Ralf Fücks im WELT-Interview: „Wenn man das nicht ernst nimmt, landen wir in ein paar Jahren im nächsten Krieg“

Foto: Ralf Fücks

Ralf Fücks ist in den umkämpften Osten der Ukraine, nach Charkiw gereist. Er erlebt, wie die russi­schen Kriegs­ver­bre­chen Patrio­tismus und Opfer­be­reit­schaft der Bevöl­ke­rung anfeuern.

Das Interview führte Claus Christian Malzahn.

Herr Fücks, Sie sind jetzt zum zweiten Mal seit Kriegs­aus­bruch zusammen mit Marie­luise Beck in die Ukraine gereist und waren auch im Osten des Landes in der Nähe der Front. Wie lange kann die ukrai­ni­sche Armee der russi­schen Aggres­sion noch standhalten?

Die Antwort auf die Frage ist abhängig von der Politik des Westens. Die Ukraine verfügt über große Kampf­moral und stra­te­gi­sche Intel­li­genz. Woran es mangelt, sind Bewaff­nung und Munition. Je länger der Krieg dauert, desto größer wird die Gefahr, dass die Ukraine in die Defensive gerät. Die Zahl der ukrai­ni­schen Gefal­lenen ist hoch, die Rede ist von 100 bis zu 200 toten Soldaten am Tag, dazu kommt die dreifache Zahl von Verwun­deten. Zwar sind die russi­schen Verluste deutlich höher, aber Putin wirft immer neue Soldaten und Material in die Schlacht. Menschen­leben zählen für ihn nicht.

Warum sind die ukrai­ni­schen Verluste im Moment so hoch?

Das liegt vor allem daran, dass die ukrai­ni­sche Armee nicht über die nötigen Distanz­waffen verfügt, um den massiven Einsatz russi­scher Artil­lerie und die russi­schen Luft­an­griffe zu kontern.

In Deutsch­land sind 200 Gefallene am Tag nur eine Zahl in einer Meldung. Aber was bedeutet das konkret für die Menschen in der Ukraine? Wir reden über Söhne, Ehemänner, Freunde, die ihr Leben gegeben haben.

Jeder gefallene Soldat, jeder Verwun­dete ist eine Tragödie. Jeder Einzel­fall ist mit Leid und Schmerzen verbunden. Und dennoch ist uns auf unserer Reise ein beein­dru­ckender Kampf­geist begegnet. Die Entschlos­sen­heit, die Unab­hän­gig­keit und Freiheit der Ukraine zu vertei­digen, ist seit Beginn des Krieges noch gestiegen.

Also kein Fata­lismus oder Kriegs­mü­dig­keit in der Bevölkerung?

Weit entfernt. Es gibt eine gewisse Verzweif­lung darüber, dass sie von West­eu­ropa nicht genügend Unter­stüt­zung finden. Das gilt auch für Deutsch­land. Gleich­zeitig haben wir in Charkiw ein enormes Maß an zivil­ge­sell­schaft­li­chem Enga­ge­ment erlebt. Allein dort sind 150.000 Menschen ausge­bombt worden. Ganze Quartiere sind aufgrund der Artil­lerie- und Rake­ten­an­griffe unbe­wohnbar. Es gibt zahl­reiche Frei­wil­lige, die huma­ni­täre Hilfe leisten und die Armee unterstützen.

Wir waren in einer Suppen­küche, die täglich 2500 Essens­ra­tionen an die Front schickt. Es werden Medi­ka­mente gesammelt, Hygie­ne­ar­tikel, Schutz­westen. Das ist eine Gesell­schaft in Selbst­ver­tei­di­gung, nicht nur der Krieg einer Armee.

Nach der Einnahme der ukrai­ni­schen Stadt Swja­to­hirsk durch prorus­si­sche Kräfte ist der Bürger­meister der Stadt, Wladimir Bandura, angeblich zu den Sepa­ra­tisten über­ge­laufen. Was haben Sie darüber gehört?

Dieser Krieg ist vom Kreml von langer Hand vorbe­reitet worden. Der russische Geheim­dienst hat syste­ma­tisch Netzwerke mit Kolla­bo­ra­teuren aufgebaut. Auch die Einnahme von Cherson wird darauf zurück­ge­führt. Doch das sind Einzel­fälle. 2014 habe ich in der Ostukraine prorus­si­sche Demons­tra­tionen erlebt. Heute ist die Stimmung komplett anders. Die Ukrainer wissen, dass es heute nicht nur um Terri­to­rien geht, sondern um ihre nationale Existenz und ihre Freiheit.

Der Krieg führt also nicht zu gesell­schaft­li­cher Spaltung, sondern zum Zusammenschluss?

Der russische Überfall hat über alle Diffe­renzen hinweg zu einem nie gekannten Maß an ukrai­ni­schem Patrio­tismus geführt. Der Krieg wird ja derzeit vor allem in den russisch­spra­chigen Regionen ausge­tragen. Doch die russisch­spra­chigen Ukrainer wehren sich erbittert gegen die angeb­li­chen „Befreier“.

