Israel – man könnte Hoffnung haben
Richard C. Schneider blickt zurück auf Israel im Jahr 2021 und auf die kommenden Herausforderungen: Irans atomare Aufrüstung, Omikron und die festgefahrene Situation der Zweistaatenlösung.
Was für ein Jahr! Vier Ereignisse prägten Israel 2021 ganz entscheidend.
Eine bunte und erfolgreiche Koalition
Das wichtigste zuerst: Die Ära Netanyahu ist Geschichte. Acht Parteien, die unterschiedlicher nicht sein können, inklusive einer arabischen Partei, die den Muslimbrüdern nahesteht, bilden nun eine Koalition, die inzwischen bereits ein halbes Jahr an der Macht ist. Netanyahu ist nur noch Oppositionsführer und viele hoffen, dass er sich ganz bald aus der Politik zurückziehen wird, doch all jene, die eine Rückkehr des rechten Populisten fürchten, wünschen eher, er möge noch möglichst lange in der Politik verbleiben und die Regierung vor sich hertreiben. Warum? Weil er der Kitt ist, der die aktuelle Regierung unter Premier Naftali Bennett zusammenhält. Sollte „Bibi“ Netanyahu die politische Arena tatsächlich verlassen, würde – so die Befürchtung – die aktuelle Regierung sofort auseinander brechen, die rechten Parteien würden sich mit der oppositionellen Likud-Partei (dann ohne Netanyahu) zusammentun und womöglich auch noch die orthodoxen Parteien mit einbeziehen: fertig wäre die wohl rechteste israelische Regierung aller Zeiten. Doch bis es so weit ist, wird es wohl noch eine Weile dauern. In der Zwischenzeit gewöhnt sich Israel daran, dass das Land auch ohne Netanyahu weiter funktioniert, vielleicht sogar besser denn je, denn die Ministerien können wieder unabhängig arbeiten, der neue Premier reisst nicht die gesamte Macht an sich und regiert nicht wie ein Beinahe-Diktator. Israelis lernen zudem, dass man auch mit Arabern auskommen kann, dass Linke und Rechte miteinander an einem Tisch sitzen und reden und Kompromisse miteinander schließen können. Der politische Gegner ist kein „Feind“ mehr, wie das Netanyahu propagiert hatte, sondern einfach ein Konkurrent, mit dem man dennoch gemeinsame Schnittmengen hat.
Ein Gaza-Krieg ohne Konsequenzen
Die zweite Entwicklung 2021: der Gaza-Krieg und seine Implikationen. Israel musste zwei Dinge in dieser vierten militärischen Auseinandersetzung mit der islamistischen Hamas lernen. Die Herrscher in Gaza sind mittlerweile in der Lage, selbst Tel Aviv tage- und wochenlang mit Raketen zu überziehen und zu terrorisieren. Und: Israels Armee ist nicht in der Lage, die Infrastruktur der Hamas ohne hohe Zivilverluste so entscheidend zu treffen, dass für längere Zeit Ruhe herrschen könnte. Der fünfte Krieg lauert somit quasi schon um die Ecke. Die Reaktionen weltweit auf diesen Krieg waren zweigeteilt: auf der Straße nahmen die antisemitischen Reaktionen, die sich zum Teil in Gewalt gegen Juden des jeweiligen Landes richteten, um das Dreifache des „Üblichen“ zu. In den Hallen der Politik allerdings: nichts. Der Krieg blieb für Israel ohne Konsequenzen, im Gegenteil, die Beziehungen mit den neuen arabischen Friedenspartnern wie die Emirate und Bahrain setzen sich fort, vertiefen sich. Das ist…
Die neuen Freundschaften bleiben belastbar
…. das dritte, wichtige Ereignis. Die Erkenntnis, dass die arabischen Staaten, die das „Abraham Abkommen“ unterzeichnet haben, keinen Frieden mit Netanyahu, sondern mit Israel geschlossen haben. Ja, die Beziehungen sind sogar noch besser geworden, seitdem Bennett als Premier und Yair Lapid als Außenminister die Ansprechpartner auf israelischer Seite sind. Sie sind persönlich und sehr herzlich geworden, die „Palästinenserfrage“ dümpelt irgendwo im Hintergrund vor sich hin, niemand interessiert sich wirklich dafür, schon gar nicht die US-amerikanische Regierung, die als linksliberal eingestuft wird, allerdings ganz andere Sorgen hat als den lästigen palästinensisch-israelischen Konflikt.
