Frankreich: Die Stolpersteine im kollektiven Gedächtnis
In einem Wahlkampf, dem von allen Seiten her identitätspolitische Themen aufgezwungen werden, ist der Weg zur Präsidentschaft mit einer Reihe heikler Gedenktags-Stolpersteine aus der Kolonialgeschichte gepflastert.
Ein Freundschaftsspiel, das keines war
Vor zwanzig Jahren, am 6. Oktober 2001 fand das erste und bis heute einzige Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Algerien statt. Ausgangspunkt war die anhaltende Euphorie um die multiethnische Weltmeistermannschaft von 1998 um Zinedine Zidane, ihren in Marseille geborenen Superstar mit algerischen Wurzeln. Geplant war ein „Freundschaftsspiel“ im besten Sinne des Wortes, angedacht in Algier, mangels Zustimmung der lokalen Behörden dann doch im „Stade de France“ von Saint-Denis, das an diesem Tag seinen Namen definitiv nicht verdiente.
Die gutgemeinten Absichten für eine Art Fest der Versöhnung endeten in einem Fiasko, dem zum zwanzigsten Jahrestag eine Reihe von rückblickenden Analysen gewidmet wurden. Zu Recht, denn das Match, das nach 76 Minuten wegen eines spontanen Platzsturms einer großen Zahl meist junger Zuschauer abgebrochen werden musste, enthüllte die Zerbrechlichkeit des „black-blanc-beur“-Slogans, mit dem der Fußball den Zusammenhalt der Nation beschworen hatte.
Die Stimmung im Stadion damals war von Beginn an seltsam aufgeheizt. Das Publikum, abgesehen von der zahlreich repräsentierten Regierung um Premier-Minister Lionel Jospin, zeigte schon beim Aufwärmen der beiden Teams ein hohes Maß an Aggressivität gegenüber der französischen Mannschaft, wobei Zidane besonders mit Schmährufen bedacht wurde. Die Nationalhymne ging in Pfiffen und Buhrufen unter – ein Eklat.
Während des Spiels schienen sich die Gefühle zunächst etwas abzukühlen. Natürlich war der amtierende Welt- und Europameister haushoch überlegen, aber als den Algeriern kurz vor der Pause ein Ehrentreffer zum 3:1 gelang, schien die Stimmung eher positiv umzuschlagen. Eine Viertelstunde vor Spielende gelang es dann einer Zuschauerin, mit einer algerischen Flagge bis auf den Rasen vorzudringen. In kürzester Zeit folgten ihr einige Hundert weitere junge Leute, an eine Wiederaufnahme des Spiels war nicht zu denken. Die Beschwichtigungsversuche der kommunistischen Sportministerin Marie George-Buffet über den Lautsprecher erwiesen sich, nicht unerwartet, als eher kontraproduktiv.
In der Aufarbeitung des Geschehens während der folgenden Tage wurde deutlich, dass keiner der Platzstürmer wirklich in der Lage war, das kollektive Anliegen in Worte zu fassen. Der Eindruck, der sich verfestigte, war der einer tiefsitzenden Verwirrung der Gefühle, eines unbeholfenen Ausdrucks des Nicht-Angekommen-Seins in einer Gesellschaft, die für multiple kulturelle Identitäten nur wenig Verständnis zeigt. Ein stummer, aber umso lauter nachhallender Vorwurf an eine Nation, die ihre koloniale Vergangenheit mit all ihren verdrängten Schandflecken und Nachwirkungen nie wirklich aufarbeiten wollte.
Der Fußball ist ein verlässlicher Produzent von Gedenktagen fürs kollektive Gedächtnis. Die großen Triumphe der Nationalmannschaft, aber auch die nie beendete, nie nachgeholte, nie neu aufgelegte Begegnung des 6. Oktober 2001 haben sich dort eingraviert. Sicher, es war „nur“ ein Fußballspiel. Aber eines, dessen zwanzigster Jahrestag sich in eine ganze Reihe von post-kolonialen Erinnerungsorten einordnet, die ein nicht zu unterschätzendes Spaltpotential gemein haben. Besonders in den langen Monaten eines Präsidentschaftswahlkampfes.
