Im Interview mit Elif Özmen über ihr neues Buch „Was ist Liberalismus”
Hat der Liberalismus nur im Westen Gültigkeit? Was sind seine Stärken, wer seine Gegner? Der Liberalismus als Lebensform für eine offene, zur Korrektur fähige demokratische Gesellschaft, Till Schmidt sprach mit der Philosophin Elif Özmen über ihr neues Buch „Was ist Liberalismus?“.
Elif Özmen ist Professorin für Praktische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihr neues Buch „Was ist Liberalismus?“ ist bei Suhrkamp erschienen. Gegen die allzu geläufigen Gemeinplätze und Krisendiskurse über den Liberalismus positioniert sich das Buch Elif Özmens mit einer systematischen Darstellung seiner philosophischen Grundlagen, normativen Architekturen und aktuellen Kontroversen.
In ihrem Buch bezeichnen Sie die liberale Demokratie als die „schlechteste Regierungs- und Lebensform, abgesehen von allen anderen.“ Was genau meinen Sie damit?
Mit diesem leicht umformulierten Zitat von Winston Churchill möchte ich mehrere Dinge hervorheben. Zunächst, dass die Philosophie der liberalen Demokratie, wie sie sich nach 1945 etabliert hat, dezidiert bescheiden auftritt. Das heißt, es geht ihr nicht um die „beste“ Verfassung, das Gute oder die eine, absolute Wahrheit oder Moral der Geschichte.
Im Mittelpunkt der Theorie und auch der Praxis des Liberalismus stehen vielmehr banale, aber elementare Dinge wie die Sicherung von Freiheitsrechten und von politischer Partizipation für alle. Der Satz impliziert darüber hinaus, dass der Liberalismus in der Realität mit Zumutungen verbunden sein kann, auch mit Ungerechtigkeiten, Rechtsverletzungen, Amtsanmaßungen. Dahinter sehe ich auch ein bestimmtes Plädoyer für politische Wachsamkeit.
Zudem verweist das Zitat darauf, dass sich der Liberalismus nicht an sich, sondern immer nur im Vergleich mit den Alternativen als beste Option erweist. Und das muss man immer wieder argumentativ begründen, auch in Konfrontation mit den verschiedenen Kritiken und Krisen-Diagnosen. Eine weitere Dimension des Zitats ist der Liberalismus als Lebensform, welche uns die politisch-rechtliche Ordnung sowohl individuell als auch im Kollektiv ermöglicht. Zu der besonderen normativen Attraktivität des Liberalismus gehört, dass er uns als Einzelnen eine große Vielfalt an Lebensweisen freistellt und gesellschaftlichen Pluralismus befördert.
Am Ende ihres Buches schreiben Sie, dass im Liberalismus immer die Möglichkeit besteht, einen Anfang zu machen, das heißt, es auch besser zu machen. In anderen Worten: eine offene, demokratische Gesellschaft ist zur Korrektur fähig …
Das bezieht sich auf einen urliberalen Gedanken, den wir auch auf den Liberalismus als Lebensform beziehen können. Natürlich werden wir als soziale Wesen wesentlich durch unsere Umgebung, unsere Familien und sozialen Kontexte bestimmt. Aber zentral ist doch, dass das Individuum zugleich weder auf diese sozialen oder kommunitären Prägungen noch auf die selbst gewählten Identitäten reduziert werden kann und darf.
Der Einzelne ist auch immer frei, das alles hinter sich zu lassen und sich kurz darauf als jemand ganz anderes zu entwerfen. Oder es jedenfalls versuchen zu dürfen.Ein Beispiel: Die Religionsfreiheit beinhaltet immer auch die Möglichkeit einer Zurückweisung von Religion, etwa in Form von religiösen Zumutungen durch andere Menschen oder durch den Staat im öffentlichen Raum.
Aktuell steht der Liberalismus stark unter Beschuss. Nicht nur als Gegner im politischen Wettstreit um die beste Denktradition oder politische Praxis – sondern für manche auch als geradezu existentieller Feind. Inwieweit ist das Zerrbild, inwieweit betrifft es ganz zentrale normative Grundsätze des Liberalismus, die mit den Vorstellungen von Rechten, Islamisten und manchen Linken schlicht nicht kompatibel sind?