Israel als Versuchskaninchen und Vorreiter im Kampf gegen Covid
Last but not least: wieder einmal war Israel in der Corona-Bekämpfung der ganzen Welt voraus. Premier Bennett entschied während der Vierten Welle im Frühsommer die Bevölkerung mit einer dritten Impfung, dem sogenannten „Booster“, gegen das Virus stark zu machen. Und das, noch ehe die FDA in den USA ihr OK für eine dritte Impfung gegeben hatte. Bennett behielt recht, rasch klang die Vierte Welle ab. Tragisch nur, dass die meisten europäischen Staaten, allen voran die Deutschen, die Zeichen nicht lesen wollten oder konnten und viel zu spät und zögerlich den „Booster“ anboten. Das Ergebnis ist bekannt.
All diese Geschehnisse deuten daraufhin, was Israel 2022 erwarten könnte:
Quo vadis, Iran?
Die Beziehungen mit den Vereinten Arabischen Emiraten, mit Bahrain und – inoffiziell – mit den Saudis sind nicht zuletzt deshalb so gut, weil man einen gemeinsamen Feind hat: Iran. Es sieht nicht so aus, dass das Regime in Teheran wieder in das Nuklear-Abkommen JCPOA eintreten wird, sehr zur Überraschung der Biden-Administration, die sich sicher war, die Iraner würden sofort Ja sagen, wenn die USA ihre einseitige Aufkündigung des Abkommens unter US-Präsident Donald Trump zurücknehmen würden. Das aber heißt, Israel bereitet sich auf einen möglichen Militärschlag gegen Irans Atomanlagen vor. Vollmundig erklären Militärs und Politiker, Israel würde notfalls alleine zuschlagen, wenn die USA und die internationale Staatengemeinschaft den Schwanz einziehen würden. Eine Nuklearmacht Iran sei für Israel nicht akzeptabel. Da Jerusalem meint, sich nicht mehr auf die Amerikaner allein verlassen zu können, arbeitet man mit den Golf-Staaten immer enger zusammen. Das ist für die Region sicher ein Vorteil, aber durchaus auch eine Gefahr. Ein Krieg zwischen Israel (mit direkter oder indirekter Unterstützung arabischer Staaten), dem Iran und dessen Stellvertreter im Libanon und in Gaza birgt die Gefahr eines Flächenbrandes, von dem man nicht weiß, wie man ihn wieder löschen kann. Laut Aussagen israelischer Experten haben Israel und die Welt noch ein Jahr, ehe man gegen den Iran tatsächlich vorgehen muss. 2022 könnte also für die Zukunft der Region und der Welt ein ganz entscheidendes Jahr werden. Auf den Amerikanern lastet viel Verantwortung, doch im Augenblick sieht es nicht danach aus, dass sie wirklich wissen, was sie tun sollen. Und können. Außenminister Antony Blinken nutzt nicht die ganze Macht, die die USA als auch heute noch stärkste und mächtigste Nation der Welt hat. Zumindest als Drohkulisse. Da ist nichts, was das iranische Regime in irgendeiner Form beeindrucken könnte.