Eine Schandtat, die nie aufgearbeitet wurde
Frankreich liebt Gedenktage. Keine Woche vergeht, ohne dass auf einen Jahrestag hingewiesen wird. Der Historiker Pierre Nora, der das ungemein erfolgreiche Konzept der „Erinnerungsorte“ (Lieux de mémoire) in den 1980er Jahren geprägt hat, bescheinigte seinem Land gar eine „kommemorative Bulimie“.
Der Herbst 2021 macht da keine Ausnahme. In einer verunsicherten, zunehmend fragmentierten Gesellschaft, die nach identitätsstiftenden Narrativen zu lechzen scheint, berufen sich Regierung und Medien permanent auf die Vergangenheit. Zum 40. Jahrestag der Abschaffung der Todesstrafe wurden die humanistischen Werte von Mitterrands Justizminister Robert Badinter, einer allseits hochgeschätzten Persönlichkeit, detailliert aufgearbeitet. Anlässlich des hundertsten Geburtstags von Georges Brassens wurde dieses Monument des französischen Chansons in Hommagen in allen denkbaren Formaten geehrt. Und 40 Jahre „TGV“ waren der SNCF ein wunderbar emotionales und tatsächlich auch ästhetisch geglücktes Video wert.
Nicht alle Gedenktage sind so konsensuell. Insbesondere, wenn es um das komplizierte, nie wirklich aufgearbeitete Erbe der französischen Kolonialgeschichte geht.
Ungleich schwieriger als die kopfschüttelnd abgehakte, letztlich harmlose Erinnerung an das missratene Länderspiel – zu dem auch kein offizieller Kommentar erwartet wurde – war das Gedenken an einen der dunkelsten Schandflecke der Fünften Republik: das Massaker des 16. Oktober 1961, als eine friedliche Demonstration algerischer Arbeiter gegen eine diskriminierende Ausgangssperre in unfassbarer Brutalität von der Polizei niedergeschlagen wurde. Dieses Staatsverbrechen wurde jahrzehntelang vertuscht, seine gründliche Aufarbeitung behindert. Bis heute wurde die genaue Zahl der Opfer – wahrscheinlich um die 120 Menschen – nie endgültig ermittelt.
Eines solchen Schandflecks der französischen Geschichte angemessen zu gedenken, ist eine gefährliche Gratwanderung für das Staatsoberhaupt. Umso mehr als der Jahrestag in einem rhetorisch aggressiv aufgeladenen Umfeld stattfand. Auf der einen Seite ein Fahrt aufnehmender Wahlkampf, in dem sich sogar die von anstehenden Vorwahlen getriebene gemäßigte Rechte auf die reaktionäre, identitätsbesessene Rhetorik der national-populistischen Bewegungen von Le Pen und Zemmour einlässt. Auf der anderen Seite eine Eskalation diplomatischer Spannungen zwischen Frankreich und Algerien, wo eine zunehmend delegitimierte Regierung das sensible Thema der Kolonialgeschichte nur zu gerne aufgreift, um in der Entrüstung über den Buhmann Frankreich von der eigenen Unzulänglichkeit abzulenken.
Emmanuel Macron, der vor kurzem in einer Diskussion mit jungen Menschen algerischer Herkunft mit deutlichen Worten noch ÖI ins Feuer gegossen hatte, wurde entsprechend nach seinem durchaus gelungenen, angenehm ruhig-respektvollen Gedenkakt am 16. Oktober an der betreffenden Seine-Brücke, sowie seiner offiziellen schriftlichen Stellungnahme, von allen Seiten heftig kritisiert. Man darf davon ausgehen, dass er es nicht anders erwartet hatte: für die Einen ist die Verurteilung dieser „Verbrechen“ als „unverzeihlich“ von einer echten Bitte um Entschuldigung weit entfernt, für die Anderen ist die explizite Anerkennung der historischen Verantwortung des Staats schon ein inakzeptabler „Bußgang“ – in den letzten Jahren ist es der Rechten tatsächlich gelungen, das ehrbare Wort „repentance“ (Buße, Reue) im öffentlichen Diskurs mit einer hämisch-verächtlichen Konnotation zu vergiften.