Es gibt tatsächlich eine Vielzahl von Zerrbildern, mitunter sogar innerhalb des liberalen Spektrums. Aber ich stimme Ihnen zu, dass es auch echte Gegner- oder Feindschaften gibt gegenüber liberalen Grundnormen. Zu diesen gehört vor allem der Gedanke eines Vorrangs der Freiheit. Demnach gibt es berechtigte Ansprüche jedes einzelnen Menschen gegenüber allen anderen, die in Form von liberalen Abwehrrechten – also kategorischen Grenzen für das, was andere mir antun oder zumuten dürfen – formuliert werden. Mit bestimmten kollektivistischen, etwa nationalistischen, völkischen oder auch kommunitaristischen politischen Theorien und Politiken, geht das nicht zusammen.
Der zweite Angriffspunkt ist das dezidiert antiautoritäre und antipopulistische Moment des Liberalismus, wegen dem er sich weder mit einem lauten oder grellen politischen Stil verträgt, noch mit politischem Antagonismus, also der Idee, dass sich Politik im Modus von Feindschaften und Spaltungen gestalten lässt. Die liberale Demokratie ist jederzeit dem Grundsatz der Zivilität verpflichtet, so dass wir in politischen Auseinandersetzungen zwar im Wettbewerb um verschiedene Ideen und politische Programme stehen, Gegner und Konkurrenten sein mögen, uns vielleicht sogar unerträglich finden, aber uns im Verhältnis als Bürger zueinander niemals als Feinde betrachten dürfen.
Drittens ergibt sich aus dem liberalen Prinzip des Individualismus eine starke Befürwortung des Pluralismus, der sich in Form einer Toleranzpflicht sowohl des Staates den Bürgern gegenüber äußert, aber auch als Toleranz, die von den Bürger:innen im Alltag gelebt werden muss. Auch das verträgt sich nicht mit den politischen Vorstellungen von Antiliberalen, die sich in der Ablehnung des Individualismus und Pluralismus erstaunlich einig sind.
Es ist mir wichtig zu betonen, dass der Liberalismus bestimmten Angriffen gegenüber nur kategorisch sein kann und nicht verständnisvoll, kompromisssuchend. Nämlich dann, wenn solche grundlegenden Normen zur Disposition stehen. Es gibt echte Unverträglichkeiten zwischen Liberalismus und seinen antiliberalen Verächtern.
Putin oder Erdogan bezeichnen den Liberalismus gerne als „westliches Phänomen“. Ist das nur eine manipulative Strategie, um autoritäre Politiken durchzusetzen?
Dass der Liberalismus ein westliches Phänomen sei, ist mit Blick auf seine Entstehungsgeschichte in Europa und Nordamerika erst Mal richtig. Aber diese Feststellung ist auch trivial, weil doch wirklich jede politische Theorie, Ethik oder soziale Bewegung in einem bestimmten historisch gesellschaftlichen Kontext entstanden ist.
Die Frage nach der normativen Geltung ist hingegen eine kategorisch andere als die nach der historischen Genese. Das angeblich westliche Modell der liberalen Regierungs- und Lebensform ist ja für viele Menschen unfassbar attraktiv. Für die offenen Verächter des Liberalismus ist aber charakteristisch, dass sie ihren eigenen Bevölkerungen das Recht zur individuellen und auch kollektiven Selbstbestimmung absprechen.
Autoritäre Herrscher fürchten die liberale Demokratie, die das politische Handeln durch Rechtsstaatsprinzipien und individuelle Freiheitsrechte einhegt: Und dadurch auch strikte Grenzen für staatliche Zwangsbefugnisse auferlegt. Überhaupt trägt der Liberalismus mit der gleichen Freiheit des Einzelnen ein kritisches, emanzipatorisches, ja revolutionäres Potenzial in sich; das kann autoritären Herrschern nicht gefallen.
Auch manche Postmoderne und Postkolonialisten weisen „den Liberalismus“ als „westlich“ zurück.
In der Tat. Doch bereits in den Texten der philosophischen Klassiker ab dem frühen 17. Jahrhundert finden wir den Gedanken, dass wir zur Beantwortung der Frage, ob und welcher Staat sein muss, von allen historischen, sozialen, politischen, geschlechtlichen, ökonomischen Eigenschaften und Prägungen absehen sollten. Es geht also nicht um den englischen Gentleman im Naturzustand, sondern um den Menschen, wie er von Natur aus ist – frei, gleich, rational – und unter welchen Regeln er mit anderen friedlich, sicher und gut zusammenleben kann. Damit vertritt der Liberalismus seit jeher eine universalistische Geltung seiner Normen.
