Wie Ungarn den Beitritt der Ukraine in die Europäische Union blockiert

Trotz Krieg befindet sich die Ukraine in beispiel­losem Tempo auf ihrem Weg in die Europäische Union. Damit ihr der Beitritt gelingen kann, braucht es entschiedene Unter­stützung vonseiten der EU – und eine Lösung, wie anhal­tende Blockaden seitens Victor Orbans Ungarn umgangen werden können, analy­siert Sergiy Solodkyy, erster stell­ver­tre­tender Direktor, New Europe Center (Ukraine), in seinem Policy Brief.

Die Ukraine auf ihrem Weg in die EU

Die Europäische Union tritt in eine neue und wichtige Phase ihrer Erwei­te­rungs­krise ein: Nachdem auf frühere erste EU-Beitritts­runden eine Unent­schlos­senheit hinsichtlich neuer EU-Erwei­te­rungs­be­stre­bungen gefolgt war, hatte die Ukraine der EU neues Leben einge­haucht und sie dazu motiviert, die Beitritts­be­stre­bungen wieder­auf­zu­nehmen. Doch nun hindert insbe­sondere ein EU-Mitglied­staat die gesamte Union daran, diese Chance zu nutzen und die Ukraine auf ihrem Weg in die EU zu unter­stützen. Damit werden die überge­ord­neten strate­gi­schen Ziele der EU gefährdet.

Seit der Einrei­chung ihres Beitritts­an­trags im Februar 2022 war die Ukraine mit beispiel­loser Entschlos­senheit auf dem Weg in die EU-Beitritt. Trotz des umfas­senden Krieges, in dem sich das Land seit Februar 2022 befindet, führt die Ukraine Reformen durch, erfüllt Verpflich­tungen und ist bereit, Beitritts­ver­hand­lungen zu führen.

Eines der wichtigsten Integra­ti­ons­ziele der Ukraine für 2025 ist die Aufnahme paral­leler Verhand­lungen in allen Clustern. Derzeit drängt sie ihre europäi­schen Partner dazu, die notwen­digen Verfah­rens­schritte umzusetzen, um mit Cluster I (Funda­mentals, Rule of Law, Korrup­ti­ons­be­kämpfung), zu beginnen. Die Europäische Kommission hat anerkannt, dass die Ukraine bisher erheb­liche Fortschritte gemacht hat und ihre Erwar­tungen an die EU legitim sind.

Ungarn verhindert Beitrittsverhandlungen

Parado­xer­weise ist das größte Hindernis für die Ukraine nicht mehr die mangelnde Bereit­schaft der EU, sie in die Union aufzu­nehmen, sondern die politische Trägheit des europäi­schen Bündnisses. Diese wird einseitig durch Ungarn blockiert, das damit wichtige Schritte im Verhand­lungs­prozess verhindert. Die Ukraine muss also nicht nur mit der russi­schen Aggression und internen Reform­gegnern kämpfen, sondern auch mit der Ungerech­tigkeit des EU-Verfahrens, das es einem einzelnen Mitglied­staat ermög­licht, den gesamten Prozess zu blockieren.

Die ukrai­nische Zivil­ge­sell­schaft hat in enger Zusam­men­arbeit mit natio­nalen Insti­tu­tionen und EU-Partnern bisher eine entschei­dende Rolle bei der Gewähr­leistung der Trans­parenz und Rechen­schafts­pflicht der Reformen gespielt. Die nicht zu recht­fer­ti­genden Verzö­ge­rungen bei den Verhand­lungen drohen nun jedoch, das Vertrauen der ukrai­ni­schen Gesell­schaft in die EU zu unter­graben. Sie schüren pro-russische Narrative und unter­mi­nieren die Glaub­wür­digkeit der Erwei­te­rungs­agenda insgesamt.