Eine Versöhnung, die schwer fällt
Im Grund erntet Macron die Früchte der Zögerlichkeit seiner Vorgänger, die sich, von äußerst vorsichtigen, punktuellen Stellungnahmen abgesehen, zum Thema Algerien sehr bedeckt hielten. Durch das ewige Halb-Vertuschen fühlten sich diejenigen bestätigt, die in falsch verstandenem Patriotismus mit teils gespielter, teils ehrlich empfundener Entrüstung auf die kritische Aufarbeitung des Kolonialismus reagieren. Schon seine Bemerkungen zum Thema als Kandidat 2017, als er (übrigens vor Ort in Algerien) den Kolonialismus als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete, hatten heftige Reaktionen hervorgerufen. Eine „Gnade der späten Geburt“ wird ihm jedenfalls nicht zuteil.
Mag man sich auch daran stören, dass die Vergangenheitsbewältigung in Frankreich nicht nur recht spät in Gang kommt, sondern auch in Umfang und Intensität zu wünschen übrig lässt, kann man Emmanuel Macron nicht vorwerfen, dem Thema aus dem Weg zu gehen.
So hat er sich beispielsweise, nur zwei Wochen vor dem Gedenktag des Massakers von 1961, auch der Gruppe der „Harkis“ in angemessenerer Weise angenommen als jeder seiner Vorgänger im Präsidentenamt.
Bei den Harkis handelt es sich um Algerier, die gegen die Unabhängigkeit waren und zu großen Teilen die französische Armee in Hilfstruppen unterstützten. Die Art und Weise, wie die rund 60 000 Harkis, die es 1962 nach Frankreich geschafft hatten, vom französischen Staat in unwürdigsten Auffanglagern behandelt wurden, wird auch ein Schandfleck auf der Weste von Charles de Gaulle bleiben.
Natürlich kommt Macrons offizielle Bitte um Vergebung angesichts des ihnen widerfahrenen Unrechts viel zu spät. Genauso wie der eingerichtete Solidaritätsfonds, der sechzig Jahre später kaum für Wiedergutmachung sorgen kann. Aber auch die symbolische Geste zählt, und man darf ihm abnehmen, dass sie ehrlich gemeint war.
In den kommenden Monaten wird sich auch zeigen, was genau der Präsident aus den Empfehlungen des Berichts für eine versöhnende Erinnerungskultur mit Algerien machen wird, den er beim renommierten Historiker Benjamin Stora in Auftrag gegeben hat und der seit Januar auf seinem Tisch liegt. Das 160 Seiten starke Dokument mit dem Titel „Gedächtnisfragen zur Kolonisierung und zum Algerienkrieg“ legt unter anderem die Einrichtung einer „Gedächtnis- und Wahrheitskommission“ nahe, sowie die Aufarbeitung von Einzelschicksalen mit Hilfe der Archive, und nicht zuletzt, in Anlehnung an die deutsch-französische Aussöhnung, die Schaffung eines bilateralen Jugendwerks (nützliche Zusammenfassung mit Querverweisen hier).
Eine ideale Gelegenheit, eventuelle Maßnahmen feierlich anzukündigen, wird sich Emmanuel Macron im kommenden März bieten, wenn ihm, grade mal drei Wochen vor dem ersten Wahlgang, ein weiterer heikler Gedenktag bevorsteht: der 60. Jahrestag der Verträge von Evian, mit denen Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Es lässt sich jetzt schon ahnen, dass jedes Wort im ohnehin ständig überhitzten Pariser Medien-Kessel auf die Goldwaage gelegt und polarisierend interpretiert werden wird.
Wie sehr sich Macron der symbolischen Fallstricke bewusst ist, belegt seine Nichtberücksichtigung des Vorschlags von Benjamin Stora, die kürzlich verstorbene Rechtsanwältin, Menschenrechtsaktivistin und Feministin Gisèle Halimi ins Panthéon zu überführen. Die Tatsache, dass sie in einem Aufsehen erregenden Prozess die algerische Unabhängigkeits-Kämpferin Djamila Boupacha verteidigt hatte, würde den Staatsakt in eine lautstarke Polemik ausarten lassen. Stattdessen wird Macron im Frühjahr lediglich einer feierlichen, offiziellen Ehrung der Verstorbenen im Hof des Hôtel des Invalides vorstehen. Den Platz im Panthéon wird dagegen am 30. November der schillernden Persönlichkeit von Josephine Baker zuteil, einer geborenen Amerikanerin, die es in Frankreich von der Revue-Tänzerin zur Widerstandsheldin und humanistischen Kämpferin für die Menschenrechte gebracht hatte. Sie wird die sechste Frau sein, der die Nation „dankbar“ gedenkt, wie es auf dem Fries über dem Eingang des Tempels steht. Und die erste dunkelhäutige, auch ein Symbol. Aber eben ein wohlfeiles, ungleich konsensfähiger als alles, was mit Algerien in Verbindung steht.