Mit Blick auf die Realgeschichte des Liberalismus können wir aber nicht immer nur Erfolgsgeschichten erzählen. Die gibt es – die Schattenseiten aber ebenfalls. Ein Beispiel ist die Idee einer gleichen Freiheit für alle, wie sie dann in den großen Revolutionen ab dem 18. Jahrhundert erkämpft wurde. Faktisch meinte sie bis ins späte 19. Jahrhundert hinein jedoch nur die gleiche Freiheit von erwachsenen, wohlhabenden, unabhängigen „weißen“ Männern.
Die postkoloniale Perspektive betont zu Recht, dass Menschenrechte und Demokratie hier unheimlich gut zusammen gingen mit Sklaverei, Kolonialisierung, Ausbeutung, wirklich tiefsten moralischen Unrechtstaten dort. Deswegen glaube ich, dass etwa die postkoloniale Kritik am Liberalismus unumgänglich ist – nicht zuletzt, wenn man die Frage nach dem normativen Geltungsanspruch des Liberalismus und seiner Legitimität für die Gegenwart positiv beantworten will.
In den Sozial‑, Politik- und Geschichtswissenschaften spielen Emotionen als analytische Kategorie eine immer größere Rolle. Das betrifft im Moment besonders den Rechtspopulismus mit seinem demagogischen Politikstil. Welche Rolle spielen Emotionen in der Theorietradition des Liberalismus – für die politische Mobilisierung als auch in den Ideen selbst?
Ich habe den Eindruck, dass sich die politische Philosophie ganz grundsätzlich schwer tut mit Emotionen, jedenfalls gibt es wenige systematische Beiträge hierzu. Das gilt für den Liberalismus ebenso, wenn nicht vielleicht sogar ein bisschen mehr.
Warum das?
Zum einen könnte aus liberaler Perspektive ein Zuviel an Leidenschaft im Öffentlichen, also etwa im parlamentarischen Diskurs oder in der demokratischen Öffentlichkeit, als unfriedlich und unverständlich, tendenziell irrational, wohlmöglich als gefährlich und spalterisch begriffen werden. Das hängt mit der schon angesprochenen Skepsis gegenüber Antagonismus, Lautsprech und Vereinfachung zusammen.
Zum anderen spielt die Vernunft und das Überzeugtwerden durch Gründe in den liberalen Theorien eine zentrale Rolle. Schon die Legitimierung politischer Autorität kann ja nicht über Charisma, Überwältigung, Gehorsam oder Glauben erfolgen, sondern die Staatsgewalt muss gegenüber jedem freien Individuum rational begründet werden können. Dennoch muss man dem Nexus von Liberalismus und Emotionen in Zukunft wohl noch stärker nachgehen – auch als Person, die zutiefst affiziert ist von liberalen Ideen.
… als leidenschaftliche Denkerin für den Liberalismus!
An dem Gedanken, dass der Andere ein Mensch ist wie ich, dass wir gleich sind, entzündet sich eine Frage, die doch große Leidenschaft wecken kann: Warum hat ein anderer angeblich ein Recht, mich zu beherrschen? Für diese naheliegende und grundsätzliche Frage brauchen und möchten alle Menschen eine Antwort. Und jeder Mensch hat nicht nur das Recht, diese Frage zu stellen – sondern auch das Recht, eine verständliche und akzeptable Antwort darauf zu erhalten.
Den Bogen zu den Emotionen lässt sich vielleicht auch über die historischen liberalen Bewegungen spannen, die für ihre Ideen leidenschaftlich gegen tyrannische illegitime Autoritäten gekämpft haben.
Das stimmt. Für die Menschen in den Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert ist offensichtlich, dass sie mit großer Leidenschaft für die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gekämpft haben. Im 20. Jahrhundert ist das liberale Denken mit der strikten Ablehnung des Faschismus, Totalitarismus und des Stalinismus verbunden. Autoren wie Karl Popper oder Friedrich August von Hayek schreiben extrem Leidenschaftlich gegen diese antiliberalen, unmenschlichen Regierungen oder politischen Ideologien an.
