Auch in Russland hatte Hitler zahlreiche willige Helfer
Dass es im 2. Weltkrieg nicht nur eine ukrainische, sondern auch eine breite russische NS-Kollaboration gab, passt nicht in Putins Propagandabild. Verschwiegen wird auch das Ausmaß sowjetischer Komplizenschaft mit Hitler 1939–41.
In der Propagandaschlacht um die Ukraine ist oft von der großen Zahl ukrainischer Kollaborateure die Rede, die sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg den Invasoren anschlossen und sich an NS-Vernichtungsaktionen vor allem gegen die jüdische Bevölkerung beteiligten.
An dieser schaurigen Bilanz gibt es in der Tat nichts zu minimieren oder zu relativieren – so wenig wie an der Tatsache, dass ukrainische Nationalisten im Windschatten der deutschen Invasion aus eigenem Antrieb Gräueltaten gegen Juden und Polen begingen. Doch ist auch in der westlichen Öffentlichkeit der irrige Eindruck verbreitet, die Mehrheit der Ukrainer oder gar die Ukraine als solche sei mit Nazideutschland im Bunde gewesen. Geschürt wird er durch die Propaganda des Putin-Regimes, das die Geschichtslegende vom makellosen sowjetischen Antifaschismus wiederbelebt und seine Aggression gegen die Ukraine als Fortsetzung des Kampfes gegen die NS-Barbarei erscheinen lassen will.
Gemäß dem Diktum Wladimir Putins, bei der Sowjetunion habe es sich um „das historische Russland unter anderem Namen“ gehandelt, beansprucht Moskau die Tradition des Großen Vaterländischen Krieges gegen die NS-Okkupation für die russische Nation. Die Kräfte, die damals für eine unabhängige Ukraine eintraten, werden demgegenüber pauschal als „Nationalisten“ und „Faschisten“ – in der Kremlterminologie austauschbare Vokabeln – gebrandmarkt und der NS-Ideologie zugeschlagen. Unabhängigkeitsbewegungen wie die ukrainische, die sich heute dem Vorherrschaftsanspruch Moskaus widersetzen, sollen demgemäß mit der Suggestion diskreditiert werden, sie stünden in der Kontinuität der NS-Kollaboration.
Allerdings gibt es auch in der Ukraine bedenkliche Tendenzen zu einer die eigene Vergangenheit glättenden, verordneten Geschichtspolitik. Ein jüngst verabschiedetes Gesetz stellt nicht nur das Zeigen kommunistischer und nationalsozialistischer Symbole unter Strafe, sondern – nach schwammigen Kriterien – auch eine überzeichnend negative Darstellung ukrainischer nationalistischer Organisationen im Zweiten Weltkrieg.
In Wirklichkeit aber hat die Ukraine neben Weißrussland von allen Nationalitäten der Sowjetunion am schlimmsten unter der Terrorherrschaft der nationalsozialistischen Besatzer gelitten. Das ukrainische Territorium war wie das weißrussische zu 100 Prozent besetzt, das Gebiet des heutigen Russlands zu etwa zehn Prozent. Weit davon entfernt, von der NS-Führung als eine verbündete Nation betrachtet zu werden, galt ihr die Ukraine als Objekt rücksichtsloser Ausplünderung und Ausbeutung.
Wie die Russen wurden auch die Ukrainer der NS-Rassenideologie gemäß als „slawische Untermenschen“ eingestuft, die entweder zur Vernichtung oder Versklavung vorgesehen waren. NS-Führer wie Hermann Göring erwogen gar, jeden Ukrainer über 15 Jahre töten zu lassen. Tatsächlich wurden Millionen ukrainische Zivilisten von den Deutschen ermordet, dem Hungertod preisgegeben, in Konzentrationslager gesperrt oder zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. „Im Laufe des Krieges“, schreibt der Historiker Richard Overy, „lieferte die Ukraine mehr als vier Fünftel aller Zwangsarbeiter aus dem Osten.“ Diese Verbrechen betrafen wohlgemerkt die nichtjüdische Bevölkerung der Ukraine. Nicht eingerechnet sind darin die 1,5 Millionen ukrainischen Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Hunderttausenden ukrainischen Kollaborateuren stehen ungefähr drei Millionen ukrainische Soldaten gegenüber, die in den Reihen der Roten Armee gefallen sind. Etwa 250.000 Ukrainer kämpften zudem in den Streitkräften der Westalliierten. Ukrainische Nationalisten bekriegten mal zusammen mit den Deutschen die Sowjets, dann wiederum die NS-Besatzer, und wurden ihrerseits von diesen unbarmherzig verfolgt.