Ein Umdenken, dessen Zeit gekommen ist
Die zahlreichen kommemorativen Stolpersteine auf dem Weg zur Wiederwahl bergen Risiken für den Präsidenten, aber gleichzeitig auch Chancen, sich kurz vor der Wahl als Vertreter eines positiv in die Zukunft blickenden Frankreichs noch einmal scharf von den ewig Gestrigen abzusetzen.
Das wäre keine schlechte Strategie: im real existierenden, multikulturellen und urbanen Frankreich dieses Jahrzehnts verfängt das herkömmliche, auf nationalpatriotische Kohäsion abzielende Narrativ nur noch bei einer Minderheit. Die Epoche, in der die Regierung Chirac per Gesetz dafür sorgen wollte, dass „die Lehrpläne der Schulen die positive Rolle der französischen Präsenz insbesondere in Nordafrika“ anerkennen, scheint endgültig vorbei. Auch die unverhohlene Rehabilitierung des Kolonialismus, mit der Nicolas Sarkozy vor und nach seiner Wahl 2007 eine ganze Reihe von Reden würzte, wäre heute kaum noch mehrheitsfähig.
Nicht zuletzt, weil die post-koloniale Perspektive mittlerweile auch in Frankreich angekommen ist. Zwar sind die universalistischen Ideale der französischen Republik nicht mit dem militanten Kommunitarismus der „woke“-Bewegung oder einer „cancel culture“ amerikanischen Stils vereinbar, aber im Kielwasser von „#BlackLivesMatter“ und angesichts wiederholter, in eindeutig rassistischen Denkmustern verankerter Polizeigewalt setzt sich auch in Frankreich eine neue Sichtweise durch, gekoppelt mit einer Forderung nach Überarbeitung des kollektiven Gedächtnisses insbesondere im Bezug auf Kolonialismus und Sklaverei.
Ein Buch, das dem Land seine Lebenslügen vorhält
Beim Abbruch des Länderspiels gegen Algerien im Oktober 2001 stand er ratlos auf dem Platz und versuchte, die quer über den Rasen laufenden jungen Zuschauer zu räsonieren. Zwanzig Jahre später ist Lilian Thuram, Welt- und Europameister und nach wie vor Rekordnationalspieler der „Blauen“, selbst ein Akteur des Umdenkens. Vor einem Jahr hat Thuram ein beachtliches Buch mit dem Titel „La pensée blanche“ („Das weiße Denken“) vorgelegt. Eine anspruchsvolle Abhandlung von gehobenem intellektuellem Niveau, mit präzisen Quellenangaben in Fußnoten, einer gehaltvollen Bibliographie und einem reichhaltigen Namensindex. Der Lebensweg Thurams seit dem Ende seiner aktiven Fußball-Karriere ist in gewisser Weise stellvertretend für eine Bewusstwerdung, die Frankreich in den kommenden Jahren vor existentielle Fragen stellen wird.
Sein gesellschaftliches Engagement in der „Lilian-Thuram-Stiftung für Erziehung gegen den Rassismus“ war schon seit längerem bekannt. Wie tief er sich allerdings im autodidaktischen Studium, im engen Kontakt mit führenden Historikern und Sozialwissenschaftlern wie Pascal Blanchard oder Nicolas Bancel, in die post-koloniale Forschung eingearbeitet hatte, war nur wenigen bewusst.
Kurz auf den Punkt gebracht, ist La pensée blanche ein pädagogisches Buch, das sich an die französische Mainstream-Gesellschaft wendet, um ihr, sanft aber bestimmt, ihre Lebenslügen vorzuhalten. Thuram zeigt seinen weißen Lesern auf, wie sehr ihre eigene Identität in einer ideologischen Konstruktion verankert ist, welche die Welt in Weiße und Nicht-Weiße aufteilt.
Am stärksten ist das Buch, wenn es darlegt, wie ein ethnisch begründeter Legitimationsdiskurs sozialer Domination und ökonomischer Ausbeutung über einen langen Zeitraum hinweg geschaffen wurde, um Sklaverei und Kolonialismus sozusagen als natürlich gegeben erscheinen zu lassen. Beim Aufarbeiten der französischen Geschichte vermeidet er dabei geschickt pauschale Schuldzuweisungen. Es geht ihm nicht darum, irgendwelche Denkmäler vom Sockel zu stoßen.
