für das Staats­ober­haupt. Umso mehr als der Jahrestag in einem rheto­risch aggressiv aufge­la­denen Umfeld stattfand. Auf der einen Seite ein Fahrt aufneh­mender Wahlkampf, in dem sich sogar die von anste­henden Vorwahlen getriebene gemäßigte Rechte auf die reaktionäre, identi­täts­be­sessene Rhetorik der national-populis­ti­schen Bewegungen von Le Pen und Zemmour einlässt. Auf der anderen Seite eine Eskalation diplo­ma­ti­scher Spannungen zwischen Frank­reich und Algerien, wo eine zunehmend delegi­ti­mierte Regierung das sensible Thema der Koloni­al­ge­schichte nur zu gerne aufgreift, um in der Entrüstung über den Buhmann Frank­reich von der eigenen Unzuläng­lichkeit abzulenken.

Emmanuel Macron, der vor kurzem in einer Diskussion mit jungen Menschen algeri­scher Herkunft mit deutlichen Worten noch ÖI ins Feuer gegossen hatte, wurde entspre­chend nach seinem durchaus gelun­genen, angenehm ruhig-respekt­vollen Gedenkakt am 16. Oktober an der betref­fenden Seine-Brücke, sowie seiner offizi­ellen schrift­lichen Stellung­nahme, von allen Seiten heftig kriti­siert. Man darf davon ausgehen, dass er es nicht anders erwartet hatte: für die Einen ist die Verur­teilung dieser „Verbrechen“ als „unver­zeihlich“ von einer echten Bitte um Entschul­digung weit entfernt, für die Anderen ist die explizite Anerkennung der histo­ri­schen Verant­wortung des Staats schon ein inakzep­tabler „Bußgang“ – in den letzten Jahren ist es der Rechten tatsächlich gelungen, das ehrbare Wort „repen­tance“ (Buße, Reue) im öffent­lichen Diskurs mit einer hämisch-verächt­lichen Konno­tation zu vergiften.

Eine Versöhnung, die schwer fällt

Im Grund erntet Macron die Früchte der Zöger­lichkeit seiner Vorgänger, die sich, von äußerst vorsich­tigen, punktu­ellen Stellung­nahmen abgesehen, zum Thema Algerien sehr bedeckt hielten. Durch das ewige Halb-Vertu­schen fühlten sich dieje­nigen bestätigt, die in falsch verstan­denem Patrio­tismus mit teils gespielter, teils ehrlich empfun­dener Entrüstung auf die kritische Aufar­beitung des Kolonia­lismus reagieren. Schon seine Bemer­kungen zum Thema als Kandidat 2017, als er (übrigens vor Ort in Algerien) den Kolonia­lismus als „Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit“ bezeichnete, hatten heftige Reaktionen hervor­ge­rufen. Eine „Gnade der späten Geburt“ wird ihm jeden­falls nicht zuteil.

Mag man sich auch daran stören, dass die Vergan­gen­heits­be­wäl­tigung in Frank­reich nicht nur recht spät in Gang kommt, sondern auch in Umfang und Inten­sität zu wünschen übrig lässt, kann man Emmanuel Macron nicht vorwerfen, dem Thema aus dem Weg zu gehen.

So hat er sich beispiels­weise, nur zwei Wochen vor dem Gedenktag des Massakers von 1961, auch der Gruppe der „Harkis“ in angemes­se­nerer Weise angenommen als jeder seiner Vorgänger im Präsidentenamt.

Bei den Harkis handelt es sich um Algerier, die gegen die Unabhän­gigkeit waren und zu großen Teilen die franzö­sische Armee in Hilfs­truppen unter­stützten. Die Art und Weise, wie die rund 60 000 Harkis, die es 1962 nach Frank­reich geschafft hatten, vom franzö­si­schen Staat in unwür­digsten Auffang­lagern behandelt wurden, wird auch ein Schand­fleck auf der Weste von Charles de Gaulle bleiben.

Natürlich kommt Macrons offizielle Bitte um Vergebung angesichts des ihnen wider­fah­renen Unrechts viel zu spät. Genauso wie der einge­richtete Solida­ri­täts­fonds, der sechzig Jahre später kaum für Wieder­gut­ma­chung sorgen kann. Aber auch die symbo­lische Geste zählt, und man darf ihm abnehmen, dass sie ehrlich gemeint war.

