Gastbeitrag in Zeitonline: „Skizze für einen neuen Liberalismus“

Foto: Xosà Bouzas /​ Imago Images

Liberale sollten das Bedürfnis nach Sicherheit nicht den Rechten überlassen, die soziale Gerech­tigkeit nicht den Linken, und die Ökologie nicht allein den Grünen.

Der politische Libera­lismus hat in letzter Zeit vor allem durch seine Ablehnung staat­licher Eingriffe von sich reden gemacht: die FDP als Vorkämpfer gegen Tempo­limits und Corona-Restrik­tionen, als Vetomacht gegen eine Sonder­steuer auf Extra­ge­winne der Energiekonzerne.

Damit wir uns nicht missver­stehen: Es ist gut, dass es im deutschen Partei­en­konzert eine Stimme gibt, die auf die Selbst­ver­ant­wortung mündiger Bürger setzt, nicht jeder Einschränkung indivi­du­eller Freiheiten im Namen kollek­tiver Vernunft Beifall zollt und Staats­ein­griffe in den Preis­me­cha­nismus des Marktes skeptisch sieht. Aber das ist allen­falls ein halbierter Libera­lismus. Man möchte der FDP zurufen: Das kann doch nicht alles gewesen sein! Es ist höchste Zeit, den Libera­lismus zu erneuern. Er muss dazu eigene Antworten auf neue Fragen finden und sich dafür gewis­ser­maßen von seinem eigenen Erfolg erholen.

Was meinen wir damit? Die Abwehr staat­licher Übergriffe ist zentral für die Entstehung der liberalen Denktra­dition: Der absolu­tis­tische Staat wurde eingehegt, ihm wurden die bürger­lichen Freiheiten abgetrotzt. Es folgte eine Erfolgs­ge­schichte sonder­gleichen. Keine andere politische Denkschule war so wirkmächtig und langlebig. Ideen­ge­schichtlich bildet der Libera­lismus die Grundlage der modernen Demokratie. Meinungs­freiheit, Gewal­ten­teilung und Rechts­staat, die Trennung von Staat und Religion und eine aktive Bürger­ge­sell­schaft sind liberale Ideen. In ihrem Zentrum steht das Postulat der gleichen Freiheit aller und die normative Idee der Menschen­rechte. Beide waren und sind subversive Postulate gegenüber Verhält­nissen, in denen sie nicht eingelöst sind. Zur Zeit der ameri­ka­ni­schen Unabhän­gig­keits­er­klärung und der franzö­si­schen Erklärung der Bürger- und Menschen­rechte galt das Recht auf demokra­tische Teilhabe nur für begüterte weiße Männer. Seither haben immer neue Gruppen von Ausge­schlos­senen den Anspruch auf Gleich­be­rech­tigung erfolg­reich geltend gemacht. Auch die Vorstellung einer durch das Recht befrie­deten inter­na­tio­nalen Ordnung geht auf liberale Denker zurück. Demokratie und Libera­lismus sind längst eine tiefe Symbiose einge­gangen. Dieser Erfolg des Libera­lismus ist jetzt auch sein Problem: Seine zentralen Werte sind so sehr demokra­ti­sches Gemeingut geworden, dass sie nicht mehr mit ihm identi­fi­ziert werden.

Der Zusam­men­bruch des sowje­ti­schen Imperiums und die Welle demokra­ti­scher Revolu­tionen der Neunzi­ger­jahre waren der Gipfel der liberalen Erfolgs­ge­schichte. Für einen kurzen Moment schien es, als bewege sich die gesamte Welt in Richtung Markt­wirt­schaft und liberaler Demokratie. Das erwies sich schon bald als Illusion. Der Erfolg der liberalen Revolution rief die antili­berale Konter­re­vo­lution auf den Plan. Innerhalb des Westens in Gestalt populis­ti­scher Parteien von rechts und von links, in der globalen Arena als Aufstieg autori­tärer Gegen­mächte zur liberalen Demokratie. Politik­wis­sen­schaftler sprechen von einer „demokra­ti­schen Rezession“, die Mitte der Zweitau­sender einsetzte. Bei allen Unter­schieden teilen Putin und Xi Ji Ping, die irani­schen Mullahs, der türkische Präsident Erdoğan, Ungarns Orbán und Brasi­liens Bolsonaro die Abneigung gegen liberale Ideen.

