Georgiens Sommer der Wut

© Shut­ter­stock

Seit die Staats­ge­walt im Juni Demons­tra­tionen brutal nieder­ge­schlagen hat, sind in Tbilisi Erin­ne­rungen an Zeiten wach geworden, die eigent­lich als über­wunden galten. Teil eins einer mehr­tei­ligen Serie über Georgien zwischen Olig­ar­chie, Oppo­si­tion und Orthodoxie.

Der Sommer geht zu Ende, aber es könnte ein heißer Herbst werden in Georgien. Oder auch genau das Gegenteil. Dann wäre die These bestätigt, dass man ein Volk müde regieren kann: Soeben wurde der fünfte Premier­mi­nister innerhalb von sieben Jahren ernannt. Zählt man die Minis­ter­wechsel, kommt man auf mehr als zwei Dutzend. Ein Scherz unter Diplo­maten geht so: „Was veraltet schneller als eine Tages­zei­tung?“ Antwort: „Die Visi­ten­karte eines Ministers in Georgien.“

Man kannte das Phänomen aus der Zeit unter Mikheil „Mischa“ Saakash­vili. Indes, während es bei ihm wohl eine Mischung aus Launen­haf­tig­keit und Führungs­schwäche war, muss man es im Fall von Bidzina Ivanish­vili, Oligarch, Gründer und Partei­vor­sit­zender der seit 2012 regie­renden Partei „Geor­gi­scher Traum“, wohl als eine Perso­nal­po­litik des Trial and Error verstehen. Niemand soll sich sicher sein, morgen noch seinen Posten inne­zu­haben. Vielmehr soll jeder wissen, dass nur einer im Land die Strippen zieht. Der Milli­ardär als Marionettenspieler.

Trotz dieser ständigen Fluk­tua­tion im Regie­rungs­ap­parat schien es, als machte Georgien – spätes­tens seit der Asso­zi­ie­rung an die EU 2014 – unum­kehr­bare Fort­schritte bei der poli­ti­schen Stabi­li­sie­rung und einer westlich orien­tierten Demo­kra­ti­sie­rung. In Brüssel und Washington war man zufrieden und gab sich entspannt. In Moskau hingegen und auch bei den konser­va­ti­veren und orthodox orien­tierten Teilen der geor­gi­schen Gesell­schaft wuchs die Nervosität.

Die Bruta­lität der Staats­ge­walt ist neu

In diesem Sommer nun hat eine Reihe von Ereig­nissen Georgien in seinen Grund­festen erschüt­tert und sichtbar gemacht, wie brüchig die Säulen in Wahrheit sind, auf denen die „demo­kra­ti­sche Ordnung“ und die „westlich-liberale Orien­tie­rung“ des Landes steht.

Am 20. Juni versam­melten sich binnen Stunden Zigtau­sende im Zentrum von Tbilisi, nachdem sich ein Abge­ord­neter der russi­schen Duma bei einer inter­na­tio­nalen Konferenz auf den Stuhl des geor­gi­schen Parla­ments­prä­si­denten gesetzt und von dort aus eine Rede gehalten hatte. Der Aufschrei des Volkes galt indes nicht nur dieser zynischen Geste und dem insgesamt respekt­losen Umgang Moskaus mit Georgien. Die Wut richtete sich auch gegen die eigene poli­ti­sche Führung, der immer mehr im Land Heuchelei und versteckte Koope­ra­tion mit Moskau unterstellen.

Als die Proteste eska­lierten und Demons­tranten versuchten, in das Parlament einzu­dringen, schlugen Spezi­al­ein­heiten der geor­gi­schen Polizei zurück. Nicht nur die Zahl der Verletzten – etwa 250, viele davon schwer, Dutzende mit blei­benden Schäden – ist ein Schock. Auch die Bruta­lität der Staats­ge­walt ist neu. Die Bilder, die von da an wochen­lang gesendet wurden, weckten Erin­ne­rungen, die man mit der Abwahl der Regierung Saakash­vili ein für alle Mal über­wunden glaubte.

Oppo­si­tio­nelle Medien sind geschwächt

Im Juli beendete dann ein Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Menschen­rechte einen jahre­langen Prozess um die Eigen­tü­mer­schaft des einfluss­reichsten oppo­si­tio­nellen TV-Senders im Land. Der Sender fiel an den Eigen­tümer zurück, von dem ihn Gefolgs­leute von „Mischa“ Saakash­vili einst erpresst und zu einem Propa­ganda-Kanal für „Mischas“ Politik gemacht hatten. Der Chef­re­dak­teur wurde entlassen und wenig später wegen Verun­treuung von Geldern des TV-Senders in Millio­nen­höhe angeklagt. Mit ihm ging, nahezu geschlossen, die Redaktionsmannschaft.

Zeit­gleich wurden straf­recht­liche Ermitt­lungen auch gegen den Gründer und Eigen­tümer eines weiteren oppo­si­tio­nellen TV-Senders („Pirveli“) einge­leitet. Zufall oder Strategie; rechtlich korrekt oder juris­tisch korrum­piert: Die Flügel der oppo­si­tio­nellen Medien im Land sind am Ende dieses Sommers gestutzt wie zuletzt, unter umge­kehrten Vorzei­chen, während der Regierung Saakashvili.

Der „Lari“ hat drama­tisch an Wert verloren

Auch der seit Monaten tobende Streit um das mit Abstand größte Wirt­schafts­pro­jekt Georgiens – der Bau eines Tief­see­ha­fens in Anaklia – erreichte im Sommer einen vorläu­figen Tiefpunkt. Zwei Top-Manager der haupt­fi­nan­zie­renden TBC-Bank, Georgiens größtem Geld­in­stitut, wurden verhaftet. Der Vorwurf: Geld­wä­sche in zwei­stel­liger Millionen-Dollar-Höhe. Gegen Kaution kamen die beiden Top-Banker vorerst frei; ihre Reise­pässe bleiben eingezogen.