Das pandemische Wirtschaftswunder – trotz Totalausfall im Tourismus
Die Pandemie, die soeben mit der Omicron-Variante die ganze Welt im Griff hat, betrifft natürlich auch Israel. Der Tourismus ist im Heiligen Land praktisch zum Erliegen gekommen, Ausländer werden nicht ins Land gelassen. Dennoch ist im vergangenen Jahr das BIP Israels um fast 7% gestiegen, die „Güter“, die Israel anzubieten hat, sind im Hightech-Bereich, weniger in Form von „Hardware“. Das digitalisierte Land hat gegenüber Ländern wie Deutschland in vielen Bereichen einen Wettbewerbsvorteil, den es zu nutzen weiß. Auch wenn sozial schwächer gestellte Israelis im kommenden Jahr wohl noch weiter in Bedrängnis geraten dürfte, wird der Staat selbst wirtschaftlich wohl kaum in Nöte geraten. Der israelische Schekel ist derzeit eine der stärksten Währungen der Welt, was sich an den Wechselkursen zum Euro oder US-Dollar ablesen lässt – und der Tatsache, dass Tel Aviv von der renommierten Zeitschrift The Economist erstmalig als die Stadt mit den weltweit höchsten Lebenshaltungskosten identifiziert worden ist.
Zweitsaatenlösung: Auf Eis oder tot?
Bleibt, last but not least, der Konflikt mit den Palästinensern. Die aktuelle Regierung, in der Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung ebenso sitzen wie Befürworter einer Annexion der besetzten Gebiete, haben es sich zur Auflage gemacht, in der „Palästinenserpolitik“ die Füße still zu halten. Das bedeutet zwar einerseits, dass drastische Schritte der israelischen Rechten nicht vollzogen werden, gleichzeitig könnte dieser Stillstand möglicherweise auf palästinensischer Seite Reaktionen hervorrufen. Israelische Experten sorgen sich, die Palästinensische Autonomiebehörde könnte bald „die Schlüssel abgeben“. Entweder nach dem Tod des greisen und kranken Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas oder sogar schon vorher. Mit anderen Worten, die PA könnte sich selbst auflösen und dem israelischen Militär die gesamte Verantwortung für das Westjordanland überlassen. Ein logistischer und sicherheitstechnischer Albtraum. Zwar profitieren die „alten Männer“ der Palästinensischen Autonomiebehörde vom Status quo. Millionen fließen in ihre Kassen, davon wird eine ganze Menge für nicht ganz so offizielle Zwecke abgezweigt. Warum sollten sie also alles hinschmeißen wollen? Der Grund ist simpel: weder haben Präsident Mahmud Abbas und die Seinen irgendeine Form von Unterstützung in der eigenen Gesellschaft, noch kommen sie politisch voran, was selbst bei den größten Profiteuren der Lage zur Frustration führt und mehr noch: zur Bedrohung durch Aufstände oder gar Agitationen seitens der Islamisten. Die aktuelle Situation könnte also mehr und mehr Palästinenser zu der Überzeugung kommen lassen, die Zwei-Staaten-Lösung sei endgültig Makulatur. Was wäre also eine Alternative? Die Ein-Staaten-Lösung. Das würde bedeuten, Israel müsste rund 3 Millionen Palästinenser im Westjordanland einbürgern – was eine massive Verschiebung der demographischen Verhältnisse zu Ungunsten der jüdischen Bevölkerung zur Folge hätte und das Ende des jüdischen Staates Israel bedeuten könnte. Wenn Israel die Palästinenser des Westjordanlandes nicht einbürgern würde – und damit ist zu rechnen – würde der jüdische Staat tatsächlich das werden, was ihm viele schon heute vorwerfen, obwohl es aktuell nicht stimmt. Israel könnte zum Apartheidstaat mutieren.
Die Regierung Bennett wird sich 2022 wichtigen Problemen stellen müssen. Ob sie jeweils die richtigen Antworten zu geben weiß, ist eher unwahrscheinlich. Doch viele Israelis trösten sich mit der Überzeugung, alles sei besser als eine neue Regierung unter Benjamin Netanyahu. Insofern könnte man in Sachen Zukunftsprognose in Israel optimistisch sein. Könnte man…
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