Wie Ungarn den Beitritt der Ukraine in die Europäische Union blockiert
Trotz Krieg befindet sich die Ukraine in beispiellosem Tempo auf ihrem Weg in die Europäische Union. Damit ihr der Beitritt gelingen kann, braucht es entschiedene Unterstützung vonseiten der EU – und eine Lösung, wie anhaltende Blockaden seitens Victor Orbans Ungarn umgangen werden können, analysiert Sergiy Solodkyy, erster stellvertretender Direktor, New Europe Center (Ukraine), in seinem Policy Brief.
Die Ukraine auf ihrem Weg in die EU
Die Europäische Union tritt in eine neue und wichtige Phase ihrer Erweiterungskrise ein: Nachdem auf frühere erste EU-Beitrittsrunden eine Unentschlossenheit hinsichtlich neuer EU-Erweiterungsbestrebungen gefolgt war, hatte die Ukraine der EU neues Leben eingehaucht und sie dazu motiviert, die Beitrittsbestrebungen wiederaufzunehmen. Doch nun hindert insbesondere ein EU-Mitgliedstaat die gesamte Union daran, diese Chance zu nutzen und die Ukraine auf ihrem Weg in die EU zu unterstützen. Damit werden die übergeordneten strategischen Ziele der EU gefährdet.
Seit der Einreichung ihres Beitrittsantrags im Februar 2022 war die Ukraine mit beispielloser Entschlossenheit auf dem Weg in die EU-Beitritt. Trotz des umfassenden Krieges, in dem sich das Land seit Februar 2022 befindet, führt die Ukraine Reformen durch, erfüllt Verpflichtungen und ist bereit, Beitrittsverhandlungen zu führen.
Eines der wichtigsten Integrationsziele der Ukraine für 2025 ist die Aufnahme paralleler Verhandlungen in allen Clustern. Derzeit drängt sie ihre europäischen Partner dazu, die notwendigen Verfahrensschritte umzusetzen, um mit Cluster I (Fundamentals, Rule of Law, Korruptionsbekämpfung), zu beginnen. Die Europäische Kommission hat anerkannt, dass die Ukraine bisher erhebliche Fortschritte gemacht hat und ihre Erwartungen an die EU legitim sind.
Ungarn verhindert Beitrittsverhandlungen
Paradoxerweise ist das größte Hindernis für die Ukraine nicht mehr die mangelnde Bereitschaft der EU, sie in die Union aufzunehmen, sondern die politische Trägheit des europäischen Bündnisses. Diese wird einseitig durch Ungarn blockiert, das damit wichtige Schritte im Verhandlungsprozess verhindert. Die Ukraine muss also nicht nur mit der russischen Aggression und internen Reformgegnern kämpfen, sondern auch mit der Ungerechtigkeit des EU-Verfahrens, das es einem einzelnen Mitgliedstaat ermöglicht, den gesamten Prozess zu blockieren.
Die ukrainische Zivilgesellschaft hat in enger Zusammenarbeit mit nationalen Institutionen und EU-Partnern bisher eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung der Transparenz und Rechenschaftspflicht der Reformen gespielt. Die nicht zu rechtfertigenden Verzögerungen bei den Verhandlungen drohen nun jedoch, das Vertrauen der ukrainischen Gesellschaft in die EU zu untergraben. Sie schüren pro-russische Narrative und unterminieren die Glaubwürdigkeit der Erweiterungsagenda insgesamt.
Es braucht nun eine Neubewertung der EU-Verfahren – insbesondere müssen die Möglichkeiten einzelner Mitgliedstaaten, ihr Vetorecht in technischen Phasen des Beitrittsprozesses zu missbrauchen, minimiert werden. Ein leistungsorientierter Ansatz als Eckpfeiler der Erweiterungspolitik muss bestehen bleiben. Darüber hinaus könnte es für die EU an der Zeit sein, nun ernsthaft über die Anwendung von Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union nachzudenken.
Kann die EU mit dem Tempo der Ukraine mithalten?