Nato-Gene­ral­se­kretär Jens Stol­ten­berg hat bei einem Besuch in Finnland erklärt, der Krieg in der Ukraine könne lediglich am Verhand­lungs­tisch beendet werden. Ein Frie­dens­ab­kommen fordere immer auch Kompro­misse, fügte er an – auch in Bezug auf terri­to­riale Fragen. Werden da Gebiets­ab­tre­tungen politisch vorbereitet?

Es gibt Befürch­tungen, dass Teile des Westens auf einen terri­to­rialen Kompro­miss mit Russland hinar­beiten. Das läuft völlig konträr zur Haltung der ukrai­ni­schen Regierung und Gesell­schaft. Russland hat mit massiven Kriegs­ver­bre­chen, mit der Bombar­die­rung von Wohn­quar­tieren, der gezielten Zerstö­rung der Infra­struktur, den Verge­wal­ti­gungen und der Verschlep­pung von Zivi­listen ein hohes Maß an Erbit­te­rung erzeugt. Kein ukrai­ni­scher Präsident würde es politisch überleben, jetzt Gebiets­ab­tre­tungen an Russland zu unter­schreiben. Das ist eine toxische Idee, nicht nur für die Ukraine, sondern für ganz Europa.

Wie meinen Sie das?

Wenn die Ukraine gezwungen würde, durch Verwei­ge­rung von Waffen­hilfe einen Kapi­tu­la­ti­ons­frieden zu unter­schreiben, würde das die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung über den Haufen werfen. Der Bruch des Völker­rechts und die scham­losen Kriegs­ver­bre­chen hätten sich dann gelohnt. Der Verlust von poli­ti­scher Glaub­wür­dig­keit wäre drama­tisch. Und es würde auch die EU und die Nato zerreißen.

Weil Polen und die balti­schen Staaten das niemals akzep­tieren würden?

So ist es. Es macht mich fassungslos, dass jetzt solche Appease­ment-Signale kommen. Sie stärken nur die Sieges­zu­ver­sicht der Russen, die darauf speku­lieren, dass der Westen schlapp macht. Putin würde sich nicht damit zufrie­den­geben, ein Viertel der Ukraine zu kassieren. Ein Waffen­still­stand, der Russland seine Erobe­rungen überlässt, wäre nur ein Zwischen­spiel bis zum nächsten Angriff. Das erklärte Ziel Putins ist, in der Ukraine den Westen anzugreifen.

Im russi­schen Staats­fern­sehen wird jeden Tag gepredigt, man befinde sich im Krieg mit der Nato. Es geht darum, die ganze Entwick­lung seit 1990 wieder umzu­kehren. Wenn man das nicht ernst nimmt, landen wir in ein paar Jahren, wenn Russland sich mili­tä­risch erholt hat, im nächsten Krieg. Und der würde vermut­lich auf Nato-Terri­to­rium ausgetragen.

Nun ist der Westen in Gestalt des deutschen Bundes­kanz­lers Olaf Scholz (SPD), des italie­ni­schen Regie­rungs­chefs Mario Draghi und des fran­zö­si­schen Präsi­denten Emmanuel Macron in Kyjiw. Wie sehen die ukrai­ni­schen Erwar­tungen und Befürchtungen?

Die Befürch­tung ist, dass die drei mit einem soge­nannten Frie­dens­plan kommen, mit dem die russi­schen Erobe­rungen faktisch zemen­tiert werden. Dagegen erwartet Kiew ein klares Bekenntnis, die Ukraine mit aller Kraft zu unter­stützen, diesen Krieg zu gewinnen. Die Zeit der Halb­heiten ist vorbei.

In der Diskus­sion ist auch eine Beitritts­per­spek­tive der Ukraine in die EU. Das wäre ein Verspre­chen auf die Zukunft. Die Gegenwart ist mörde­risch. Wäre es trotzdem ein wichtiges Signal?

Unbedingt. Der EU-Kandi­da­ten­status wäre das Signal „ihr gehört zu uns“. Gleich­zeitig wäre es eine Ansage Richtung Moskau, die Ukraine nicht in die russische Einfluss­sphäre zurück­zu­stoßen. Nötig ist auch massive finan­zi­elle und tech­ni­sche Hilfe, um mit dem Wieder­aufbau der zerstörten Infra­struktur zu beginnen.

Es geht um die Instand­set­zung von Kraft­werken und Strom­netzen, von Verkehrs­wegen, Betrieben und Wohnungen, damit sich die Ukraine ökono­misch erholen kann. Damit darf man nicht bis zum Ende des Krieges warten, von dem wir nicht wissen, wann es kommt.

Hier geht es zum Original auf Welt.de.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steu­er­lich absetzbar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

News­letter bestellen

Mit dem LibMod-News­letter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.