Gastbeitrag in Zeitonline: „Skizze für einen neuen Liberalismus“

Liberale sollten das Bedürfnis nach Sicherheit nicht den Rechten überlassen, die soziale Gerechtigkeit nicht den Linken, und die Ökologie nicht allein den Grünen.
Der politische Liberalismus hat in letzter Zeit vor allem durch seine Ablehnung staatlicher Eingriffe von sich reden gemacht: die FDP als Vorkämpfer gegen Tempolimits und Corona-Restriktionen, als Vetomacht gegen eine Sondersteuer auf Extragewinne der Energiekonzerne.
Damit wir uns nicht missverstehen: Es ist gut, dass es im deutschen Parteienkonzert eine Stimme gibt, die auf die Selbstverantwortung mündiger Bürger setzt, nicht jeder Einschränkung individueller Freiheiten im Namen kollektiver Vernunft Beifall zollt und Staatseingriffe in den Preismechanismus des Marktes skeptisch sieht. Aber das ist allenfalls ein halbierter Liberalismus. Man möchte der FDP zurufen: Das kann doch nicht alles gewesen sein! Es ist höchste Zeit, den Liberalismus zu erneuern. Er muss dazu eigene Antworten auf neue Fragen finden und sich dafür gewissermaßen von seinem eigenen Erfolg erholen.
Was meinen wir damit? Die Abwehr staatlicher Übergriffe ist zentral für die Entstehung der liberalen Denktradition: Der absolutistische Staat wurde eingehegt, ihm wurden die bürgerlichen Freiheiten abgetrotzt. Es folgte eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Keine andere politische Denkschule war so wirkmächtig und langlebig. Ideengeschichtlich bildet der Liberalismus die Grundlage der modernen Demokratie. Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaat, die Trennung von Staat und Religion und eine aktive Bürgergesellschaft sind liberale Ideen. In ihrem Zentrum steht das Postulat der gleichen Freiheit aller und die normative Idee der Menschenrechte. Beide waren und sind subversive Postulate gegenüber Verhältnissen, in denen sie nicht eingelöst sind. Zur Zeit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Bürger- und Menschenrechte galt das Recht auf demokratische Teilhabe nur für begüterte weiße Männer. Seither haben immer neue Gruppen von Ausgeschlossenen den Anspruch auf Gleichberechtigung erfolgreich geltend gemacht. Auch die Vorstellung einer durch das Recht befriedeten internationalen Ordnung geht auf liberale Denker zurück. Demokratie und Liberalismus sind längst eine tiefe Symbiose eingegangen. Dieser Erfolg des Liberalismus ist jetzt auch sein Problem: Seine zentralen Werte sind so sehr demokratisches Gemeingut geworden, dass sie nicht mehr mit ihm identifiziert werden.
Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und die Welle demokratischer Revolutionen der Neunzigerjahre waren der Gipfel der liberalen Erfolgsgeschichte. Für einen kurzen Moment schien es, als bewege sich die gesamte Welt in Richtung Marktwirtschaft und liberaler Demokratie. Das erwies sich schon bald als Illusion. Der Erfolg der liberalen Revolution rief die antiliberale Konterrevolution auf den Plan. Innerhalb des Westens in Gestalt populistischer Parteien von rechts und von links, in der globalen Arena als Aufstieg autoritärer Gegenmächte zur liberalen Demokratie. Politikwissenschaftler sprechen von einer „demokratischen Rezession“, die Mitte der Zweitausender einsetzte. Bei allen Unterschieden teilen Putin und Xi Ji Ping, die iranischen Mullahs, der türkische Präsident Erdoğan, Ungarns Orbán und Brasiliens Bolsonaro die Abneigung gegen liberale Ideen.
Dass der Liberalismus in die Defensive geraten ist, liegt auch an ihm selbst. Es scheint, als habe er zu den zentralen Herausforderungen unserer Epoche – Klimawandel, digitale Revolution, globale Migration – wenig zu sagen. Von seinen Gegnern wird er gern mit Marktradikalismus, sozialer Kälte und ökologischer Ignoranz assoziiert. Kritiker hegen den Verdacht, der Liberalismus sei zur bloßen Verteidigung der Privilegien der Privilegierten verkümmert. Außenpolitisch gelten die Interventionen in Afghanistan und Irak als Ausdruck liberaler Hybris. Die Finanzkrise von 2009 wird einer neoliberalen Deregulierung der Finanzmärkte zugerechnet. Jetzt schlägt das Pendel zurück: Klimawandel, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg verstärken den Ruf nach dem starken Staat.
