Interview Marie­luise Becks in The Ukrainian Week: Das Problem ist, dass dieses Denken – Deutsch­lands Schuld gegenüber Sowjet­union – allein auf Russland bezogen wird

The Ukrainian Week hat mit der  Mitgrün­derin des Zentrums Liberale Moderne über den Erhalt der histo­ri­schen Erinnerung, Deutsch­lands histo­rische Verant­wortung und die politi­schen Aspekte des Baus von Nord Stream 2 gesprochen. Wir dokumen­tieren DAS INTERVIEW in Deutscher Sprache.

Das englische Origi­nal­in­terview finden Sie hier.

Als Bundes­tags­ab­ge­ordnete haben Sie in der Ukraine und in Deutschland Runde Tische zu Deutsch­lands histo­ri­scher Verant­wortung gegenüber der Ukraine initiiert. Auch das Zentrum Liberale Moderne, das Sie mitge­gründet haben, reali­siert zahlreiche Projekte zum histo­ri­schen Gedächtnis in der Ukraine und anderen postso­wje­ti­schen Staaten, vor allem zu jüdischer Geschichte. Warum sind diese Projekte so wichtig für Sie?

Ich bin 1952 auf die Welt gekommen, nicht lange nach der Nazi-Zeit und als jüngstes von sieben Geschwistern. Mein ältester Bruder kam 1935 auf die Welt. Meine Eltern waren also erwachsene Menschen, als Hitler an die Macht kam. Als ich aufwuchs, habe ich mich immer gefragt, wo sie waren, als die Jüdinnen und Juden aus Deutschland vertrieben, gequält und ermordet wurden. Sie müssen es gewusst haben; sie müssen es sogar gesehen haben. Nach dem Krieg hat meine Familie den sowje­ti­schen Sektor verlassen und ist in einen von den Westal­li­ierten besetzten Sektor gezogen. In meiner Familie wurden viele Geschichten über die Kriegszeit erzählt, die jüdischen Opfer wurden aber nie erwähnt. Dieses Thema war eine Art Tabu in meiner Familie. Als ich erwachsen war, habe ich das verstanden. Seitdem ist es ein zentrales Thema meiner politi­schen Arbeit, dieses Tabu zu durchbrechen.

Der Holodomor ist eines der wichtigsten und schmerz­haf­testen Kapitel der ukrai­ni­schen Geschichte. Dennoch ist er in der EU (vor allem in ihrem westlichen Teil) weitgehend unbekannt. Auf welche Botschaften sollte die Ukraine in der EU und besonders in Deutschland setzen, um den Holodomor als Thema bekannt und verständlich zu machen?

Wir müssen mit den histo­ri­schen Fakten anfangen. Würden die Menschen diese kennen, gäbe es ein besseres Verständnis dafür, dass viele Ukrainer nicht wieder unter russi­schen Einfluss gedrängt werden wollen. Auch fragende Hinweise, warum die Ukraine nicht ein neutrales Land werden wolle, ähnlich wie Finnland, überzeugen viele Ukrainer angesichts ihrer histo­ri­schen Erfah­rungen nicht. Timothy Snyder nennt die Region zwischen dem russi­schen und dem Deutschen Reich „Blood­lands“. Die Menschen, die in diesem Teil Europas gelebt haben, haben die Katastrophen des zaris­ti­schen Russlands erlebt, die Zeit der Stalin­schen Repres­sionen, die Sowjet­union, und nun leiden sie unter Putins Russland. Sie haben die deutsche Besatzung erlebt, die Bruta­lität der Wehrmacht, der SS und der Polizei­ba­taillone. Sie wurden als „slawische Unter­men­schen“ bezeichnet, sie wurden als Zwangs­ar­beiter und Zwangs­ar­bei­te­rinnen nach Deutschland depor­tiert, und die jüdische Bevöl­kerung wurde fast ausge­löscht. Würden die Menschen in Deutschland und in der EU dieses Kapitel der Geschichte besser kennen, dann würden sie besser verstehen, warum die Ukraine ein freies und souve­ränes Land sein will. Denn das ist es, wofür der Maidan steht.

Wir müssen mit den histo­ri­schen Fakten beginnen. Und das wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Wir haben viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass Polen ein europäi­scher Nachbar ist. Genauso wird es dauern, bis wir es als Norma­lität akzep­tieren, dass die Ukraine ein europäi­scher Nachbar ist und eines Tages zur EU gehören wird.