Es braucht nun eine Neube­wertung der EU-Verfahren – insbe­sondere müssen die Möglich­keiten einzelner Mitglied­staaten, ihr Vetorecht in techni­schen Phasen des Beitritts­pro­zesses zu missbrauchen, minimiert werden. Ein leistungs­ori­en­tierter Ansatz als Eckpfeiler der Erwei­te­rungs­po­litik muss bestehen bleiben. Darüber hinaus könnte es für die EU an der Zeit sein, nun ernsthaft über die Anwendung von Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union nachzudenken.

Kann die EU mit dem Tempo der Ukraine mithalten?

Ende Februar 2022 stellte die Ukraine ihren Antrag auf EU-Mitglied­schaft. Ein wahrhaft histo­ri­scher Schritt, den nur wenige ernst nahmen. Von einem Land, das massiven Angriffen eines aggres­siven Russlands ausge­setzt war, erwartete man keine realis­ti­schen Aussichten auf einen Beitritt zur Europäi­schen Union. Die folgenden Ereig­nisse haben jedoch gezeigt, dass die Ukraine durchaus in der Lage ist, den Lauf der Geschichte zu verändern und alte Annahmen zu wider­legen. Sie hat nicht nur den militä­ri­schen Angriffen Russlands stand­ge­halten, sie hat außerdem die hartnä­ckige „Erwei­te­rungs­mü­digkeit“, die sich in der EU breit­ge­macht hatte, erfolg­reich überwunden.

Im Juni 2022 wurde der Ukraine der Status eines EU-Beitritts­kan­di­daten zuerkannt, und im Dezember 2023 einigten sich die Staats- und Regie­rungs­chefs der EU darauf, Beitritts­ver­hand­lungen mit der Ukraine aufzu­nehmen. Vor einem Jahr hat die EU offiziell die Beitritts­ge­spräche mit der Ukraine aufge­nommen, und die Ukrainer haben sich rasch daran gemacht, die Verpflich­tungen zu erfüllen und die Verfahren für die nächste Phase des Beitritts­pro­zesses abzuschließen – in der Hoffnung, der Mitglied­schaft damit näher zu kommen.

Die Ukraine zeigt weiterhin ein hohes Maß an Engagement für ihr europäi­sches Ziel. Die ukrai­nische Regierung, das Parlament und die Zivil­ge­sell­schaft haben rasch Fachwissen aufgebaut, sie haben umfang­reiche Unter­lagen vorbe­reitet und sich verbindlich darauf festgelegt, alle Verpflich­tungen mit derselben Entschlos­senheit und Qualität umzusetzen. Die ukrai­ni­schen Entschei­dungs­träger sind sich der Bedeutung dieses Moments bewusst und haben ihre Bereit­schaft erklärt, alle Anfor­de­rungen nicht nur frist­ge­recht, sondern sogar schneller zu erfüllen als andere Beitritts­kan­di­daten in früheren EU-Erwei­te­rungs­runden. Die entschei­dende Frage bleibt, ob die EU dazu bereit ist, angemessen darauf zu reagieren: nicht nur, indem sie mit dem raschen Tempo der ukrai­ni­schen Entschei­dungs­findung Schritt hält, sondern auch, indem sie die strate­gische Entschlos­senheit bekundet, das Land in naher Zukunft als Mitglied aufzu­nehmen. Ukrai­nische Regie­rungs­ver­treter haben öffentlich die Erwartung geäußert, dass die Ukraine bis 2030 die volle EU-Mitglied­schaft erreichen wird.

Gespräche über vier Verhand­lungs­pakete abgeschlossen

Zu diesem Zweck unter­sucht die ukrai­nische Regierung intensiv bewährte Verfahren für die Verhand­lungen und für die wirksame und rasche Umsetzung der EU-Anfor­de­rungen und übernimmt diese. Nach Angaben der Regierung sind die bilate­ralen Screening-Gespräche in vier der sechs Verhand­lungs­pakete bereits abgeschlossen:[1]

  • Paket 1 – Grundlagen
  • Paket 2 – Binnenmarkt
  • Paket 3 – Wettbe­werbs­fä­higkeit und integra­tives Wachstum[2]
  • Paket 6 – Außenbeziehungen