In den kommenden Monaten wird sich auch zeigen, was genau der Präsident aus den Empfeh­lungen des Berichts für eine versöh­nende Erinne­rungs­kultur mit Algerien machen wird, den er beim renom­mierten Histo­riker Benjamin Stora in Auftrag gegeben hat und der seit Januar auf seinem Tisch liegt. Das 160 Seiten starke Dokument mit dem Titel „Gedächt­nis­fragen zur Koloni­sierung und zum Algeri­en­krieg“ legt unter anderem die Einrichtung einer „Gedächtnis- und Wahrheits­kom­mission“ nahe, sowie die Aufar­beitung von Einzel­schick­salen mit Hilfe der Archive, und nicht zuletzt, in Anlehnung an die deutsch-franzö­sische Aussöhnung, die Schaffung eines bilate­ralen Jugend­werks (nützliche Zusam­men­fassung mit Querver­weisen hier).

Eine ideale Gelegenheit, eventuelle Maßnahmen feierlich anzukün­digen, wird sich Emmanuel Macron im kommenden März bieten, wenn ihm, grade mal drei Wochen vor dem ersten Wahlgang, ein weiterer heikler Gedenktag bevor­steht: der 60. Jahrestag der Verträge von Evian, mit denen Algerien in die Unabhän­gigkeit entlassen wurde. Es lässt sich jetzt schon ahnen, dass jedes Wort im ohnehin ständig überhitzten Pariser Medien-Kessel auf die Goldwaage gelegt und polari­sierend inter­pre­tiert werden wird.

Wie sehr sich Macron der symbo­li­schen Fallstricke bewusst ist, belegt seine Nicht­be­rück­sich­tigung des Vorschlags von Benjamin Stora, die kürzlich verstorbene Rechts­an­wältin, Menschen­rechts­ak­ti­vistin und Feministin Gisèle Halimi ins Panthéon zu überführen. Die Tatsache, dass sie in einem Aufsehen erregenden Prozess die algerische Unabhän­gig­keits-Kämpferin Djamila Boupacha verteidigt hatte, würde den Staatsakt in eine lautstarke Polemik ausarten lassen. Statt­dessen wird Macron im Frühjahr lediglich einer feier­lichen, offizi­ellen Ehrung der Verstor­benen im Hof des Hôtel des Invalides vorstehen. Den Platz im Panthéon wird dagegen am 30. November der schil­lernden Persön­lichkeit von Josephine Baker zuteil, einer geborenen Ameri­ka­nerin, die es in Frank­reich von der Revue-Tänzerin zur Wider­stands­heldin und humanis­ti­schen Kämpferin für die Menschen­rechte gebracht hatte. Sie wird die sechste Frau sein, der die Nation „dankbar“ gedenkt, wie es auf dem Fries über dem Eingang des Tempels steht. Und die erste dunkel­häutige, auch ein Symbol. Aber eben ein wohlfeiles, ungleich konsens­fä­higer als alles, was mit Algerien in Verbindung steht.

Ein Umdenken, dessen Zeit gekommen ist

Die zahlreichen komme­mo­ra­tiven Stolper­steine auf dem Weg zur Wiederwahl bergen Risiken für den Präsi­denten, aber gleich­zeitig auch Chancen, sich kurz vor der Wahl als Vertreter eines positiv in die Zukunft blickenden Frank­reichs noch einmal scharf von den ewig Gestrigen abzusetzen.

Das wäre keine schlechte Strategie: im real existie­renden, multi­kul­tu­rellen und urbanen Frank­reich dieses Jahrzehnts verfängt das herkömm­liche, auf natio­nal­pa­trio­tische Kohäsion abzie­lende Narrativ nur noch bei einer Minderheit. Die Epoche, in der die Regierung Chirac per Gesetz dafür sorgen wollte, dass „die Lehrpläne der Schulen die positive Rolle der franzö­si­schen Präsenz insbe­sondere in Nordafrika“ anerkennen, scheint endgültig vorbei. Auch die unver­hohlene Rehabi­li­tierung des Kolonia­lismus, mit der Nicolas Sarkozy vor und nach seiner Wahl 2007 eine ganze Reihe von Reden würzte, wäre heute kaum noch mehrheitsfähig.