Ende Februar 2022 stellte die Ukraine ihren Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Ein wahrhaft historischer Schritt, den nur wenige ernst nahmen. Von einem Land, das massiven Angriffen eines aggressiven Russlands ausgesetzt war, erwartete man keine realistischen Aussichten auf einen Beitritt zur Europäischen Union. Die folgenden Ereignisse haben jedoch gezeigt, dass die Ukraine durchaus in der Lage ist, den Lauf der Geschichte zu verändern und alte Annahmen zu widerlegen. Sie hat nicht nur den militärischen Angriffen Russlands standgehalten, sie hat außerdem die hartnäckige „Erweiterungsmüdigkeit“, die sich in der EU breitgemacht hatte, erfolgreich überwunden.
Im Juni 2022 wurde der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt, und im Dezember 2023 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EU darauf, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Vor einem Jahr hat die EU offiziell die Beitrittsgespräche mit der Ukraine aufgenommen, und die Ukrainer haben sich rasch daran gemacht, die Verpflichtungen zu erfüllen und die Verfahren für die nächste Phase des Beitrittsprozesses abzuschließen – in der Hoffnung, der Mitgliedschaft damit näher zu kommen.
Die Ukraine zeigt weiterhin ein hohes Maß an Engagement für ihr europäisches Ziel. Die ukrainische Regierung, das Parlament und die Zivilgesellschaft haben rasch Fachwissen aufgebaut, sie haben umfangreiche Unterlagen vorbereitet und sich verbindlich darauf festgelegt, alle Verpflichtungen mit derselben Entschlossenheit und Qualität umzusetzen. Die ukrainischen Entscheidungsträger sind sich der Bedeutung dieses Moments bewusst und haben ihre Bereitschaft erklärt, alle Anforderungen nicht nur fristgerecht, sondern sogar schneller zu erfüllen als andere Beitrittskandidaten in früheren EU-Erweiterungsrunden. Die entscheidende Frage bleibt, ob die EU dazu bereit ist, angemessen darauf zu reagieren: nicht nur, indem sie mit dem raschen Tempo der ukrainischen Entscheidungsfindung Schritt hält, sondern auch, indem sie die strategische Entschlossenheit bekundet, das Land in naher Zukunft als Mitglied aufzunehmen. Ukrainische Regierungsvertreter haben öffentlich die Erwartung geäußert, dass die Ukraine bis 2030 die volle EU-Mitgliedschaft erreichen wird.
Gespräche über vier Verhandlungspakete abgeschlossen
Zu diesem Zweck untersucht die ukrainische Regierung intensiv bewährte Verfahren für die Verhandlungen und für die wirksame und rasche Umsetzung der EU-Anforderungen und übernimmt diese. Nach Angaben der Regierung sind die bilateralen Screening-Gespräche in vier der sechs Verhandlungspakete bereits abgeschlossen:[1]
- Paket 1 – Grundlagen
- Paket 2 – Binnenmarkt
- Paket 3 – Wettbewerbsfähigkeit und integratives Wachstum[2]
- Paket 6 – Außenbeziehungen
Derzeit wartet die Ukraine auf Entscheidungen ihrer europäischen Partner über die Verfahrensschritte, die für die Aufnahme von Verhandlungen über Cluster 1 erforderlich sind. „Die Ukraine hat alle notwendigen Voraussetzungen für die Eröffnung des ersten Verhandlungsclusters erfüllt“, betont Olha Stefanishyna, stellvertretende Ministerpräsidentin für europäische und euro-atlantische Integration und Justizministerin.[3]Diese Bereitschaft wird durch fertiggestellte Fahrpläne zur Rechtsstaatlichkeit und zur Reform der öffentlichen Verwaltung untermauert. Diese sind wichtige Voraussetzungen für die Eröffnung des Clusters. Der Fahrplan für das Funktionieren demokratischer Institutionen und der Aktionsplan zur Gewährleistung der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten wurden ebenfalls fertiggestellt.