Kritiker der Regierung vermuten auch hinter diesem Vorgang Bidzina Ivanish­vili und seine Getreuen. Denn aus bislang unklaren Gründen fiel das Projekt „Anaklia Deep-Sea-Harbour“ während der Amtszeit des mitt­ler­weile vorletzten Premier­mi­nis­ters, Giorgi Kviri­ka­sh­vili, bei Ivanishvil in Ungnade und dürfte zudem einer der nach wie vor ominösen Gründe für Kviri­ka­sh­vilis über­ra­schende Abbe­ru­fung gewesen sein.

Mit allen verfüg­baren Mitteln und stei­gender Vehemenz hat der macht­ha­bende Oligarch das Tief­see­hafen-Projekt in den letzten Jahren unter­mi­niert. Oder, wie manche sagen: „sturmreif“ schießen lassen. Sie sehen auch in dem jüngst vermel­deten Rückzug des US-ameri­ka­ni­schen Haupt-Partners weniger eine Gefahr für das Gesamt­pro­jekt, als vielmehr einen mit Ivanish­vili abge­stimmten Schachzug, um das Projekt von der TBC-Bank weg und in die Hände seiner eigenen Bank zu lotsen.

Die Währung des Landes, der Geor­gi­sche Lari (GEL), hat seit dem Ausbruch der Unruhen im Juni um zehn Prozent an Wert verloren und mitt­ler­weile einen histo­ri­schen Tiefstand erreicht. Für Import­waren bedeutet das eine erheb­liche Verteue­rung – und Georgien lebt vom Import. Folgt man Experten, ist ein weiterer Verfall der Landes­wäh­rung kaum aufzu­halten, ange­sichts einer mühsam schön­ge­re­deten, tatsäch­lich wenig ermu­ti­genden Wirt­schafts­lage und einer in der Theorie zwar exis­tie­renden, in der Praxis aber nur unzu­läng­lich umge­setzten Wirt­schafts­po­litik. Wobei es keines­wegs nur Verlierer dieser Entwick­lung gibt: Analysten zufolge soll das Privat­ver­mögen von Bidzina Ivanish­vili im Laufe dieses Sommers um bis zu 60 Millionen US-Dollar gewachsen sein.

Der neue Innen­mi­nister ist das Feinbild der Opposition

Im September trat schließ­lich der als wenig charis­ma­tisch geltende Premier­mi­nister Mamuka Bakhtadze nach knapp einem Jahr im Amt zurück. Er habe seine Aufgabe erfüllt, befand er zum Abschied in einem Facebook-Post. Auf den schwachen Bakhtadze folgt ausge­rechnet der Mann, der als Innen­mi­nister verant­wort­lich war für den Poli­zei­ein­satz am Abend des 20. Juni – und damit zum Feindbild für die gesamte Oppo­si­tion in Georgien geworden war: Giorgi Gakharia. Weil Gakharia zudem in Russland studiert hat und dort viele Jahre beruflich tätig war, versucht die Oppo­si­tion ihn als dubiosen, Moskau-hörigen Verräter darzu­stellen. Dass er als hoch­ran­giger Manager für die Lufthansa tätig war, wird dabei verschwiegen.

Gleich­wohl: Aus der Sicht vieler – und keines­wegs nur regie­rungs­kri­ti­scher Beob­achter – wagt der alles beherr­schende Oligarch Ivanish­vili mit dieser Entschei­dung eine Kampf­an­sage, die kaum deut­li­cher ausfallen könnte. Bei der formellen Anhörung, die seiner Wahl zum Premier­mi­nister durch das Parlament voraus­ging, wurde Gakharia den Erwar­tungen seines Mentors bereits gerecht. An die Oppo­si­tion gewandt, sagte er: „Ich werde dafür sorgen, dass ihr spätes­tens nach den Wahlen 2020 verschwunden und vergessen seid.“

Die Proteste gegen die Ernennung Gakharias zum neuen Premier­mi­nister, zu denen die Oppo­si­ti­ons­par­teien aufge­rufen hatten, fielen aber kaum wahr­nehmbar aus. Das sollte aller­dings nicht über die tiefen Gräben hinweg­täu­schen, die im Laufe dieses Sommers aufge­rissen sind. Und auch nicht über die Spreng­kraft, die hinter der Vielzahl persön­li­cher Fehden, poli­ti­scher Macht­kämpfe und immer weiter ausein­ander drif­tenden gesell­schaft­li­chen Wert­vor­stel­lungen steckt. Auch die georgisch-orthodoxe Kirche hat in diesem Sommer erneut gezeigt, dass sie nicht vorhat, sich einer weiteren Ausrich­tung des Landes gen Westen unter­zu­ordnen. Einiges spricht sogar dafür, dass sie es war, die mit einer von langer Hand vorbe­rei­teten Intrige die Ereig­nisse des 20. Juni in Gang gesetzt hat.

Georgien ist ein kleines Land und mag weit entfernt vom Zentrum Europas liegen: Seine stra­te­gi­sche Bedeutung am Schwarzen Meer, als Nachbar einer ganzen Reihe von Konflikt­re­gionen (Russland, Tsche­tsche­nien, Türkei, Azerbajan, Armenien), wird von Russland erkannt und sollte vom Westen nicht unter­schätzt werden.

Textende

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