Nicht zuletzt, weil die post-koloniale Perspektive mittler­weile auch in Frank­reich angekommen ist. Zwar sind die univer­sa­lis­ti­schen Ideale der franzö­si­schen Republik nicht mit dem militanten Kommu­ni­ta­rismus der „woke“-Bewegung oder einer „cancel culture“ ameri­ka­ni­schen Stils vereinbar, aber im Kielwasser von „#Black­Li­ve­s­Matter“ und angesichts wieder­holter, in eindeutig rassis­ti­schen Denkmustern veran­kerter Polizei­gewalt setzt sich auch in Frank­reich eine neue Sicht­weise durch, gekoppelt mit einer Forderung nach Überar­beitung des kollek­tiven Gedächt­nisses insbe­sondere im Bezug auf Kolonia­lismus und Sklaverei.

Ein Buch, das dem Land seine Lebens­lügen vorhält

Beim Abbruch des Länder­spiels gegen Algerien im Oktober 2001 stand er ratlos auf dem Platz und versuchte, die quer über den Rasen laufenden jungen Zuschauer zu räsonieren. Zwanzig Jahre später ist Lilian Thuram, Welt- und Europa­meister und nach wie vor Rekord­na­tio­nal­spieler der „Blauen“, selbst ein Akteur des Umdenkens. Vor einem Jahr hat Thuram ein beacht­liches Buch mit dem Titel „La pensée blanche“ („Das weiße Denken“) vorgelegt. Eine anspruchs­volle Abhandlung von gehobenem intel­lek­tu­ellem Niveau, mit präzisen Quellen­an­gaben in Fußnoten, einer gehalt­vollen Biblio­graphie und einem reich­hal­tigen Namens­index. Der Lebensweg Thurams seit dem Ende seiner aktiven Fußball-Karriere ist in gewisser Weise stell­ver­tretend für eine Bewusst­werdung, die Frank­reich in den kommenden Jahren vor existen­tielle Fragen stellen wird.

Sein gesell­schaft­liches Engagement in der „Lilian-Thuram-Stiftung für Erziehung gegen den Rassismus“ war schon seit längerem bekannt. Wie tief er sich aller­dings im autodi­dak­ti­schen Studium, im engen Kontakt mit führenden Histo­rikern und Sozial­wis­sen­schaftlern wie Pascal Blanchard oder Nicolas Bancel, in die post-koloniale Forschung einge­ar­beitet hatte, war nur wenigen bewusst.

Kurz auf den Punkt gebracht, ist La pensée blanche ein pädago­gi­sches Buch, das sich an die franzö­sische Mainstream-Gesell­schaft wendet, um ihr, sanft aber bestimmt, ihre Lebens­lügen vorzu­halten. Thuram zeigt seinen weißen Lesern auf, wie sehr ihre eigene Identität in einer ideolo­gi­schen Konstruktion verankert ist, welche die Welt in Weiße und Nicht-Weiße aufteilt.

Am stärksten ist das Buch, wenn es darlegt, wie ein ethnisch begrün­deter Legiti­ma­ti­ons­diskurs sozialer Domination und ökono­mi­scher Ausbeutung über einen langen Zeitraum hinweg geschaffen wurde, um Sklaverei und Kolonia­lismus sozusagen als natürlich gegeben erscheinen zu lassen. Beim Aufar­beiten der franzö­si­schen Geschichte vermeidet er dabei geschickt pauschale Schuld­zu­wei­sungen. Es geht ihm nicht darum, irgend­welche Denkmäler vom Sockel zu stoßen.

Aber das Argument, man dürfe aus heutiger Sicht nicht über „damals“ urteilen, lässt er nicht gelten. Für jeden entschei­denden Moment in dieser fatalen Diskurs­ge­schichte führt er humanis­tische, anti-rassis­tische Gegen­stimmen an, die vernehmbar waren, aber aus teils wirtschaft­lichen, teils ideolo­gi­schen Beweg­gründen ignoriert wurden.