Individuelle Freiheit ist nur als gemeinsame Freiheit realisierbar
Ohne selbstkritische Erneuerung wird der Liberalismus deshalb nicht aus der Defensive kommen. Er muss erkennen, dass zur ursprünglichen „Freiheit von“ inzwischen die „Freiheit zu“ gehört, die ermöglichende Freiheit. Individuelle Freiheit hängt an staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, sie ist also nur als gemeinsame Freiheit realisierbar. Das gilt erst recht in modernen, hochkomplexen Gesellschaften. Sie ermöglichen eine immer stärkere soziale und kulturelle Ausdifferenzierung und individuelle Autonomie, zugleich aber wächst ihre Staatsbedürftigkeit. Ein zeitgemäßer Liberalismus kann sich nicht mit der Abwehr staatlichen Übergriffe zufriedengeben. Er muss den Staat und die Wechselbeziehungen zwischen kollektiven Regelungen und individueller Freiheit neu denken. Er darf das Bedürfnis nach Sicherheit und Gemeinsamkeit, nicht der politischen Rechten, die soziale Gerechtigkeit nicht der Linken und die Ökologie nicht allein den Grünen überlassen. Liberalismus neu denken bedeutet, freiheitliche Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.
Drei Beispiele, in welche Richtung es gehen könnte:
Soziale Gerechtigkeit
Liberale fremdeln häufig mit diesem Ziel, die eigene Leistung gilt ihnen als zentral. Dabei könnten sie mit ihren Vorstellungen von Chancengerechtigkeit und sozialen Bürgerrechten hier gut anknüpfen. Wir haben dazu das Konzept eines Bildungsgrundeinkommens entwickelt, das alle Erwerbstätigen für ihre Weiterbildung in Anspruch nehmen können. Es erweitert die Optionen des Einzelnen und trägt zugleich der Notwendigkeit einer permanenten Erneuerung beruflicher Qualifikationen im Zuge des digitalen Wandels Rechnung.
Eine andere liberale Antwort auf die Gerechtigkeitsdebatte ist die erweiterte Teilhabe am gesellschaftlichen Produktivkapital, insbesondere an Unternehmen und Immobilieneigentum. „Eigentum für alle“ ist eine erzliberale Vision. Es erhöht die individuelle Autonomie, schafft eine zusätzliche Einkommensquelle und lässt mehr Menschen wirtschaftlich mitbestimmen.
Die Bedürfnisse nach Sicherheit und biografischer Kontinuität gelten als Bastionen des Konservativen, Abstiegsfurcht und Verlustängste als Ressource populistischer Protestparteien. Das muss nicht sein. Liberale sollten freiheitliche Antworten auf konservative Bedürfnisse finden. Dazu gehört ein soziales Sicherheitsnetz, das vor dem Absturz in dauerhafte Armut schützt, den ökonomischen Strukturwandel abfedert und die Selbstwirksamkeit der Einzelnen stärkt. Bildung und Weiterbildung sind die Voraussetzung für Sicherheit im Wandel, Gründern und Selbstständigen beim Start und bei der Finanzierung zu helfen, ebenso. Das Konzept „Fördern und Fordern“ ist nicht überholt, nur weil es durch die Art und Weise, wie die „Agenda 2010“ unter Kanzler Schröder durchgezogen wurde, in Misskredit geriet.
Klimawandel
An der Bewältigung des Klimawandels könnte sich die Zukunft der liberalen Demokratien entscheiden. Die Herausforderung ist enorm: Die Industriegesellschaften müssen in einer historisch kurzen Frist klimaneutral werden. Die Versuchung, dies politisch vor allem durch Gebote und Verbote erreichen zu wollen, liegt nahe, die Begründung dafür auf der Hand: Die heutige Freiheit muss drastisch eingeschränkt werden, um die Freiheit künftiger Generationen zu sichern. Der Drift in den ökologischen Obrigkeitsstaat wäre aber nicht nur demokratiepolitisch fatal. Er ist auch untauglich, um den Klimawandel einzuhegen. Dafür braucht es liberale Stärken: ökologische Innovationen und Investitionen in großem Stil, die Internalisierung ökologischer Folgekosten in die Marktwirtschaft und einen sozialen Ausgleich für niedrigere Einkommensgruppen.
Die liberale Ordnung verteidigen
Die Ukraine ist heute der zentrale Schauplatz jener globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus, die schon zuvor begonnen hat. Putins Versuch, das Nachbarland wieder in die russische Machtsphäre zu zwingen, ist ein frontaler Angriff auf das Völkerrecht. Er zielt darauf, die normative internationale Ordnung durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Die chinesische Führung wird sehr genau registrieren, ob der Westen die Entschlossenheit und Ausdauer aufbringt, diesen Angriff abzuwehren.
Das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Achtung des Völkerrechts müssen im Zweifel auch mit Waffen verteidigt werden. Wehrhafte Demokratie nach innen und Wehrhaftigkeit nach außen sind zwei Seiten einer Medaille. Das anzuerkennen, fällt vielen Menschen schwer. Und doch sichert nur ein robuster Liberalismus unsere freiheitliche Lebensform und eine halbwegs friedliche Weltordnung. Zugleich müssen liberale Demokratien ihre Strahlkraft im Wettbewerb mit ihren autoritären Gegenspielern erneuern.
Der Liberalismus ist als Philosophie und Politik der Freiheit aktueller denn je. Er wird aber nur wirkmächtig bleiben, wenn er überzeugende Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit findet.
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