Die Beobachter sowohl in der Ukraine als auch in der EU haben festgestellt, dass diese strategischen Dokumente angesichts ihres Umfangs und der Vielzahl der beteiligten Akteure – darunter Regierungsstellen, die Zivilgesellschaft und internationale Experten – in Rekordzeit ausgearbeitet wurden.[4]
Cluster 1, Grundlagen, ist immer das erste Cluster, der in Beitrittsverhandlungen geöffnet wird. Die Verhandlungen in diesem Cluster konzentrieren sich auf die Angleichung der Kernbereiche der ukrainischen Gesetzgebung an das EU-Recht. Cluster 1 ist nicht nur immer der erste, sondern in der Regel auch das letzte Cluster, das im Verhandlungsprozess abgeschlossen wird, denn es ist das komplexeste und wichtigste. Es umfasst eine Vielzahl von Themen, die für die Europäisierung der Ukraine von entscheidender Bedeutung sind, darunter die Nachhaltigkeit demokratischer Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und vieles mehr.[5]
Die Formel der Ukraine: Inspiration und Europäisierung
Die Unterstützung für eine künftige EU-Mitgliedschaft ist in der Ukraine nach wie vor sehr hoch: Laut einer Umfrage des Kiyver Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) wünschen sich 90 Prozent der Ukrainer den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union.[6] Die Ukrainer stehen auch dem Druck der EU, die Reformen voranzutreiben, generell positiv gegenüber: In einer im November 2024 von Info Sapiens im Auftrag des New Europe Center durchgeführten Umfrage hielten es über 60 Prozent der Befragten für angemessen, dass die EU und die USA auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption in der Ukraine drängen.[7]
Die gleiche Umfrage des New Europe Center zeigte jedoch auch eine Tendenz zu zunehmender Skepsis. Der Anteil der Befragten, die der Meinung waren, dass „die EU und die USA nach Ausreden suchen, um der Ukraine größere Unterstützung zu verweigern“, war im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage aus dem Jahr 2023 leicht gestiegen.[8]
Die öffentliche Nachfrage nach einer Europäisierung der Ukraine ist groß, was den Befürwortern einer Reformagenda im Land zusätzlichen Einfluss verschafft. Dieser Einfluss hat es einer aktiven Zivilgesellschaft, Reformern innerhalb der staatlichen Institutionen und der EU, ermöglicht, gemeinsam viele wichtige Veränderungen voranzutreiben. Die aktuelle Situation bietet somit eine einmalige Chance, einen entscheidenden Wandel in der Ukraine zu vollziehen. Gleichzeitig eröffnet sie anderen Kandidatenländern eine Chance, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen können.
Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, dass der Beitrittsprozess transparent und fair verläuft und dass die Beitrittskandidaten für ihre Reformfortschritte belohnt werden. In letzter Zeit sind in Kyiv zunehmend frustrierte Töne zu hören, da bestimmte EU-Mitgliedstaaten den Beitrittsprozess der Ukraine ohne triftigen Grund zu blockieren scheinen.
Ungarns Kampagne gegen den EU-Beitritt der Ukraine
Ungarn hat wiederholt Einwände erhoben, um den EU-Beitrittsprozess der Ukraine zu verzögern oder sogar zu blockieren. Zunächst begründete Budapest diese Vorgehensweise mit Bedenken hinsichtlich der Rechte nationaler Minderheiten in der Ukraine. Nachdem die Ukraine jedoch ihr Engagement für die Lösung dieser Probleme unter Beweis gestellt hatte, änderte Ungarn seine Argumentation: Nun wurden andere Motive erkennbar, die hinter einem möglichen Veto Ungarns stehen könnten.
Ungarische Regierungsvertreter, darunter Ministerpräsident Viktor Orbán, haben eine aktive Kampagne gestartet, um die Ukraine zu diskreditieren. Insbesondere Orbán hat behauptet, dass der Beitritt der Ukraine bedeuten würde, dass „das gesamte Geld Ungarns“ für die Ukraine ausgegeben werden müsste.[9] Der ungarische Minister für EU-Angelegenheiten, János Bóka, erklärte, dass „die Ukraine nur als Pufferzone fungieren kann“.[10]
Budapest hat wiederholt EU-Sanktionen gegen Russland blockiert und Hindernisse für die militärische Hilfe der EU für die Ukraine errichtet. Es ist wahrscheinlich, dass Ungarn beabsichtigt, den EU-Beitritt der Ukraine zu blockieren, ohne dafür eine plausible Begründung vorzubringen.