Fürs erste hat kaum jemand das Wort Holodomor überhaupt je gehört. Ganz zu schweigen davon, dass durch Stalins Vernich­tungs­po­litik gegen die sogenannten kulaks (reiche Bauern, d. Red.) Millionen Menschen absichtlich zu Tode gehungert wurden. Und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass auf ukrai­ni­schem Gebiet nicht nur – wie auch in der Wolga-Region oder in Kasachstan – gegen die kulaks gekämpft wurde, sondern dass Stalin hier außerdem die Idee einer ukrai­ni­schen Nation vernichten, das „ukrai­nische Genick“ brechen wollte. Beim Deutschen Bundestag wurde eine Petition einge­reicht, die die Anerkennung des Holodomor als Genozid fordert. Ich fürchte, dass sie abgelehnt wird, weil es eine Debatte darüber geben wird, ob der Holodomor angesichts der Kriterien, die mit Blick auf die Vernichtung des jüdischen Volkes dafür erarbeitet wurden, als Genozid einge­stuft werden kann. Bis dahin sollten wir uns, denke ich, darauf konzen­trieren, die Fakten ins Bewusstsein zu rücken, wie es etwa Agnieszka Holland mit ihrem Film „Mr. Jones“ oder Anne Applebaum mit ihrem hervor­ra­genden Buch „Roter Hunger“ getan haben. Es dauerte lange, bis die Vernichtung der Armenier im Osmani­schen Reich als Genozid anerkannt wurde, und der Prozess begann mit der Erklärung der Fakten. Es gibt eine wissen­schaft­liche Debatte unter Histo­rikern über die Frage, ob der Begriff Genozid auf Vernich­tungen, Tötungen und Massaker angewendet werden sollte, die statt­fanden, bevor er 1948 geprägt wurde.

Der Genozid an den Armeniern fand aber vor dem Holocaust statt. Entspre­chend kontrovers wird die Situation in der Ukraine beurteilt – Deutschland erkennt die furcht­baren Ereig­nisse in Armenien als Genozid an, den Holodomor aber nicht?

Das Problem ist, dass es im Fall von Armenien eine klare ethnische Dimension gibt. Der Holodomor wird dagegen als Teil eines überge­ord­neten Phänomens betrachtet, nämlich von Stalins Kampf gegen die kulaks, der auch an anderen Orten stattfand, in der Wolga-Region, in Kasachstan und in der Ukraine. Der Kern der Debatte ist, ob diese Politik auch gezielt auf die Vernichtung der Ukrainer als ethnische Gruppe abzielte – über die Vernichtung der kulaks hinaus, die auch die russi­schen Bauern traf. Das macht den Holodomor kompli­zierter als den armeni­schen Genozid.

Wir leben in einer hybriden Zeit. Es ist eine Heraus­for­derung, die tatsäch­lichen histo­ri­schen Fakten zu präsen­tieren, denn man erhält darauf ständig ein enormes Maß an Propa­ganda als Antwort. Wie sollte die Geschichte der Ukraine angesichts des Ausmaßes der russi­schen Propa­ganda, mit der wir es zu tun haben, präsen­tiert werden?

Es gibt ein wunder­bares chine­si­sches Sprichwort: Das Gras wird nicht wachsen, bevor die Samen gelegt wurden. Auch wenn Sie alle Kanäle nutzen, die Sie haben, werden Sie noch Geduld brauchen. Es dauert lange, tiefsit­zende Vorur­teile zu überwinden, besonders wenn mit schwerer Propa­ganda versucht wird, die Fakten zu überdecken. Nehmen Sie als Beispiel den deutschen Präsi­denten Frank-Walter Stein­meier, eine zweifellos sehr anständige und ehren­werte Person. Und doch vergisst er, wenn er über Deutsch­lands histo­rische Schuld und Verant­wortung gegenüber Russland spricht, dass Deutschland 1941 die Sowjet­union überfallen hat, nicht Russland. Diese Inter­pre­tation der Ereig­nisse übersieht Belarus und die Ukraine sowie die Tatsache, dass der Krieg in erster Linie auf deren Gebieten, den „Blood­lands“, ausge­tragen wurde und die Soldaten der Sowjet­armee aus sämtlichen Sowjet­re­pu­bliken kamen.

Deutschland hat selbst einige Zeit gebraucht, um seine Vergan­genheit aufzu­ar­beiten. Zuerst wurde es von den Alliierten bei den Nürnberger Prozessen gezwungen, sich den Verbrechen zu stellen, die es im Krieg begangen hat. Die waren aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Wahrheit ist, dass Hundert­tau­sende Menschen an den Verbrechen beteiligt waren. Es hat noch lange gedauert, bis wir mit eigenen Gerichts­pro­zessen in Deutschland begonnen haben. Im ersten Auschwitz-Prozess 1963 war der General­staats­anwalt ein brillanter junger jüdischer Richter, der Deutschland verlassen hatte und als Ankläger in diesem Prozess zurück­ge­kommen war. Sein Name ist Fritz Bauer. Aus der Frank­furter Justiz wurde ihm eine Menge Haß entge­gen­ge­bracht. Seine Todes­um­stände kennen wir nicht mit Sicherheit, es kann aber nicht ausge­schlossen werden, dass er Selbstmord begangen hat.