Ähnlich in der Gegenwart. Um was geht es etwa im Kampf der iranischen Mädchen und Frauen? Um das fundamentale Recht, im öffentlichen Raum da sein zu dürfen, sich als Bürger:innen unter anderen frei bewegen, kleiden, sich äußern und auch singen, schimpfen, nein sagen zu dürfen – ganz, wie es ihnen selbst beliebt. Das ist eine fundamental liberale Forderung, die im Iran mit unmenschlichen Methoden abgewiesen wird.
Welche Bedeutung haben utopische Ansätze oder überhaupt Zukunftsvorstellungen in der liberalen Theorieströmung, gerade auch mit Blick auf den Kampf gegen den Klimawandel?
Politischer Utopismus passt gar nicht gut zum Liberalismus, einfach weil er keine Vorstellung des für alle verbindlich Guten, der Wahrheit oder anderer Endziele in sein politisches Programm integrieren kann. Andererseits sehen wir gerade mit Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021, wie eine liberale Verfassung wie das deutsche Grundgesetz durchaus Raum hat für das, was man intergenerationale oder intertemporale Sicherung der Freiheit nennen könnte.
In dieser neuen Rechtsprechung wird betont, dass die individuelle Freiheit nicht nur für uns hier und heute, sondern über die Zeit und die Generationen hinweg einen Wert hat. Auch kommende Generationen in der Zukunft haben demzufolge das Recht, durch bestimmte Entscheidungen in der Gegenwart nicht so belastet zu werden, dass es ihre Freiheitsrechte ungebührlich verletzt. Das betrifft nicht nur Klimaschutzpflichten und Umweltschutz, sondern diese Perspektive in die Zukunft lässt sich zum Beispiel auch für Fragen der sozialen Sicherungssysteme nutzbar machen.
Insgesamt wird der Liberalismus aber zumindest in Deutschland mit Wirtschaftsliberalismus und hedonistischem Konsumismus gleichgesetzt. Was bieten liberale Theorien in Bezug auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit?
Aus historischer Perspektive gehört soziale Gerechtigkeit nicht zu den Grundbegriffen des Liberalismus. Das heißt nicht, dass der Liberalismus gar keine Vorstellungen von Gerechtigkeit hat. Nur wurde diese lange Zeit auf einer politisch-rechtlichen Ebene verortet, also in Bezug auf gleiche politische Rechte, wie etwa die Gleichheit vor dem Gesetz. Das ändert sich radikal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit John Rawls‘ „Theorie der Gerechtigkeit“.
Rawls führt eindrücklich vor, wie sich Leistungsprinzipien mit Sozialstaatlichkeitsprinzipien verbinden lassen und, denke ich, auch müssen. Denn das liberale Versprechen ist ja: Wenn ich etwa durch allgemeinverbindliche Gesetze und die Schaffung einer politischen Autorität bestimmte Einschränkungen meiner individuellen Freiheit hinnehme und andere das auch tun, dass dann am Ende mehr Freiheitsräume existieren.
Mit diesem Versprechen ist immer auch die Erwartung verbunden, dass es uns am Ende auch in sozialer und materieller Hinsicht besser gehen wird. Dass Rawls dieses „uns“ nicht an einem abstrakten gesellschaftlichen Wohlfahrtsindex messen will, sondern daran, dass es konkret den gesellschaftlich am schlechtesten stehenden Menschen besser gehen muss, ist sein wichtigstes Verdienst für den Liberalismus.
Gibt es zeitgenössische liberale Theoretiker:innen, die sich wie Rawls zentral mit der Idee von Gerechtigkeit befassen?
Ja, aber es gibt keine vergleichbar grundlegenden Theorieentwürfe mehr. Für das Thema Gerechtigkeit möchte ich doch auf einen älteren Beitrag verweisen, nämlich Ronald Dworkins „Gerechtigkeit für Igel“ – ein sich von Rawls‘ unterscheidender Versuch, Politik und Moral, das Rechte und das Gute doch wieder enger zusammenzudenken. Das schafft auch einen Raum für liberale Tugenden und freiheitliche Geisteshaltungen – also einen Liberalismus als Lebensform.
Das klingt nach einer Leseempfehlung. Vielen Dank für das Interview!
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