Die daraus resultierende Realität ist, dass die Ukrainer an drei Fronten kämpfen: gegen die imperialen Ambitionen Russlands, gegen reformfeindliche Kräfte im eigenen Land und gegen einen EU-Mitgliedstaat Ungarn. In den letzten Jahren haben die meisten EU-Länder ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, die Ukraine an den ersten beiden Fronten zu unterstützen, d. h. beim Widerstand gegen die russische Aggression und bei der Förderung der Europäisierung. Nun erwarten die Ukrainer von ihren europäischen Partnern, dass sie sie auch an dieser dritten Front unterstützen und Solidarität und Verständnis zeigen, indem sie ihnen helfen, antiukrainischen Agitationen innerhalb der Union entgegenzuwirken.
Im April 2025 appellierten ukrainische Organisationen der Zivilgesellschaft an die Außenminister der EU-Länder, ihre Bemühungen um einen Konsens über die Aufnahme von Verhandlungen über Cluster 1 zu verstärken. Die ukrainischen Vertreterinnen warnte davor, dass bilaterale Fragen den gesamten Beitrittsverhandlungsprozess zu behindern drohen. Gleichzeitig betonten sie ihre uneingeschränkte Unterstützung für das, „die Idee, dass der Beitrittsprozess einer „merit-based“ Methodik folgen sollte“.
Orbans Blockade-Taktiken…
Bislang ist es der EU gelungen, einen Konsens über viele vorgeschlagene Maßnahmen zu erzielen – und das, obwohl sich Ungarn bemühte, diesen zu blockieren. Ein Beispiel dafür sind die Sanktionspakete gegen Russland. Dabei bleibt zu erwähnen, dass die Einwände Ungarns zeitweise dazu geführt haben, dass schwächere Maßnahmen als ursprünglich vorgeschlagen verabschiedet wurden. Ebenso konnte die Ukraine trotz des Widerstands Budapests Fortschritte auf dem Weg zur europäischen Integration erzielen.
Ein viel zitiertes Beispiel (das mittlerweile als Fallstudie für kreative EU-Diplomatie gilt) ereignete sich im Dezember 2023, als die EU für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine stimmte. Bei dieser Gelegenheit verließ der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán den Ratssaal, sodass die verbleibenden 26 Mitgliedstaaten ohne sein Veto weiterarbeiten konnten. Berichten zufolge schlug der damalige deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Orbán vor, eine Kaffeepause einzulegen, um diesen Schritt zu erleichtern.
Die Ukraine betont weiterhin die Bedeutung des Dialogs und der Partnerschaft mit allen EU-Mitgliedstaaten. Dies spiegelte sich in den Bemühungen der Ukraine wider, einen intensiven Dialog mit Budapest über Fragen nationaler Minderheiten zu führen. Ungarn hat jedoch seine Rhetorik gegenüber der Ukraine zunehmend verschärft, konzentriert sich weniger auf bilaterale Anliegen und nimmt eine eher obstruktive Haltung gegenüber den EU-Bestrebungen der Ukraine ein.
… und die Suche nach kreativen Antworten
Nachdem Orbán dem Rat die Genehmigung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Jahr 2023 erteilt hatte, wies er darauf hin, dass die ungarische Regierung noch „etwa 75 Gelegenheiten“ habe, „diesen Prozess zu stoppen“. Damit nahm er Bezug auf die Abstimmungen über die Eröffnung und den Abschluss der mehr als 30 Verhandlungskapitel. Es scheint, dass Budapest nun diese Drohung wahr macht und die Aufnahme der Verhandlungen über Cluster 1 blockiert.
Die EU steht vor einem ernsthaften Dilemma: Entweder muss sie 75 separate „kreative” Lösungen finden, um Ungarn davon zu überzeugen, den Beitritt der Ukraine nicht zu blockieren, oder sie muss einen nachhaltigen Mechanismus finden, mit dem dasselbe erreicht werden kann. Der erste Weg würde erhebliche Investitionen in institutionelle Ressourcen, Zeit und manchmal auch finanzielle Anreize erfordern.
