„Involution“ – Warum sich China zurückentwickelt

Foto: Shutterstock, humphery
Foto: Shutter­stock, humphery

China sieht sich als sozia­lis­ti­schen Staat. Aber in Wirklichkeit ist es mit dem Sozia­lismus nicht weit her, die Ungleichheit in der Volks­re­publik gehört zu den höchsten der Welt. Jetzt macht ein neues Wort im Netz die Runde, das ein Schlag­licht auf die Schat­ten­seiten des chine­si­schen Wirtschafts­wunders wirft.

Der chine­sische Entwickler schien am Ende zu sein. Als er nicht mehr weiter­wusste, schrie er seine Verzweiflung ins Internet. Er schuf die Webseite 996.ICU, um auf sein Elend aufmerksam zu machen.

996 steht in China für moderne Sklaverei. 

Mit den Zahlen ist gemeint, dass ein Unter­nehmen still­schweigend verlangt, dass seine Mitar­beiter von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends schuften – und zwar sechs Tage die Woche. Und ICU ist die englische Abkürzung für Intensivstation.

Wer nach dem 996-Muster arbeite, der maloche pro Woche mindestens 60 Stunden – und lande wohl früher oder später in der Inten­siv­station, schrieb der anonyme Entwickler, als er seine Webseite 2019 ins Netz stellte. Unter seinen Hilferuf setzte er – in Anlehnung an die antiras­sis­tische „Black Lives Matter“-Bewegung aus den USA – den Appell: „Developers‘ Lives Matter“. Die Leben von Entwicklern zählen.

Der Protest des anonymen Entwicklers wirft ein Schlag­licht auf die Schat­ten­seiten des chine­si­schen Wirtschaftswunders. 

In den ersten Jahren des 21. Jahrhun­derts wuchs das chine­sische Brutto­in­lands­produkt (BIP) zum Teil zweistellig, selbst am Ende des vergan­genen Jahrzehnts lag das jährliche Wachstum noch bei mehr als sechs Prozent.

Chinas turbo­ka­pi­ta­lis­ti­scher Aufstieg hat aber – unter der autori­tären Führung der Kommu­nis­ti­schen Partei (KP) – nicht nur Millionen von Menschen den Weg zu Mittel- und Wohlstand geebnet. Er hat auch zu dazu geführt, dass sich die chine­sische Gesell­schaft in halsbre­che­ri­schem Tempo wandelt. Zu den Abgründen dieses Wandels zählt eine mörde­rische Arbeitswelt, in der Überstunden und harte Bandagen an der Tages­ordnung sind.

Der alltäg­liche Überle­bens­kampf hat drama­tische Auswirkungen. 

Junge Menschen fühlen sich ausge­brannt und neigen zu Apathie und Antriebs­lo­sigkeit. Dieses Phänomen schlägt sich in der Sprache nieder: „Sang“ ist das chine­sische Wort, das sich für das Lebens­gefühl junger, lebens­müder Menschen einge­bürgert hat – meist wenden diese jungen Menschen die Bezeichnung ins Ironische und bezeichnen sich selbst so.

Involution

Doch wenn Sprache ein Seismo­graph für sozialen Wandel ist, dann gibt es inzwi­schen ein Wort, das die Abgründe der chine­si­schen Gegen­warts­ge­sell­schaft noch prägnanter zusam­men­fasst. „Das weit verbreitete Gefühl, in einem Ratten­rennen festzu­stecken, bei dem alle verlieren, hat ein neues Schlagwort hervor­ge­bracht“, schrieb jüngst das Propa­gan­da­medium CGTN, das tenden­ziell zu Schön­fär­berei neigt. Das Schlagwort lautet: „Neijuan“. Oder auf Deutsch: „Involution“.

„‚Involution‘ beschreibt einen sich ständig verschär­fenden Wettbewerb im Alltags­leben und in der Arbeitswelt, aus dem es keinen Ausweg gibt“, sagt Xiang Biao. Der Chinese hat als Professor für Sozial­an­thro­po­logie viele Jahre an der Univer­sität Oxford geforscht, seit Kurzem arbeitet er am Max-Planck-Institut für ethno­lo­gische Forschung in Halle (Saale). „Charak­te­ris­tisch für diesen Wettbewerb ist, dass man sich in ihm gefangen fühlt, aber ihn durch das eigene Tun perpetuiert“, sagt Xiang. Das Ergebnis sei nicht Fortschritt, Evolution, sondern „Involution“, ein erschöpfter Rückschritt.

Eine Eliteuni hilft Dir nicht

Xiang beobachtet dieses Phänomen beispiels­weise im Bildungs­wesen. 985 ist im Chine­si­schen eine Zahl, die – abgeleitet von dem Namen eines Partei­pro­jekts – für die Elite­uni­ver­si­täten des Landes steht. Die chine­si­schen Eliteunis galten einst als Eintritts­karte zum Erfolg. In der Generation des Wissen­schaftlers Xiang, Jahrgang 1972, hatte dieses Versprechen noch Gültigkeit: Er studierte an der Peking Univer­sität, der angese­hensten Hochschule des Landes, bevor er in Oxford den ersten akade­mi­schen Ruhm erlangte.