Dass der Libera­lismus in die Defensive geraten ist, liegt auch an ihm selbst. Es scheint, als habe er zu den zentralen Heraus­for­de­rungen unserer Epoche – Klima­wandel, digitale Revolution, globale Migration – wenig zu sagen. Von seinen Gegnern wird er gern mit Markt­ra­di­ka­lismus, sozialer Kälte und ökolo­gi­scher Ignoranz assoziiert. Kritiker hegen den Verdacht, der Libera­lismus sei zur bloßen Vertei­digung der Privi­legien der Privi­le­gierten verkümmert. Außen­po­li­tisch gelten die Inter­ven­tionen in Afgha­nistan und Irak als Ausdruck liberaler Hybris. Die Finanz­krise von 2009 wird einer neoli­be­ralen Deregu­lierung der Finanz­märkte zugerechnet. Jetzt schlägt das Pendel zurück: Klima­wandel, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg verstärken den Ruf nach dem starken Staat.

Indivi­duelle Freiheit ist nur als gemeinsame Freiheit realisierbar

Ohne selbst­kri­tische Erneuerung wird der Libera­lismus deshalb nicht aus der Defensive kommen. Er muss erkennen, dass zur ursprüng­lichen „Freiheit von“ inzwi­schen die „Freiheit zu“ gehört, die ermög­li­chende Freiheit. Indivi­duelle Freiheit hängt an staat­lichen Insti­tu­tionen und gesell­schaft­lichen Voraus­set­zungen, sie ist also nur als gemeinsame Freiheit reali­sierbar. Das gilt erst recht in modernen, hochkom­plexen Gesell­schaften. Sie ermög­lichen eine immer stärkere soziale und kultu­relle Ausdif­fe­ren­zierung und indivi­duelle Autonomie, zugleich aber wächst ihre Staats­be­dürf­tigkeit. Ein zeitge­mäßer Libera­lismus kann sich nicht mit der Abwehr staat­lichen Übergriffe zufrie­den­geben. Er muss den Staat und die Wechsel­be­zie­hungen zwischen kollek­tiven Regelungen und indivi­du­eller Freiheit neu denken. Er darf das Bedürfnis nach Sicherheit und Gemein­samkeit, nicht der politi­schen Rechten, die soziale Gerech­tigkeit nicht der Linken und die Ökologie nicht allein den Grünen überlassen. Libera­lismus neu denken bedeutet, freiheit­liche Antworten auf die großen Heraus­for­de­rungen unserer Zeit zu finden.

Drei Beispiele, in welche Richtung es gehen könnte:

Soziale Gerech­tigkeit

Liberale fremdeln häufig mit diesem Ziel, die eigene Leistung gilt ihnen als zentral. Dabei könnten sie mit ihren Vorstel­lungen von Chancen­ge­rech­tigkeit und sozialen Bürger­rechten hier gut anknüpfen. Wir haben dazu das Konzept eines Bildungs­grund­ein­kommens entwi­ckelt, das alle Erwerbs­tä­tigen für ihre Weiter­bildung in Anspruch nehmen können. Es erweitert die Optionen des Einzelnen und trägt zugleich der Notwen­digkeit einer perma­nenten Erneuerung beruf­licher Quali­fi­ka­tionen im Zuge des digitalen Wandels Rechnung.