So sehr aber die wirkliche Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg von der Kremlpropaganda verfälscht wird, so konsequent lässt sie die Tatsache aus, dass es ebenso eine umfangreiche russische Kollaboration gegeben hat. Im Westen Russlands, rund um die Stadt Lokot, ließ die deutsche Besatzungsmacht im Spätherbst 1941 sogar die Einrichtung eines „Selbstverwaltungsbezirks“ unter selbstständiger russischer Verwaltung und mit eigenen russischen Polizeikräften zu. Seit Januar 1942 wurde diese „Republik Lokot“ von dem Kollaborateur Bronislaw Kaminski geführt, in dessen ausgedehntem Machtbereich 1,7 Millionen Einwohner lebten. Seine „Selbstverteidigungsmiliz“ bekämpfte mit extremer Brutalität sowjetische Partisanen, bis sie angesichts der vorrückenden Roten Armee im Herbst 1943 das Gebiet räumen musste und von den Deutschen nach Weißrussland evakuiert wurde. Auch dort wütete sie unter dem Vorwand der „Partisanenbekämpfung“ grausam gegen die Zivilbevölkerung.
Im Westen, Belgien / Frankreich.- Sowjetische Freiwillige der Russischen Befreiungsarmee (Wlassow-Armee); PK 698
Auf Befehl Heinrich Himmlers kam die „Kaminski-Brigade“ schließlich bei der Niederschlagung des von der polnischen Heimatarmee organisierten Warschauer Aufstands im August und September 1944 zum Einsatz. Nach dem Ende der Kämpfe wurde die überlebende Warschauer Bevölkerung vertrieben und die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichgemacht. Die Schergen Kaminskis massakrierten und plünderten dabei derart exzessiv, dass dies sogar deutschen Stellen unangenehm aufstieß. Aus nicht ganz geklärten Gründen wurde Kaminski schließlich von der SS hingerichtet. Dies geschah gewiss nicht aus humanitären Erwägungen. Eher ist wahrscheinlich, dass sich Kaminski an Beute vergriffen hatte, die von der SS selbst beansprucht wurde.
Die Reste der „Kaminski-Brigade“ wurden nun in die sogenannte Russische Befreiungsarmee (ROA) des ehemaligen sowjetischen Generals Andrej Wlassow eingegliedert. Wlassow, der sich 1941 noch bei der Verteidigungsschlacht der Roten Armee um Moskau hervorgetan hatte und als Günstling Stalins galt, geriet im Juli 1942 bei Leningrad in deutsche Gefangenschaft. Dort bot er den Deutschen an, unter russischen Kriegsgefangenen und antisowjetischen Kräften in den besetzten Gebieten Kämpfer für eine russisch-nationalistische Streitmacht zu rekrutieren. Tatsächlich kam es im Dezember 1942 in Smolensk zur Gründung eines „Russischen Befreiungskomitees“ durch den inzwischen freigelassenen Wlassow. Hitler persönlich hegte jedoch eine grundsätzliche Abneigung dagegen, „minderrassige“ Slawen in den deutschen Reihen Krieg führen zu lassen. So ließ er erst im September 1944 zu, dass Wlassow eine Truppe mit zehn Grenadierdivisionen, einem Panzerverband und eigenen Luftstreitkräften aufstellen und aufseiten der Wehrmacht zum Einsatz bringen konnte.
Kurz vor Kriegsende wechselte Wlassows Kollaborateurstruppe aber noch einmal die Seiten. Anfang Mai 1945 brach in Prag ein Aufstand zur Befreiung von der noch immer anhaltenden deutschen Okkupation aus. Als die Waffen-SS ihn niederschlagen wollte, wendeten sich die etwa 20.000 Mann der Wlassow-Armee, die an der Seite der Deutschen den sowjetischen Vormarsch aufhalten sollte, gegen sie. Offenbar spekulierten sie darauf, sich so den Amerikanern empfehlen zu können, die soeben Pilsen eingenommen hatten.