Doch inzwi­schen ist dieser ungeschriebene Vertrag nicht mehr gültig. In der wettbe­werbs­tech­nisch hochge­rüs­teten Gesell­schaft Chinas reicht selbst ein Studium an einer Eliteuni nicht mehr aus, um einen guten Job zu ergattern. Vor wenigen Monaten gründeten enttäuschte Absol­venten von Eliteunis in einem chine­si­schen sozialen Netzwerk eine Gruppe mit dem Titel „985-Schrott“. Soll heißen: Eine Eliteuni hilft dir nicht. Selbst mit einem Abschluss einer solchen Hochschule giltst du heute nur noch als gesell­schaft­licher „Schrott“.

Der Wettbewerb ernährt den Wettbewerb

Doch was Xiangs Beobachtung bestätigt: Obwohl das chine­sische Aufstiegs­ver­sprechen nicht mehr gilt, inves­tieren chine­sische Familien immer noch Unmengen in die Ausbildung ihrer Kinder – in der Hoffnung, ihnen einen Platz an einer Eliteuni zu sichern. Erst jüngst stieg das Buch einer Pekinger Mutter zum Bestseller auf. Die Mutter beschreibt, wie sie ihren Sohn im Kampf um die Aufnahme an einer Mittel­schule unter­stützt – indem sie mehr als ein Jahr vor der Aufnah­me­prüfung ihren Job kündigt. Die damals 44-Jährige entwi­ckelt sich zur Vollzeit-Managerin ihres Sohnes und verplant sein Leben mit endlosen außer­schu­li­schen Kursen, Nachhil­fe­stunden und Sprach­kursen. Der Wettbewerb ernährt den Wettbewerb.

Xiang macht zum Teil den Konfu­zia­nismus für dieses Ratten­rennen verantwortlich. 

Demnach sei es moralisch verwerflich, sozialem Aufstieg zu entsagen. Dem Anthro­po­logen fällt eine Anekdote ein, die ihm vor Kurzem einer seiner chine­si­schen Studenten erzählt hat. Demnach bewarb sich der Student, ein Absolvent einer Eliteuni, für einen Job bei McDonalds – um der Konkurrenz um einen angese­he­neren Job zu entgehen. Doch die erste Reaktion des Perso­nal­mit­ar­beiters von McDonalds sei morali­scher Art gewesen: „Hast du mal daran gedacht, was deine Eltern von dir denken werden?“

Den anderen Grund für das Ratten­rennen sieht Xiang in der Politik. 

China betrachtet sich als sozia­lis­ti­schen Staat, hat aber in den 80er-Jahren weitrei­chende kapita­lis­tische Reformen einge­leitet. Heute gehört die Einkom­mens­un­gleichheit in China, gemessen am Gini-Koeffi­zi­enten, zu den höchsten der Welt.

Xiang verortet sich im intel­lek­tu­ellen Spektrum Chinas lose im Lager der „Neuen Linke“, er kriti­siert die sozia­lis­tische Volks­re­publik also von links. Die Schule der „Neuen Linke“ kann, allgemein gesagt, verstanden werden als Antwort auf die Verwer­fungen der chine­si­schen Reform-Ära, etwa die himmel­schreiende soziale Ungleichheit und die wirtschaft­liche Kluft zwischen Küste und Hinterland.

Das leere Versprechen

Xiangs politi­sches Argument geht so: Die Moder­ni­sierung in den 80er-Jahren habe dazu geführt, dass eine Aufbruch­stimmung entstanden sei. Aus Bauern seien Klein­un­ter­nehmer geworden; jeder habe das Gefühl gehabt, dass es aufwärts gehe. Aber seit den 90er-Jahren konzen­triere sich – eine Folge mangelnder Verteilung – der Wohlstand auf wenige Metro­polen an der Küste. Für einen großen Teil der Gesell­schaft habe sich die Aufbruch­stimmung als leeres Versprechen entpuppt. Aber er versuche immer noch verzweifelt, dieses Versprechen einzulösen.

Xiang ist deswegen Befür­worter robuster Arbeits­rechte und eines vertei­lenden Wohlfahrt­staats. Der Wissen­schaftler wird etwas verlegen, wenn man ihn danach fragt, in welchem Verhältnis seine Kritik zur KP steht. Der Arm der Partei ist lang, selbst im Ausland ist es für chine­sische Wissen­schaftler so gut wie unmöglich, ganz unbeschwert zu reden. Aber Xiang sagt so viel: Er werbe unter seinen chine­si­schen Studenten dafür, aus dem Ratten­rennen auszu­steigen. Er freue sich über jede E‑Mail, in der ihm jemand sage: Ich mache nicht mehr mit.

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