Eine andere liberale Antwort auf die Gerech­tig­keits­de­batte ist die erwei­terte Teilhabe am gesell­schaft­lichen Produk­tiv­ka­pital, insbe­sondere an Unter­nehmen und Immobi­li­en­ei­gentum. „Eigentum für alle“ ist eine erzli­berale Vision. Es erhöht die indivi­duelle Autonomie, schafft eine zusätz­liche Einkom­mens­quelle und lässt mehr Menschen wirtschaftlich mitbestimmen.

Die Bedürf­nisse nach Sicherheit und biogra­fi­scher Konti­nuität gelten als Bastionen des Konser­va­tiven, Abstiegs­furcht und Verlust­ängste als Ressource populis­ti­scher Protest­par­teien. Das muss nicht sein. Liberale sollten freiheit­liche Antworten auf konser­vative Bedürf­nisse finden. Dazu gehört ein soziales Sicher­heitsnetz, das vor dem Absturz in dauer­hafte Armut schützt, den ökono­mi­schen Struk­tur­wandel abfedert und die Selbst­wirk­samkeit der Einzelnen stärkt. Bildung und Weiter­bildung sind die Voraus­setzung für Sicherheit im Wandel, Gründern und Selbst­stän­digen beim Start und bei der Finan­zierung zu helfen, ebenso. Das Konzept „Fördern und Fordern“ ist nicht überholt, nur weil es durch die Art und Weise, wie die „Agenda 2010“ unter Kanzler Schröder durch­ge­zogen wurde, in Misskredit geriet.

Klima­wandel

An der Bewäl­tigung des Klima­wandels könnte sich die Zukunft der liberalen Demokratien entscheiden. Die Heraus­for­derung ist enorm: Die Indus­trie­ge­sell­schaften müssen in einer histo­risch kurzen Frist klima­neutral werden. Die Versu­chung, dies politisch vor allem durch Gebote und Verbote erreichen zu wollen, liegt nahe, die Begründung dafür auf der Hand: Die heutige Freiheit muss drastisch einge­schränkt werden, um die Freiheit künftiger Genera­tionen zu sichern. Der Drift in den ökolo­gi­schen Obrig­keits­staat wäre aber nicht nur demokra­tie­po­li­tisch fatal. Er ist auch untauglich, um den Klima­wandel einzu­hegen. Dafür braucht es liberale Stärken: ökolo­gische Innova­tionen und Inves­ti­tionen in großem Stil, die Inter­na­li­sierung ökolo­gi­scher Folge­kosten in die Markt­wirt­schaft und einen sozialen Ausgleich für niedrigere Einkommensgruppen.

Die liberale Ordnung verteidigen

Die Ukraine ist heute der zentrale Schau­platz jener globalen Ausein­an­der­setzung zwischen Demokratie und Autori­ta­rismus, die schon zuvor begonnen hat. Putins Versuch, das Nachbarland wieder in die russische Macht­sphäre zu zwingen, ist ein frontaler Angriff auf das Völker­recht. Er zielt darauf, die normative inter­na­tionale Ordnung durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Die chine­sische Führung wird sehr genau regis­trieren, ob der Westen die Entschlos­senheit und Ausdauer aufbringt, diesen Angriff abzuwehren.

Das demokra­tische Selbst­be­stim­mungs­recht der Nationen und die Achtung des Völker­rechts müssen im Zweifel auch mit Waffen verteidigt werden. Wehrhafte Demokratie nach innen und Wehrhaf­tigkeit nach außen sind zwei Seiten einer Medaille. Das anzuer­kennen, fällt vielen Menschen schwer. Und doch sichert nur ein robuster Libera­lismus unsere freiheit­liche Lebensform und eine halbwegs fried­liche Weltordnung. Zugleich müssen liberale Demokratien ihre Strahl­kraft im Wettbewerb mit ihren autori­tären Gegen­spielern erneuern.

Der Libera­lismus ist als Philo­sophie und Politik der Freiheit aktueller denn je. Er wird aber nur wirkmächtig bleiben, wenn er überzeu­gende Antworten auf die Heraus­for­de­rungen unserer Zeit findet.

Textende

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