Derzeit wartet die Ukraine auf Entschei­dungen ihrer europäi­schen Partner über die Verfah­rens­schritte, die für die Aufnahme von Verhand­lungen über Cluster 1 erfor­derlich sind. „Die Ukraine hat alle notwen­digen Voraus­set­zungen für die Eröffnung des ersten Verhand­lungs­clusters erfüllt“, betont Olha Stefa­nishyna, stell­ver­tre­tende Minis­ter­prä­si­dentin für europäische und euro-atlan­tische Integration und Justizministerin.[3]Diese Bereit­schaft wird durch fertig­ge­stellte Fahrpläne zur Rechts­staat­lichkeit und zur Reform der öffent­lichen Verwaltung unter­mauert. Diese sind wichtige Voraus­set­zungen für die Eröffnung des Clusters. Der Fahrplan für das Funktio­nieren demokra­ti­scher Insti­tu­tionen und der Aktionsplan zur Gewähr­leistung der Rechte von Angehö­rigen natio­naler Minder­heiten wurden ebenfalls fertiggestellt.

Die Beobachter sowohl in der Ukraine als auch in der EU haben festge­stellt, dass diese strate­gi­schen Dokumente angesichts ihres Umfangs und der Vielzahl der betei­ligten Akteure – darunter Regie­rungs­stellen, die Zivil­ge­sell­schaft und inter­na­tionale Experten – in Rekordzeit ausge­ar­beitet wurden.[4]

Cluster 1, Grund­lagen, ist immer das erste Cluster, der in Beitritts­ver­hand­lungen geöffnet wird. Die Verhand­lungen in diesem Cluster konzen­trieren sich auf die Anglei­chung der Kernbe­reiche der ukrai­ni­schen Gesetz­gebung an das EU-Recht. Cluster 1 ist nicht nur immer der erste, sondern in der Regel auch das letzte Cluster, das im Verhand­lungs­prozess abgeschlossen wird, denn es ist das komple­xeste und wichtigste. Es umfasst eine Vielzahl von Themen, die für die Europäi­sierung der Ukraine von entschei­dender Bedeutung sind, darunter die Nachhal­tigkeit demokra­ti­scher Insti­tu­tionen, Rechts­staat­lichkeit, Korrup­ti­ons­be­kämpfung und vieles mehr.[5]

Die Formel der Ukraine: Inspi­ration und Europäisierung

Die Unter­stützung für eine künftige EU-Mitglied­schaft ist in der Ukraine nach wie vor sehr hoch: Laut einer Umfrage des Kiyver Inter­na­tio­nalen Instituts für Sozio­logie (KIIS) wünschen sich 90 Prozent der Ukrainer den Beitritt ihres Landes zur Europäi­schen Union.[6] Die Ukrainer stehen auch dem Druck der EU, die Reformen voran­zu­treiben, generell positiv gegenüber: In einer im November 2024 von Info Sapiens im Auftrag des New Europe Center durch­ge­führten Umfrage hielten es über 60 Prozent der Befragten für angemessen, dass die EU und die USA auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption in der Ukraine drängen.[7]

Die gleiche Umfrage des New Europe Center zeigte jedoch auch eine Tendenz zu zuneh­mender Skepsis. Der Anteil der Befragten, die der Meinung waren, dass „die EU und die USA nach Ausreden suchen, um der Ukraine größere Unter­stützung zu verweigern“, war im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage aus dem Jahr 2023 leicht gestiegen.[8]

Die öffent­liche Nachfrage nach einer Europäi­sierung der Ukraine ist groß, was den Befür­wortern einer Reform­agenda im Land zusätz­lichen Einfluss verschafft. Dieser Einfluss hat es einer aktiven Zivil­ge­sell­schaft, Reformern innerhalb der staat­lichen Insti­tu­tionen und der EU, ermög­licht, gemeinsam viele wichtige Verän­de­rungen voran­zu­treiben. Die aktuelle Situation bietet somit eine einmalige Chance, einen entschei­denden Wandel in der Ukraine zu vollziehen. Gleich­zeitig eröffnet sie anderen Kandi­da­ten­ländern eine Chance, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können.