Vor dem Eintreffen der Roten Armee in Prag setzten sich die Wlassow-Leute in Richtung der amerikanischen Linien ab – in der absurden Hoffnung, von diesen womöglich zwecks eines Einsatzes in einer kommenden Konfrontation mit der Sowjetunion aufgenommen zu werden. Doch sie fielen der Roten Armee in die Hände. Im August 1946 wurde Wlassow in der Sowjetunion nach schweren Folterungen in einem Geheimverfahren zum Tode verurteilt und gehängt.
Doch nicht nur auf militärischem, sondern auch auf ideologischem Gebiet fanden sich zahlreiche russische Helfer, die sich für die Zwecke der NS-Besatzer einspannen ließen. So durfte eine „Orthodoxe Mission in den befreiten Gebieten Russlands“ in Zeitschriften wie „Der Rechtgläubige Christ“ und im Radio ihre Botschaft an „die russischen Patrioten“ verbreiten, „mit allen Mitteln bei der Vernichtung der Früchte und Wurzeln des Kommunismus“ zu helfen. Bei der Zeitung „Für die Heimat“ im nordwestrussischen Pskow versammelten sich ehemals linientreue KPdSU-Journalisten, um die Nationalsozialisten als Befreier Russlands darzustellen. In dem Blatt veröffentlichte etwa der Metropolit Sergej seine Fürbitte: „Wir beten zum Allmächtigen, dass er auch weiterhin Adolf Hitler Kraft und Stärke gibt für den Endsieg über den Bolschewismus.“
Die weitreichendste und folgenschwerste Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland hatte es jedoch bereits von August 1939 bis Juni 1941 gegeben – und zwar vonseiten des sowjetischen Regimes selbst. Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 agierte Moskau faktisch als Verbündeter des NS-Regimes und seines Krieges. In geheimen Zusatzprotokollen teilten die beiden totalitären Regime ihre Einflusssphären untereinander auf. Dem Einmarsch der Wehrmacht in Westpolen am 1. September 1939 folgte am 17. September die Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee. Am 22. September hielten die beiden Okkupationsarmeen in Brest-Litowsk eine gemeinsame Siegesparade ab. In einem Militärprotokoll bot das Kommando der Roten Arme der Wehrmacht an, auf Anforderung Hilfeleistungen „zwecks Vernichtung polnischer Truppenteile und Banden“ zu erbringen.
Entgegen der – mit Berlin abgesprochenen – Moskauer Propagandalüge, die Rote Armee falle zum Schutz der dortigen Bevölkerung vor den vorrückenden Deutschen nach Ostpolen ein, wüteten die sowjetischen Truppen und Spezialeinheiten dort mit systematischem Terror wie Massenhinrichtungen und Deportationen in Konzentrationslager gegen die Überreste der polnischen Armee und die polnischen Eliten, gegen Grundbesitzer und andere potenzielle Gegner der kommunistischen Gleichschaltung.
Das stalinistische Regime wurde nun auch, wie Richard Overy formuliert, „zum Komplizen des deutschen Antisemitismus“. Viele der Tausenden polnischen Juden, die im sowjetischen Besatzungsgebiet vor der NS-Verfolgung Zuflucht suchten, wurden zurückgewiesen, woraufhin sie deutsche Grenzposten unter Feuer nahmen. Andere ins sowjetische Gebiet geflohene Juden wurden verhaftet und in Arbeitslager deportiert. Darüber hinaus zerstörten die Sowjets in Ostpolen von sich aus die Lebenswelt des jüdischen Schtetl, schlossen unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Religion Synagogen ebenso wie kleine Handwerksbetriebe und Marktstände, die das Rückgrat jüdischen Wirtschaftslebens bildeten. Sabbat und jüdische Feste wurden abgeschafft.