Dies könnte für die EU der richtige Zeitpunkt sein, bestimmte technische Verfahren im Beitrittsprozess zu überprüfen. Es sollte nicht notwendig sein, dass alle EU-Mitgliedstaaten die Eröffnung jedes einzelnen Verhandlungspakets oder Kapitels genehmigen müssen. Dabei handelt es sich weitgehend um technische Schritte, die sich an spezifischen Indikatoren und messbaren Fortschritten orientieren. Die Forderung nach einstimmiger Zustimmung ermöglicht eine „Bilateralisierung“ des Beitrittsprozesses, d. h. ein einzelner Mitgliedstaat kann politisch motivierte Hindernisse in den Prozess einbauen, mit dem Ergebnis, dass die innenpolitischen Interessen dieses Staates die gemeinsame Agenda verzerren können. Dies untergräbt die Glaubwürdigkeit und Effizienz der EU.
Angesichts all dessen werden die Rufe nach einer Aktivierung von Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union immer lauter. Dieser Mechanismus ermöglicht die Aussetzung bestimmter Rechte eines Mitgliedstaats. Es könnte jedoch unmöglich sein, die für diesen Schritt erforderliche Einstimmigkeit zu erreichen, da Ungarn durchaus Verbündete finden könnte, um dieses Szenario zu verhindern.
Bitte keine ad-hoc-Lösungen!
So verschwendet die EU weiterhin Zeit und Ressourcen für die Bewältigung interner Hindernisse, um ihre Erweiterungsagenda am Leben zu erhalten. Ein kürzlich vorgebrachter ad-hoc-Vorschlag sah vor, die Beitrittsprozesse der Ukraine und Moldau zu „entkoppeln“ und Verhandlungen nur mit Chișinău aufzunehmen. Dieser Vorschlag wurde von der Ukraine scharf kritisiert. Aus der Sicht Kyivs wäre ein solcher Schritt zutiefst unfair und käme einer Bestrafung eines Beitrittskandidaten für das Fehlverhalten eines bestehenden Mitgliedstaates gleich. In einem solchen Fall sollte nicht das Beitrittskandidatenland, sondern das bestehende Mitgliedstaat mit Auflagen belegt werden. Eine separate Fortsetzung des Beitrittsprozesses Moldau würde die Isolation der Ukraine verstärken. Genau das ist das Ziel Ungarns, wenn es eine Erweiterung ohne die Ukraine befürwortet. In diesem Punkt stimmen die Interessen Ungarns und Russlands überein.
Die Blockade des EU-Beitritts der Ukraine könnte die Motivation der Ukrainer für interne Reformen und ihre Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit anderen Beitrittskandidaten zur Erzielung gemeinsamer Fortschritte verringern. Die Auswirkungen würden somit weit über die Ukraine und ihre Beziehungen zur EU hinausreichen: Die Ukraine war die treibende Kraft des Erweiterungsprozesses. Ihre Isolation könnte die Sicherheitsinteressen der EU insgesamt gefährden und letztlich den Gegnern der EU in die Hände spielen.
Der Beitritt zur Europäischen Union ist ein Eckpfeiler der Pläne der Ukraine für den Wiederaufbau nach dem Krieg und eine wichtige Garantie für langfristige Stabilität. Das Vorgehen Ungarns untergräbt diese wichtigen Ziele.
Eine aktive ukrainische Zivilgesellschaft braucht Unterstützung
Künstliche Verzögerungen des Erweiterungsprozesses könnten die EU in den Augen der Bürger der Kandidatenländer diskreditieren. Das Zeitfenster für Reformen wird sich allmählich schließen, während Stimmen, die die Propaganda Russlands verstärken lauter werden, wie etwa das gesetzte Narrativ „Die EU will die Ukraine nicht“. Korrupte Eliten in den Kandidatenländern würden ein solches Ergebnis zusammen mit dem Kreml begrüßen.
Die Ukraine sucht nach einer Chance, um zu beweisen, dass sie eine Erfolgsgeschichte der demokratischen Transformation werden kann. Daher wären die Folgen, ihr diese Chance gleich zu Beginn ihres Weges zu verweigern, besonders schädlich und gefährlich. Eine Blockade oder unnötige Verzögerung des EU-Beitrittsprozesses der Ukraine könnte weitreichende negative Folgen haben. Eine Untergrabung der Erweiterung würde Europa schwächen und denjenigen einen Sieg bescheren, die an einem Niedergang der EU interessiert sind.