Es ist jedoch von entschei­dender Bedeutung, dass der Beitritts­prozess trans­parent und fair verläuft und dass die Beitritts­kan­di­daten für ihre Reform­fort­schritte belohnt werden. In letzter Zeit sind in Kyiv zunehmend frustrierte Töne zu hören, da bestimmte EU-Mitglied­staaten den Beitritts­prozess der Ukraine ohne triftigen Grund zu blockieren scheinen.

Ungarns Kampagne gegen den EU-Beitritt der Ukraine

Ungarn hat wiederholt Einwände erhoben, um den EU-Beitritts­prozess der Ukraine zu verzögern oder sogar zu blockieren. Zunächst begründete Budapest diese Vorge­hens­weise mit Bedenken hinsichtlich der Rechte natio­naler Minder­heiten in der Ukraine. Nachdem die Ukraine jedoch ihr Engagement für die Lösung dieser Probleme unter Beweis gestellt hatte, änderte Ungarn seine Argumen­tation: Nun wurden andere Motive erkennbar, die hinter einem möglichen Veto Ungarns stehen könnten.

Ungarische Regie­rungs­ver­treter, darunter Minis­ter­prä­sident Viktor Orbán, haben eine aktive Kampagne gestartet, um die Ukraine zu diskre­di­tieren. Insbe­sondere Orbán hat behauptet, dass der Beitritt der Ukraine bedeuten würde, dass „das gesamte Geld Ungarnsfür die Ukraine ausge­geben werden müsste.[9] Der ungarische Minister für EU-Angele­gen­heiten, János Bóka, erklärte, dass „die Ukraine nur als Pufferzone fungieren kann“.[10]

Budapest hat wiederholt EU-Sanktionen gegen Russland blockiert und Hinder­nisse für die militä­rische Hilfe der EU für die Ukraine errichtet. Es ist wahrscheinlich, dass Ungarn beabsichtigt, den EU-Beitritt der Ukraine zu blockieren, ohne dafür eine plausible Begründung vorzubringen.

Die daraus resul­tie­rende Realität ist, dass die Ukrainer an drei Fronten kämpfen: gegen die imperialen Ambitionen Russlands, gegen reform­feind­liche Kräfte im eigenen Land und gegen einen EU-Mitglied­staat Ungarn. In den letzten Jahren haben die meisten EU-Länder ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, die Ukraine an den ersten beiden Fronten zu unter­stützen, d. h. beim Wider­stand gegen die russische Aggression und bei der Förderung der Europäi­sierung. Nun erwarten die Ukrainer von ihren europäi­schen Partnern, dass sie sie auch an dieser dritten Front unter­stützen und Solida­rität und Verständnis zeigen, indem sie ihnen helfen, antiukrai­ni­schen Agita­tionen innerhalb der Union entgegenzuwirken.

Im April 2025 appel­lierten ukrai­nische Organi­sa­tionen der Zivil­ge­sell­schaft an die Außen­mi­nister der EU-Länder, ihre Bemühungen um einen Konsens über die Aufnahme von Verhand­lungen über Cluster 1 zu verstärken. Die ukrai­ni­schen Vertre­te­rinnen warnte davor, dass bilaterale Fragen den gesamten Beitritts­ver­hand­lungs­prozess zu behindern drohen. Gleich­zeitig betonten sie ihre unein­ge­schränkte Unter­stützung für das, „die Idee, dass der Beitritts­prozess einer „merit-based“ Methodik folgen sollte“.

Orbans Blockade-Taktiken…

Bislang ist es der EU gelungen, einen Konsens über viele vorge­schlagene Maßnahmen zu erzielen – und das, obwohl sich Ungarn bemühte, diesen zu blockieren. Ein Beispiel dafür sind die Sankti­ons­pakete gegen Russland. Dabei bleibt zu erwähnen, dass die Einwände Ungarns zeitweise dazu geführt haben, dass schwä­chere Maßnahmen als ursprünglich vorge­schlagen verab­schiedet wurden. Ebenso konnte die Ukraine trotz des Wider­stands Budapests Fortschritte auf dem Weg zur europäi­schen Integration erzielen.