Durch die Absetzung seines jüdischen Außenministers Maxim Litwinow hatte Stalin Hitler bereits im Frühjahr 1939 das erste Signal für seine Verständigungsbereitschaft gegeben. Mit der systematischen Judenvernichtung durch die Nazis hält die antisemitische Politik der Sowjets indes keinen Vergleich aus. Doch war die Tatsache, dass schon im von den Deutschen besetzten Polen der organisierte NS-Judenmord begann, für Moskau kein Hinderungsgrund, mit ihrem deutschen Gegenüber eine „deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft“ zu bilden, wie dies der Historiker Daniel Koerfer nennt.
Erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion änderte Stalin scheinbar seine antijüdische Haltung, ließ inhaftierte Juden frei und gestattete ihnen die Abhaltung antinazistischer Kundgebungen. Als zwei ihrer Organisatoren jedoch die Gründung eines internationalen jüdischen Bündnisses gegen Hitler initiieren wollten, ließ sie Stalin vom NKWD aus dem Verkehr ziehen. Einer von ihnen beging im Mai 1942 in der Haft Selbstmord, der andere wurde ein knappes Jahr später liquidiert. Stalin rief stattdessen ein der staatlichen Propagandabehörde unterstelltes Jüdisches Antifaschistisches Komitee ins Leben, um sich vor der Weltmeinung auf diese Weise den Nimbus eines Vorkämpfers gegen Antisemitismus zu verschaffen.
Es ist nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg zur ‚Vernichtung des Hitlerismus‘ zu führen, getarnt als Kampf für die Demokratie.
Dies war er in Wahrheit ebenso wenig, wie das Sowjetregime den ihm von Hitler aufgezwungenen Krieg gegen den Nationalsozialismus aus hehren humanistischen Motiven führte. Bis zum Überfall auf die Sowjetunion half Moskau, die deutsche Kriegsmaschinerie durch massive Rohstofflieferungen wie mittels militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit am Laufen zu halten. Aber auch ideologisch schlug sich der Kreml auf die Seite des NS-Regimes. Die Propaganda gegen den „Hitler-Faschismus“ wurde eingestellt und es wurden stattdessen die Westmächte für den Krieg verantwortlich gemacht. So erklärte am 31. Oktober 1939 Außenminister Molotow vor dem Obersten Sowjet, an die Adresse Englands und Frankreichs gewandt, es sei „nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg zur ‚Vernichtung des Hitlerismus‘ zu führen, getarnt als Kampf für die Demokratie“. Auch die kommunistischen Parteien im Westen mussten diese Kehrtwende befolgen. Hunderte deutsche und österreichische Kommunisten, die in die Sowjetunion geflohen waren, wurden an die Nazis ausgeliefert. Zum Sieg über Frankreich gratulierte Stalin der deutschen Regierung persönlich mit euphorischen Worten.
An die russische und sowjetische Kollaboration zu erinnern, schmälert in keiner Weise die Leiden der russischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg und die ungeheuren Opfer, die sie und die Sowjetarmee bei der Niederschlagung des Nationalsozialismus erbracht haben. Ebenso wenig relativiert es im Geringsten dessen beispiellose Menschheitsverbrechen. Doch gilt es, der unter großrussisch-völkischen Vorzeichen erneuerten sowjetischen Geschichtspropaganda entgegenzutreten, die diesen Teil der Historie manipulativ aus dem Gedächtnis löschen will. Wobei es zu aberwitzigen Erscheinungen kommt wie der, dass Führer der prorussischen „Volksrepubliken“ in der Ostukraine den „Kiewer Faschismus“ zu bekämpfen vorgeben, zugleich aber mit Insignien antibolschewistischer „weißer“ Truppen im Bürgerkrieg 1918–21 sowie mit Symbolen der Wlassow-Armee und der „Kaminski-Brigade“ posieren.
Die Kollaboration ist eine historische Bürde, an der alle einst vom nationalsozialistischen Deutschland unterjochten Nationen in Ost und West mehr oder weniger schwer zu tragen haben. Sie eignet sich nicht zur Instrumentalisierung in aktuellen politischen Konflikten – und schon gar nicht zur Begründung imperialer Vormachtansprüche, wie sie das heutige russische Regime gegenüber benachbarten Staaten erhebt.
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