Aber das Argument, man dürfe aus heutiger Sicht nicht über „damals“ urteilen, lässt er nicht gelten. Für jeden entscheidenden Moment in dieser fatalen Diskursgeschichte führt er humanistische, anti-rassistische Gegenstimmen an, die vernehmbar waren, aber aus teils wirtschaftlichen, teils ideologischen Beweggründen ignoriert wurden.
Und gerade in dieser Bewusstwerdung hat die französische Gesellschaft Nachholbedarf. Als Beispiel sei Jules Ferry (1832–1893) angeführt, eine Art Nationalheiliger, der in der Dritten Republik die allgemeine Schulpflicht durchboxte und umsetzte. Die Art und Weise, wie dieser vor dem Parlament den Kolonialismus durch die evidente Überlegenheit der weißen Rasse zu einer Pflicht machte, fand schon damals in den Worten von Georges Clemenceau (1841–1929) und anderer Abgeordneter eine deutliche und kraftvolle Widerrede, die letztendlich jedoch vom Tisch gewischt wurde.
Das introspektive Sich-in-Frage-stellen, das Thuram von den weißen Franzosen fordert, ist überfällig. In Rassismus-Fragen ist Frankreich eine schwer erziehbare Gesellschaft, was sich zum Beispiel in einem massiven Kenntnisdefizit über die Geschichte der Sklaverei ausdrückt. Was der Durchschnittsfranzose weiß, ist die Tatsache, dass Victor Schoelcher 1848, also einige Jahre vor den Amerikanern mit seinen Schriften die Abschaffung durchgesetzt hat und dafür seinen Platz im Pariser Pantheon mehr als verdient hat. Wie sehr sich Frankreich am Sklavenhandel bereichert hat, wird in Städten wie Nantes oder Bordeaux, die massiv davon profitierten, erst seit wenigen Jahren aufrichtig, aber immer noch zaghaft aufgearbeitet.
Lilian Thuram ist sich der „Lernschwierigkeiten“ seiner potentiellen Leserschaft bewusst und gibt sich entsprechend größte Mühe, nicht als Ankläger aufzutreten. Keiner verlange von den weißen Franzosen, wegen ihrer Geschichte in Sack und Asche zu gehen. Aber einfach mal zuzuhören, ohne gleich in den Abwehrmodus zu gehen, das müsse doch möglich sein. Dass er bei seiner aufklärerischen Arbeit mehrmals die britische Autorin Reni Eddo-Lodge zitiert („Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche“, auf Deutsch bei Klett-Cotta erschienen), ist kohärent.
Das Buch hat auch Schwachstellen, insbesondere im dritten Teil, in dem der Text in seiner berechtigten Widerlegung des Universalitätsanspruches des „weißen Denkens“ zwischen den Zeilen in einen bedenklichen Menschenrechtsrelativismus abgleitet, in dem sich auch die Kommunistische Partei Chinas wiederfinden könnte.
Das ändert aber nichts daran, dass die Fragen zur französischen Geschichte und Gegenwart, die Lilian Thuram aufwirft, in überzeugender Prosa auf eine Debatte vorgreifen, die Frankreich in den kommenden Jahren erst noch bevorsteht.
Ein Prozess, der schmerzhaft sein wird
Ein seit langem konsolidiertes Kollektiv-Gedächtnis und die daraus resultierenden Identitäts-Narrative zu revidieren, ist ein schmerzhafter Prozess. Aber unvermeidlich für eine multikulturelle Gesellschaft, die aus einer komplizierten Geschichte hervorgegangen ist.
Angesichts der erstaunlichen Integrationsleistung, die Frankreich – trotz aller Reibungen und Unzulänglichkeiten – im Laufe von 150 Jahren sukzessiver, massiver Einwanderungsströme aus den verschiedensten Kulturen erbracht hat, müsste man eigentlich selbstbewusst genug sein, einen kritischen Blick auf die eigene Vergangenheit und ihre Auswirkungen aufs Zusammenleben in der Gegenwart zu werfen.
Nationale Gedenktage, so sie denn intelligent genutzt werden, können in diesem Prozess eine wertvolle Hilfestellung leisten.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.