Ein viel zitiertes Beispiel (das mittler­weile als Fallstudie für kreative EU-Diplo­matie gilt) ereignete sich im Dezember 2023, als die EU für die Aufnahme von Beitritts­ver­hand­lungen mit der Ukraine stimmte. Bei dieser Gelegenheit verließ der ungarische Minis­ter­prä­sident Viktor Orbán den Ratssaal, sodass die verblei­benden 26 Mitglied­staaten ohne sein Veto weiter­ar­beiten konnten. Berichten zufolge schlug der damalige deutsche Bundes­kanzler Olaf Scholz Orbán vor, eine Kaffee­pause einzu­legen, um diesen Schritt zu erleichtern.

Die Ukraine betont weiterhin die Bedeutung des Dialogs und der Partner­schaft mit allen EU-Mitglied­staaten. Dies spiegelte sich in den Bemühungen der Ukraine wider, einen inten­siven Dialog mit Budapest über Fragen natio­naler Minder­heiten zu führen. Ungarn hat jedoch seine Rhetorik gegenüber der Ukraine zunehmend verschärft, konzen­triert sich weniger auf bilaterale Anliegen und nimmt eine eher obstruktive Haltung gegenüber den EU-Bestre­bungen der Ukraine ein.

… und die Suche nach kreativen Antworten

Nachdem Orbán dem Rat die Geneh­migung zur Aufnahme von Beitritts­ver­hand­lungen im Jahr 2023 erteilt hatte, wies er darauf hin, dass die ungarische Regierung noch „etwa 75 Gelegen­heiten“ habe, „diesen Prozess zu stoppen“. Damit nahm er Bezug auf die Abstim­mungen über die Eröffnung und den Abschluss der mehr als 30 Verhand­lungs­ka­pitel. Es scheint, dass Budapest nun diese Drohung wahr macht und die Aufnahme der Verhand­lungen über Cluster 1 blockiert.

Die EU steht vor einem ernst­haften Dilemma: Entweder muss sie 75 separate „kreative” Lösungen finden, um Ungarn davon zu überzeugen, den Beitritt der Ukraine nicht zu blockieren, oder sie muss einen nachhal­tigen Mecha­nismus finden, mit dem dasselbe erreicht werden kann. Der erste Weg würde erheb­liche Inves­ti­tionen in insti­tu­tio­nelle Ressourcen, Zeit und manchmal auch finan­zielle Anreize erfordern.

Dies könnte für die EU der richtige Zeitpunkt sein, bestimmte technische Verfahren im Beitritts­prozess zu überprüfen. Es sollte nicht notwendig sein, dass alle EU-Mitglied­staaten die Eröffnung jedes einzelnen Verhand­lungs­pakets oder Kapitels geneh­migen müssen. Dabei handelt es sich weitgehend um technische Schritte, die sich an spezi­fi­schen Indika­toren und messbaren Fortschritten orien­tieren. Die Forderung nach einstim­miger Zustimmung ermög­licht eine „Bilate­ra­li­sierung“ des Beitritts­pro­zesses, d. h. ein einzelner Mitglied­staat kann politisch motivierte Hinder­nisse in den Prozess einbauen, mit dem Ergebnis, dass die innen­po­li­ti­schen Inter­essen dieses Staates die gemeinsame Agenda verzerren können. Dies unter­gräbt die Glaub­wür­digkeit und Effizienz der EU.

Angesichts all dessen werden die Rufe nach einer Aktivierung von Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union immer lauter. Dieser Mecha­nismus ermög­licht die Aussetzung bestimmter Rechte eines Mitglied­staats. Es könnte jedoch unmöglich sein, die für diesen Schritt erfor­der­liche Einstim­migkeit zu erreichen, da Ungarn durchaus Verbündete finden könnte, um dieses Szenario zu verhindern.

Bitte keine ad-hoc-Lösungen!