Und gerade in dieser Bewusst­werdung hat die franzö­sische Gesell­schaft Nachhol­bedarf. Als Beispiel sei Jules Ferry (1832–1893) angeführt, eine Art Natio­nal­hei­liger, der in der Dritten Republik die allge­meine Schul­pflicht durch­boxte und umsetzte. Die Art und Weise, wie dieser vor dem Parlament den Kolonia­lismus durch die evidente Überle­genheit der weißen Rasse zu einer Pflicht machte, fand schon damals in den Worten von Georges Clemenceau (1841–1929) und anderer Abgeord­neter eine deutliche und kraft­volle Widerrede, die letzt­endlich jedoch vom Tisch gewischt wurde.

Das intro­spektive Sich-in-Frage-stellen, das Thuram von den weißen Franzosen fordert, ist überfällig. In Rassismus-Fragen ist Frank­reich eine schwer erziehbare Gesell­schaft, was sich zum Beispiel in einem massiven Kennt­nis­de­fizit über die Geschichte der Sklaverei ausdrückt. Was der Durch­schnitts­franzose weiß, ist die Tatsache, dass Victor Schoelcher 1848, also einige Jahre vor den Ameri­kanern mit seinen Schriften die Abschaffung durch­ge­setzt hat und dafür seinen Platz im Pariser Pantheon mehr als verdient hat. Wie sehr sich Frank­reich am Sklaven­handel berei­chert hat, wird in Städten wie Nantes oder Bordeaux, die massiv davon profi­tierten, erst seit wenigen Jahren aufrichtig, aber immer noch zaghaft aufgearbeitet.

Lilian Thuram ist sich der „Lernschwie­rig­keiten“ seiner poten­ti­ellen Leser­schaft bewusst und gibt sich entspre­chend größte Mühe, nicht als Ankläger aufzu­treten. Keiner verlange von den weißen Franzosen, wegen ihrer Geschichte in Sack und Asche zu gehen. Aber einfach mal zuzuhören, ohne gleich in den Abwehr­modus zu gehen, das müsse doch möglich sein. Dass er bei seiner aufklä­re­ri­schen Arbeit mehrmals die britische Autorin Reni Eddo-Lodge zitiert („Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“, auf Deutsch bei Klett-Cotta erschienen), ist kohärent.

Das Buch hat auch Schwach­stellen, insbe­sondere im dritten Teil, in dem der Text in seiner berech­tigten Wider­legung des Univer­sa­li­täts­an­spruches des „weißen Denkens“ zwischen den Zeilen in einen bedenk­lichen Menschen­rechts­re­la­ti­vismus abgleitet, in dem sich auch die Kommu­nis­tische Partei Chinas wieder­finden könnte.

Das ändert aber nichts daran, dass die Fragen zur franzö­si­schen Geschichte und Gegenwart, die Lilian Thuram aufwirft, in überzeu­gender Prosa auf eine Debatte vorgreifen, die Frank­reich in den kommenden Jahren erst noch bevorsteht.

Ein Prozess, der schmerzhaft sein wird

Ein seit langem konso­li­diertes Kollektiv-Gedächtnis und die daraus resul­tie­renden Identitäts-Narrative zu revidieren, ist ein schmerz­hafter Prozess. Aber unver­meidlich für eine multi­kul­tu­relle Gesell­schaft, die aus einer kompli­zierten Geschichte hervor­ge­gangen ist.

Angesichts der erstaun­lichen Integra­ti­ons­leistung, die Frank­reich – trotz aller Reibungen und Unzuläng­lich­keiten – im Laufe von 150 Jahren sukzes­siver, massiver Einwan­de­rungs­ströme aus den verschie­densten Kulturen erbracht hat, müsste man eigentlich selbst­be­wusst genug sein, einen kriti­schen Blick auf die eigene Vergan­genheit und ihre Auswir­kungen aufs Zusam­men­leben in der Gegenwart zu werfen.

Nationale Gedenktage, so sie denn intel­ligent genutzt werden, können in diesem Prozess eine wertvolle Hilfe­stellung leisten.

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