Deutschland gilt oft als ein Land, das sich sehr bemüht hat, einen Umgang mit diesem schreck­lichen Teil seiner Geschichte zu finden, und auch ich sehe das so. Die Alliierten haben nach dem Krieg sogar normale deutsche Bürger zum Besuch der Konzen­tra­ti­ons­lager gezwungen. Die Menschen sollten eine Idee davon bekommen, was passiert ist. Es stimmt, wir haben viel getan, und dennoch gibt es in unserem Wissen über die Vergan­genheit blinde Flecken. Die Verbrechen, die auf dem Gebiet der balti­schen Staaten und auf den Gebieten von Belarus und der Ukraine begangen wurden, sind noch nicht bekannt genug. Auch über Stalins Verbrechen und den Holodomor wissen wir nicht genug. Wissen und Bewusstsein über das Geschehene sind für die Förderung von Demokratie und Mensch­lichkeit aber unabdingbar. Deshalb gibt es keine Alter­native dazu, darüber wieder und wieder zu sprechen.

Ende letzten Jahres hat die Ukraine die Krim-Plattform auf den Weg gebracht. Es scheint aller­dings, als ob das Thema der Annexion der Krim bei westlichen Politikern tenden­ziell vergessen wird. Ist es auch Ihr Eindruck, dass die Politiker im Westen die Annexion der Krim allmählich vergessen? Was sollte die Ukraine noch unter­nehmen, damit das Thema Krim auf der inter­na­tio­nalen Agenda verbleibt?

Ehrlich gesagt erwartet niemand, dass Putin die Krim in abseh­barer Zeit zurück­geben wird.

In Deutschland hat fast niemand wirklich daran geglaubt, dass die DDR und die BRD in abseh­barer Zeit wieder­ver­einigt würden. Das Ziel der Wieder­ver­ei­nigung des Landes blieb dennoch in unserer Verfassung stehen und die DDR wurde nicht als souve­räner Staat anerkannt. 1999 erlebten wir dann, wie wichtig es war, den Status der DDR als Teil des vereinten Deutschland aufrecht­erhalten zu haben. Ich denke, niemand in Europa und den USA wird jemals anzweifeln, dass die Krim nach inter­na­tio­nalem Recht Teil der Ukraine ist.

Das steht auf der inter­na­tio­nalen Agenda mögli­cher­weise nicht immer ganz oben, weil alle geduldig sein und einen langen Atem haben müssen. Aber wir sollten auch die Geschichte der Krim im Gedächtnis behalten. Viele Europäer haben vergessen oder wissen gar nicht, dass Stalin die Krimta­taren, die ursprüng­liche Bevöl­kerung der Krim-Halbinsel, 1944 depor­tiert hat und dass sie erst unter Gorbat­schow nach Hause zurück­kehren konnten. Jetzt wiederholt sich die Geschichte hier fast selbst: Die Bewoh­ne­rinnen und Bewohner der Krim werden aus ihrem Land vertrieben. Ich denke, wir können das eine ethnische Säuberung nennen, wie wir das auch mit den Ereig­nissen in Bosnien getan haben. Auf der Krim kommt es zu schweren Menschen­rechts­ver­let­zungen. Russisch­stämmige Menschen, meist Militär­an­ge­hörige, ziehen dorthin, russische Pässe werden ausge­geben und in den Schulen darf nicht mehr in der Sprache der Krimta­taren unter­richtet werden. Hinzu kommt, dass die Medien auf der Krim einem starken Druck ausge­setzt sind. Rechts­widrige Verfol­gungen und polizei­liche Willkür sind fester Bestandteil des Alltags der Krimta­taren. Wir müssen für beides sorgen: dass die Gescheh­nisse dort weiter öffent­liche Aufmerk­samkeit erfahren und dass der Status der Krim gemäß inter­na­tio­nalem Recht erhalten bleibt.

Ist das Projekt Nord Stream 2 für Deutschland ein realpo­li­ti­sches oder geht es dabei nur um Geld und die Inter­essen zahlreicher Politiker?