So verschwendet die EU weiterhin Zeit und Ressourcen für die Bewäl­tigung interner Hinder­nisse, um ihre Erwei­te­rungs­agenda am Leben zu erhalten. Ein kürzlich vorge­brachter ad-hoc-Vorschlag sah vor, die Beitritts­pro­zesse der Ukraine und Moldau zu „entkoppeln“ und Verhand­lungen nur mit Chișinău aufzu­nehmen. Dieser Vorschlag wurde von der Ukraine scharf kriti­siert. Aus der Sicht Kyivs wäre ein solcher Schritt zutiefst unfair und käme einer Bestrafung eines Beitritts­kan­di­daten für das Fehlver­halten eines bestehenden Mitglied­staates gleich. In einem solchen Fall sollte nicht das Beitritts­kan­di­da­tenland, sondern das bestehende Mitglied­staat mit Auflagen belegt werden. Eine separate Fortsetzung des Beitritts­pro­zesses Moldau würde die Isolation der Ukraine verstärken. Genau das ist das Ziel Ungarns, wenn es eine Erwei­terung ohne die Ukraine befür­wortet. In diesem Punkt stimmen die Inter­essen Ungarns und Russlands überein.

Die Blockade des EU-Beitritts der Ukraine könnte die Motivation der Ukrainer für interne Reformen und ihre Bemühungen um eine Zusam­men­arbeit mit anderen Beitritts­kan­di­daten zur Erzielung gemein­samer Fortschritte verringern. Die Auswir­kungen würden somit weit über die Ukraine und ihre Bezie­hungen zur EU hinaus­reichen: Die Ukraine war die treibende Kraft des Erwei­te­rungs­pro­zesses. Ihre Isolation könnte die Sicher­heits­in­ter­essen der EU insgesamt gefährden und letztlich den Gegnern der EU in die Hände spielen.

Der Beitritt zur Europäi­schen Union ist ein Eckpfeiler der Pläne der Ukraine für den Wieder­aufbau nach dem Krieg und eine wichtige Garantie für langfristige Stabi­lität. Das Vorgehen Ungarns unter­gräbt diese wichtigen Ziele.

Eine aktive ukrai­nische Zivil­ge­sell­schaft braucht Unterstützung

Künst­liche Verzö­ge­rungen des Erwei­te­rungs­pro­zesses könnten die EU in den Augen der Bürger der Kandi­da­ten­länder diskre­di­tieren. Das Zeitfenster für Reformen wird sich allmählich schließen, während Stimmen, die die Propa­ganda Russlands verstärken lauter werden, wie etwa das gesetzte Narrativ „Die EU will die Ukraine nicht“. Korrupte Eliten in den Kandi­da­ten­ländern würden ein solches Ergebnis zusammen mit dem Kreml begrüßen.

Die Ukraine sucht nach einer Chance, um zu beweisen, dass sie eine Erfolgs­ge­schichte der demokra­ti­schen Trans­for­mation werden kann. Daher wären die Folgen, ihr diese Chance gleich zu Beginn ihres Weges zu verweigern, besonders schädlich und gefährlich. Eine Blockade oder unnötige Verzö­gerung des EU-Beitritts­pro­zesses der Ukraine könnte weitrei­chende negative Folgen haben. Eine Unter­grabung der Erwei­terung würde Europa schwächen und denje­nigen einen Sieg bescheren, die an einem Niedergang der EU inter­es­siert sind.

Trotz der schweren Belas­tungen durch die russische Aggression setzt die Ukraine die notwen­digen Reformen auf ihrem Weg zur EU-Mitglied­schaft fort. Die ukrai­nische Zivil­ge­sell­schaft, die eine wichtige Rolle dabei spielt, ihre Regierung zur Rechen­schaft zu ziehen, ist weiterhin offen für eine enge Zusam­men­arbeit mit den Akteuren der EU, um den Erfolg der Ukraine sicherzustellen.