Trotz der schweren Belastungen durch die russische Aggression setzt die Ukraine die notwendigen Reformen auf ihrem Weg zur EU-Mitgliedschaft fort. Die ukrainische Zivilgesellschaft, die eine wichtige Rolle dabei spielt, ihre Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, ist weiterhin offen für eine enge Zusammenarbeit mit den Akteuren der EU, um den Erfolg der Ukraine sicherzustellen.
Nichtstaatliche Experten sind in jeder Phase des Beitrittsprozesses aktiv beteiligt: von der Vorbereitung von Dokumenten über die Teilnahme an Entscheidungsdiskussionen bis hin zur unabhängigen Bewertung der Reformfortschritte. Viele dieser Experten sind offiziell in Verhandlungsarbeitsgruppen vertreten, die für die einzelnen Kapitel des EU-Beitrittsprozesses zuständig sind.
Ukrainische Nichtregierungsorganisationen unterstützen weiterhin aktiv die europäische Integrationsagenda, obwohl sie von der Entscheidung der USA, alle Hilfen für die Ukraine einzustellen, erheblich betroffen sind. In diesem Zusammenhang könnte zusätzliche Unterstützung durch die EU erforderlich sein, um die unabhängige Expertise der Ukraine zu stärken.
Die beste Garantie dafür, dass die Ukraine nicht von ihrer Reformagenda abweicht, ist die Regel, dass die EU alle Akteure – nicht nur die Kandidatenländer – an hohen Standards misst. Die EU muss ernsthaft die langfristigen Risiken berücksichtigen, die sich daraus ergeben, dass einzelne Mitgliedstaaten Verfahrensregeln und ihren privilegierten Status in der Union der entwickelten Demokratien missbrauchen können.
Handlungsempfehlungen für die EU bzw. Deutschland:
- Die EU sollte nachhaltige und klare Verfahren einführen, die eine Manipulation des Beitrittsprozesses verhindern. Deutschland und andere Mitgliedstaaten sollten mögliche Änderungen der Entscheidungsfindung im Beitrittsprozess prüfen, um zu verhindern, dass ein einzelner Staat (oder eine sichtbare Minderheit von Staaten) den Übergang von einer technischen Verfahrensstufe zur nächsten blockieren kann.
- Erwägung der Aktivierung von Artikel 7 als letztes Mittel. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die EU in dieser Frage Einstimmigkeit erzielen wird, sollte dieser Mechanismus in den Diskussionen der EU nicht völlig unerwähnt bleiben. Deutschland kann Möglichkeiten prüfen, wie es Einfluss auf solche Mitgliedstaaten nehmen kann, die EU-Verfahren missbrauchen und grundlegende EU-Werte missachten. Indem die EU die derzeitige Vorgehensweise Ungarns ignoriert, läuft sie Gefahr, andere Mitgliedstaaten zu ermutigen, EU-Verfahren in ähnlicher Weise zu missbrauchen.
- Solidarität gegen politisch motivierte Blockaden wahren. Deutschland sollte sich an der Spitze der Bemühungen befinden, um Versuche von Mitgliedstaaten, die den EU-Beitritt der Ukraine ohne triftigen Grund zu blockieren, zu bekämpfen.
- Ablehnung des Vorschlags, den Beitrittsprozess der Ukraine von dem anderer Beitrittskandidaten zu entkoppeln. Eine Entkopplung des Prozesses der Ukraine von der Republik Moldau oder anderer Beitrittskandidaten würde die Ukraine unfairerweise für interne EU-Streitigkeiten bestrafen, auf die sie keinen Einfluss hat. Die Erweiterungspolitik muss auf fairen und einheitlichen Grundsätzen beruhen.