Ich denke, ursprünglich ging es um Inter­essen. Es gibt eine lange Tradition der deutsch-russi­schen Bezie­hungen. Histo­risch betrachtet hat Deutschland die Maschinen produ­ziert und Russland die Rohstoffe geliefert. Solche Koope­ra­tionen liefen sogar weiter, als sich beide Länder am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schon auf den Krieg vorbe­rei­teten. Jetzt haben wir es mit einer modernen Version eines solchen Austauschs zu tun: Öl und Gas kommen aus Russland, Deutschland expor­tiert seine Güter nach Russland. Die Geschichte von Nord Stream 1 kennen wir alle. Das Projekt wurde – für Deutschland sehr beschä­men­der­weise – von einer Person einge­weiht, die zu dem Zeitpunkt Kanzler war und die später einfach als Geschäftsmann und Lobbyist in das Projekt einstieg. Es existiert also ein klares wirtschaft­liches Interesse.

Leider sät Deutschland mit diesem Projekt Zwietracht in der EU.

Das von einem wirtschaftlich starken und mitten in Europa gelegenen Land angestrebte Projekt Nord Stream 2 schadet dem gegen­sei­tigen Vertrauen innerhalb der EU. Die deutsche Regierung hat versucht, Nord Stream 2 als rein ökono­mi­sches Projekt zu vertei­digen, als ginge es um den Kauf von Salz oder Zucker. Der ehemalige Außen­mi­nister Sigmar Gabriel und der amtie­rende Außen­mi­nister Heiko Maas behaupten, das Projekt habe nichts mit Politik tun. Präsident Frank-Walter Stein­meier sagte kürzlich, wir bräuchten es als Brücke nach Russland. Mit dieser Äußerung unter­strich er deutlich die politische Dimension des Projekts. Das Problem ist, dass dieses Denken – Deutsch­lands Schuld gegenüber Russland – so tief in unserem politi­schen Gedächtnis verwurzelt ist. Hier sind wir also wieder an dem Punkt angelangt, an dem wir unser Gespräch begonnen haben.

Wie schätzen Sie die Rolle der Ukraine für ihre Nachbarn ein?

Seit letztem Jahr arbeiten wir an einem Programm, das wir Östliche Partner­schaft Plus nennen. Dabei bringen wir die Zivil­ge­sell­schaften von Georgien, Moldau und der Ukraine zusammen, denn diese drei Länder haben, anders als Belarus, Armenien und Aserbai­dschan, Assozi­ie­rungs­ab­kommen mit der EU geschlossen und streben eine EU-Mitglied­schaft an. Alle sechs genannten Länder stehen unter dem Schirm der EU-Politik der Östlichen Partner­schaft, sind aber sehr unter­schiedlich. Wir wollen die Annähe­rungs­po­litik an die EU und an eine EU-Mitglied­schaft in den drei assozi­ierten Ländern koordi­nieren. Die westeu­ro­päi­schen Gesell­schaften haben vergessen, wie groß Europa geogra­phisch und kulturell ist. Bei der Teilung Europas in Jalta ging es genau darum – diese Erinne­rungen auszu­lö­schen. Viel zu oft sagen wir Europa und meinen die EU. Damit ignorieren wir die Tatsache, dass Europa viel größer ist.

Mit Polens EU-Beitritt hat Europa einen großen Schritt zur Überwindung der mentalen Grenze getan, die durch den Eisernen Vorhang entstanden ist.

Die Vorur­teile gegenüber Polen waren riesig. Ich erinnere mich noch, wie schlecht bei uns zuhause früher über die Polen gesprochen wurde. Inzwi­schen gibt es eine alltäg­liche Norma­lität. Wenn Sie in Berlin über die Baustellen gehen, werden Sie merken, dass die Sprache, die dort gesprochen wird, Polnisch ist. In meiner Heimat­stadt Bremen leben und arbeiten viele Polen und sie werden gut akzep­tiert. Ich denke, zwischen Deutschland und der Ukraine wird sich eine viel größere Norma­lität einstellen, wenn die Pandemie vorbei ist und die Billig­flug­linien wieder fliegen. Sie sind unglaublich wichtig für die Öffnung indivi­du­eller persön­licher Horizonte, wobei ich natürlich zugeben muss, dass sie ein Umwelt­problem darstellen. Durch Reisen nach Lwiw, Odessa oder Kiew werden die Deutschen begreifen, dass die Ukrainer europäisch sind. Sie werden sehen, dass die Ukrainer sich modisch kleiden, dass sie moderne Restau­rants haben, Start-ups und einen riesigen IT-Sektor. Und die dortige Archi­tektur wird sie an das europäische Erbe dieser Städte erinnern.