Nicht­staat­liche Experten sind in jeder Phase des Beitritts­pro­zesses aktiv beteiligt: von der Vorbe­reitung von Dokumenten über die Teilnahme an Entschei­dungs­dis­kus­sionen bis hin zur unabhän­gigen Bewertung der Reform­fort­schritte. Viele dieser Experten sind offiziell in Verhand­lungs­ar­beits­gruppen vertreten, die für die einzelnen Kapitel des EU-Beitritts­pro­zesses zuständig sind.

Ukrai­nische Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen unter­stützen weiterhin aktiv die europäische Integra­ti­ons­agenda, obwohl sie von der Entscheidung der USA, alle Hilfen für die Ukraine einzu­stellen, erheblich betroffen sind. In diesem Zusam­menhang könnte zusätz­liche Unter­stützung durch die EU erfor­derlich sein, um die unabhängige Expertise der Ukraine zu stärken.

Die beste Garantie dafür, dass die Ukraine nicht von ihrer Reform­agenda abweicht, ist die Regel, dass die EU alle Akteure – nicht nur die Kandi­da­ten­länder – an hohen Standards misst. Die EU muss ernsthaft die langfris­tigen Risiken berück­sich­tigen, die sich daraus ergeben, dass einzelne Mitglied­staaten Verfah­rens­regeln und ihren privi­le­gierten Status in der Union der entwi­ckelten Demokratien missbrauchen können.

Handlungs­emp­feh­lungen für die EU bzw. Deutschland:

  1. Die EU sollte nachhaltige und klare Verfahren einführen, die eine Manipu­lation des Beitritts­pro­zesses verhindern. Deutschland und andere Mitglied­staaten sollten mögliche Änderungen der Entschei­dungs­findung im Beitritts­prozess prüfen, um zu verhindern, dass ein einzelner Staat (oder eine sichtbare Minderheit von Staaten) den Übergang von einer techni­schen Verfah­rens­stufe zur nächsten blockieren kann.
  2. Erwägung der Aktivierung von Artikel 7 als letztes Mittel. Auch wenn es unwahr­scheinlich ist, dass die EU in dieser Frage Einstim­migkeit erzielen wird, sollte dieser Mecha­nismus in den Diskus­sionen der EU nicht völlig unerwähnt bleiben. Deutschland kann Möglich­keiten prüfen, wie es Einfluss auf solche Mitglied­staaten nehmen kann, die EU-Verfahren missbrauchen und grund­le­gende EU-Werte missachten. Indem die EU die derzeitige Vorge­hens­weise Ungarns ignoriert, läuft sie Gefahr, andere Mitglied­staaten zu ermutigen, EU-Verfahren in ähnlicher Weise zu missbrauchen.
  3. Solida­rität gegen politisch motivierte Blockaden wahren. Deutschland sollte sich an der Spitze der Bemühungen befinden, um Versuche von Mitglied­staaten, die den EU-Beitritt der Ukraine ohne triftigen Grund zu blockieren, zu bekämpfen.
  4. Ablehnung des Vorschlags, den Beitritts­prozess der Ukraine von dem anderer Beitritts­kan­di­daten zu entkoppeln. Eine Entkopplung des Prozesses der Ukraine von der Republik Moldau oder anderer Beitritts­kan­di­daten würde die Ukraine unfai­rer­weise für interne EU-Strei­tig­keiten bestrafen, auf die sie keinen Einfluss hat. Die Erwei­te­rungs­po­litik muss auf fairen und einheit­lichen Grund­sätzen beruhen.
  5. Technische Verfahren sollten nicht politi­siert werden. Deutschland und andere EU-Mitglied­staaten sollten die Bemühungen der Ukraine um einen beschleu­nigten Beitritts­prozess aktiv unter­stützen, unter anderem durch die Eröffnung aller sechs Verhand­lungs­pakete bis Ende dieses Jahres. Es ist von entschei­dender Bedeutung, dass die Eröffnung des Pakets 1 (Grund­lagen) ohne Verzö­gerung erfolgt, da die Ukraine bereits alle notwen­digen Voraus­set­zungen erfüllt hat. Die Eröffnung der Pakete sollte ein zügiger und techni­scher Prozess sein, während eine stärkere politische Aufmerk­samkeit der EU in der Phase des Paket­ab­schlusses logischer wäre.
  6. Gewähr­leistung eines leistungs­ori­en­tierten Beitritts­pro­zesses. Anstelle einer Sonder­be­handlung fordert die Ukraine eine faire und trans­pa­rente Bewertung ihrer Reform­be­mü­hungen. Politisch motivierte Hinder­nisse würden das Vertrauen in die EU untergraben.
  7. Unter­stützung der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft. Die Unter­stützung der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft und nicht­staat­licher Experten durch die EU und ihr Engagement für diese spielen eine entschei­dende Rolle, damit sie ihre Regierung zur Rechen­schaft ziehen und Reformen voran­treiben können. Die Mitglied­staaten sollten sich für die Stärkung der unabhän­gigen Expertise der Ukraine einsetzen und zusätz­liche Unter­stützung leisten, um eine trans­pa­rente Überwa­chung und eine nachhaltige Reform­dy­namik zu gewährleisten.
  8. Bekämpfung der antiwest­lichen Desin­for­mation und Stärkung der Europäi­sie­rungs­nar­rative in der Ukraine. Deutschland und seine Partner sollten der russi­schen Propa­ganda und Desin­for­mation, die die Unter­stützung für den Beitritt und die Reform­be­mü­hungen der Ukraine unter­graben, aktiv entge­gen­wirken, indem sie die Botschaft bekräf­tigen, dass Europa fest an der Seite der Ukraine steht.