- Technische Verfahren sollten nicht politisiert werden. Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten sollten die Bemühungen der Ukraine um einen beschleunigten Beitrittsprozess aktiv unterstützen, unter anderem durch die Eröffnung aller sechs Verhandlungspakete bis Ende dieses Jahres. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Eröffnung des Pakets 1 (Grundlagen) ohne Verzögerung erfolgt, da die Ukraine bereits alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt hat. Die Eröffnung der Pakete sollte ein zügiger und technischer Prozess sein, während eine stärkere politische Aufmerksamkeit der EU in der Phase des Paketabschlusses logischer wäre.
- Gewährleistung eines leistungsorientierten Beitrittsprozesses. Anstelle einer Sonderbehandlung fordert die Ukraine eine faire und transparente Bewertung ihrer Reformbemühungen. Politisch motivierte Hindernisse würden das Vertrauen in die EU untergraben.
- Unterstützung der ukrainischen Zivilgesellschaft. Die Unterstützung der ukrainischen Zivilgesellschaft und nichtstaatlicher Experten durch die EU und ihr Engagement für diese spielen eine entscheidende Rolle, damit sie ihre Regierung zur Rechenschaft ziehen und Reformen vorantreiben können. Die Mitgliedstaaten sollten sich für die Stärkung der unabhängigen Expertise der Ukraine einsetzen und zusätzliche Unterstützung leisten, um eine transparente Überwachung und eine nachhaltige Reformdynamik zu gewährleisten.
- Bekämpfung der antiwestlichen Desinformation und Stärkung der Europäisierungsnarrative in der Ukraine. Deutschland und seine Partner sollten der russischen Propaganda und Desinformation, die die Unterstützung für den Beitritt und die Reformbemühungen der Ukraine untergraben, aktiv entgegenwirken, indem sie die Botschaft bekräftigen, dass Europa fest an der Seite der Ukraine steht.
[1] Ukrainska Pravda, „Die Hälfte der Cluster für den EU-Beitritt der Ukraine bereits geprüft, sagt die EU“, 23. April 2025. https://www.pravda.com.ua/eng/news/2025/04/23/7508856/
[2] The European Integration, „Ukraine hat EU-Prüfung im Rahmen von Cluster 3 erfolgreich abgeschlossen“, 6. Juni 2025. https://eu-ua.kmu.gov.ua/news/ukrayina-uspishno-zavershyla-skryning-z-yes-za-klasterom-3-konkurentospromozhnist-ta-inklyuzyvnyj-rozvytok/
[3] Interfax-Ukraine, „Ukraine hat alle notwendigen Voraussetzungen für die Eröffnung des ersten Verhandlungsclusters für den EU-Beitritt erfüllt – Stefanishyna”, 15. Mai 2025. https://ua.interfax.com.ua/news/general/1071921.html
[4] European Pravda, „EU zu den Beitrittsgesprächen mit der Ukraine: Die Hälfte der Cluster für den EU-Beitritt der Ukraine bereits geprüft“, 23. April 2025. https://www.eurointegration.com.ua/eng/news/2025/04/23/7210106/
[5] European Pravda, „Wichtiges Verhandlungskapitel mit der EU: Welche Reformen muss die Ukraine umsetzen?“, Ivan Nahorniak, Maria Shalamberidze, 18. März 2025. https://www.eurointegration.com.ua/articles/2025/03/18/7207364/
[6] KIIS, „Dimensionen der Einstellungen gegenüber der EU und der NATO sowie der Einstellungen gegenüber den USA“, 14. Januar 2025. https://kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1468
[7] New Europe Center, „Außenpolitik und Sicherheit. Meinungen der ukrainischen Gesellschaft”, 10. Dezember 2024. https://neweurope.org.ua/en/analytics/zovnishnya-polityka-i-bezpeka-nastroyi-ukrayinskogo-suspilstva/
[8] ebenda
[9] The Guardian, „Orbáns Haltung zur Ukraine bringt Ungarn an den Rand der EU-Beziehungen”, 19. April 2025. https://www.theguardian.com/world/2025/apr/19/orban-ukraine-hungary-eu-relations-kyiv
[10] European Pravda, „Ungarn will Ukraine als Pufferzone zwischen Russland und EU“. 20. März 2025. https://www.eurointegration.com.ua/eng/news/2025/03/20/7207654/
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