[1] Ukrainska Pravda, „Die Hälfte der Cluster für den EU-Beitritt der Ukraine bereits geprüft, sagt die EU“, 23. April 2025. https://www.pravda.com.ua/eng/news/2025/04/23/7508856/

[2] The European Integration, „Ukraine hat EU-Prüfung im Rahmen von Cluster 3 erfolg­reich abgeschlossen“, 6. Juni 2025. https://eu-ua.kmu.gov.ua/news/ukrayina-uspishno-zavershyla-skryning-z-yes-za-klasterom-3-konkurentospromozhnist-ta-inklyuzyvnyj-rozvytok/

[3] Interfax-Ukraine, „Ukraine hat alle notwen­digen Voraus­set­zungen für die Eröffnung des ersten Verhand­lungs­clusters für den EU-Beitritt erfüllt – Stefa­nishyna”, 15. Mai 2025. https://ua.interfax.com.ua/news/general/1071921.html

[4] European Pravda, „EU zu den Beitritts­ge­sprächen mit der Ukraine: Die Hälfte der Cluster für den EU-Beitritt der Ukraine bereits geprüft“, 23. April 2025. https://www.eurointegration.com.ua/eng/news/2025/04/23/7210106/

[5] European Pravda, „Wichtiges Verhand­lungs­ka­pitel mit der EU: Welche Reformen muss die Ukraine umsetzen?“, Ivan Nahorniak, Maria Shalam­be­ridze, 18. März 2025. https://www.eurointegration.com.ua/articles/2025/03/18/7207364/

[6] KIIS, „Dimen­sionen der Einstel­lungen gegenüber der EU und der NATO sowie der Einstel­lungen gegenüber den USA“, 14. Januar 2025. https://kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1468

[7] New Europe Center, „Außen­po­litik und Sicherheit. Meinungen der ukrai­ni­schen Gesell­schaft”, 10. Dezember 2024. https://neweurope.org.ua/en/analytics/zovnishnya-polityka-i-bezpeka-nastroyi-ukrayinskogo-suspilstva/

[8] ebenda

[9] The Guardian, „Orbáns Haltung zur Ukraine bringt Ungarn an den Rand der EU-Bezie­hungen”, 19. April 2025. https://www.theguardian.com/world/2025/apr/19/orban-ukraine-hungary-eu-relations-kyiv

[10] European Pravda, „Ungarn will Ukraine als Pufferzone zwischen Russland und EU“. 20. März 2025. https://www.eurointegration.com.ua/eng/news/2025/03/20/7207654/

Textende

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