Israel: Reicht der Widerstand?
In Israel protestieren Zehntausende gegen die Pläne der Regierung Netanyahu, die ein Ende der Gewaltenteilung vorsehen. Doch unklar ist, ob der bisherige Protest ausreicht, um die Regierung umzustimmen.
Seit fünf Wochen gehen Zehntausende Israelis am Samstagabend auf die Straße. Hauptsächlich in Tel Aviv, aber auch in anderen Städten wie Jerusalem, Netanya, Beer Sheva. Der Grund: Die neue israelische Regierung unter Premier Netanyahu, die rechteste, orthodoxeste und extremste Regierung in der gesamten Geschichte Israels, will das gesamte Justizsystem des jüdischen Staates umwerfen. Hauptziel ist, das Oberste Gericht radikal zu schwächen. Anders als bisher soll das Gericht nicht mehr in der Lage sein, Gesetzesvorhaben, die den sogenannten „Basic Laws“ – eine Art Grundgesetz – widersprechen, kippen zu können. Wenn die Richter dies nach der sogenannten „Reform“ doch tun würden, könnte die Regierung mit einer einfachen Mehrheit von 61 von 120 Mandaten in der Knesset, das Gericht überstimmen. Es gäbe keine Gewaltenteilung mehr, keine Kontrolle über die Politik. Das würde de facto das Ende der Demokratie bedeuten, wie man sie in der westlichen Welt kennt.
Geplanter Umbau der Justiz: Ende von Gewaltenteilung und Kontrolle über die Politik
Mehr als die Hälfte aller Israelis haben Angst vor diesen Plänen und fürchten, möglicherweise schon bald in der „Türkei“ oder „Ungarn“ aufzuwachen. Die Regierung will die Reform bis Ende März in drei Lesungen durchziehen. Und so hat sich Widerstand gebildet. Die erwähnten Massendemos sind das eine, hinzu kommen erste Warnstreiks, beispielsweise im Hightech-Sektor. Zwei große „Unicorns“, also Start-Ups, die über eine Milliarde US-Dollar wert sind, haben zudem angekündigt, das Land zu verlassen und ihre Investitionen abzuziehen. Wirtschaftsexperten, sowie der Chef der israelischen Zentralbank warnen vor den wirtschaftlichen Folgen der „Reform“ und eine ausländische Rating-Agentur wird nach eigenen Aussagen Israels Kreditwürdigkeit herabstufen, falls die Justiz nicht mehr unabhängig sein wird. Ärzte gehen in ihren weißen Kitteln auf die Straße, Anwälte und Richter protestieren, Intellektuelle warnen – die Stimmung in Israel ist angespannt. Ein Machtkampf hat sich zwischen der Regierung und vor allem jenem Teil der israelischen Gesellschaft entwickelt, der den größten Teil des BIP produziert.
Wird der Protest reichen, um das Vorhaben der Regierung zu kippen?
Doch wird der Protest reichen, um das Vorhaben der Regierung zu kippen? Viele Beobachter bezweifeln das. Netanyahu hat einen Prozess wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen am Hals. Ihm droht bei einer Verurteilung im schlimmsten Fall Gefängnis. Mit dem Justizumbau, der auch vorsieht, dass zukünftig die Politiker die Richter bestimmen und nicht mehr ein unabhängiges Komitee, könnte Netanyahu seinem eigenen Prozess rasch ein Ende bereiten. Zwar hat die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara Netanyahu davor gewarnt, sich in die Justizreform einzumischen, weil er in einem Interessenkonflikt steckt und ihm durch eine Entscheidung des früheren Generalstaatsanwalts Avichai Mandelblit untersagt ist, irgendwas in diese Richtung zu unternehmen. Aber ob das Netanyahu abhalten wird, sich einzumischen? Auch hat die Präsidentin des Obersten Gerichts, Esther Hayut, den Kampf mit der Regierung inzwischen aufgenommen und bereits einen korrupten Minister nach Hause geschickt, weil dieser gar kein öffentliches Amt mehr ausüben darf. Doch ob das alles reicht, um die schwache Demokratie Israels zu retten?
Es ist keine Frage, dass das Justizsystem des Landes einer Reform bedarf. Das Oberste Gericht hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine Machtfülle erhalten und sich mit jeder kleinsten Frage beschäftigen müssen, wie man das aus Ländern, in denen die Demokratie bestens funktioniert, nicht kennt. Kritik an diesem Prinzip gibt es schon lange. Doch einen Systemumsturz, das wollten die Kritiker zumindest aus dem linksliberalen Lager, aber auch die seriöse Rechte natürlich nie.
Nun scheint alles anders. Und die Frage lautet, ob der zivile Widerstand ausreichen wird? Zum augenblicklichen Zeitpunkt muss man sagen: wohl kaum. Am vergangenen Samstag waren in Tel Aviv 40 000 Menschen auf der Straße, vor zwei Wochen waren es 130 000, viele sind wegen des schlechten Wetters diesmal daheim geblieben. Aber egal ob 100 000 oder gar 200 000 – diese Zahlen reichen einfach nicht aus, um Netanyahu davon abzuhalten, einfach weiter zu machen. Dann gehen halt die Menschen auf die Straße, was soll’s? Das tut niemandem weh und die Regierung kann obendrein noch sagen, sie sei demokratisch, die Gegner dürften ja protestieren.
Wenn die Wirtschaft massiv Schaden nimmt, müsste Netanjahu einlenken
Solange der Protest sich nicht in eine Richtung bewegt, die dem Land richtig weh tun würde, wird die Regierung wohl kaum einlenken. Viele israelische Kommentatoren wünschen sich gerade eine Streikkultur wie in Frankreich herbei: Streiks, die das ganze Land lahmlegen würden, ein Generalstreik gar, so dass der Staat aufhören würde zu funktionieren und die Wirtschaft massiv geschädigt würde. Netanyahu, der sich zu Recht einiges darauf einbildet, sehr viel für die israelische Wirtschaft getan zu haben, dürfte wohl bei diesem Thema am empfindlichsten reagieren. Wenn die Wirtschaft tatsächlich massiv leiden würde – sei es durch Streiks, durch ein Weggehen der Hightech-Giganten, einen Abzug internationalen Kapitals, vor allem aus der Venture Capital-Szene –, dann müsste „Bibi“, wie der Premier in Israel nur genannt wird, wohl umdenken.
Viele begreifen noch nicht, was die Justizreform tatsächlich bedeutet
Kommt es dazu? Zu viele Menschen haben zu viel Bequemlichkeit zu verlieren. Und viele begreifen noch gar nicht richtig, was die Justizreform tatsächlich bedeutet. Viele jüdische Israelis wollen einfach nicht glauben, dass Israel ein autoritäres Regime bekommen könnte. Autoritär — das sind immer diejenigen, die Juden verfolgt haben in der Geschichte. Israel? Undenkbar. Vielleicht haben sie ja recht. Vielleicht wird das Bonmot, dass es bei zwei Juden mindestens drei Meinungen gibt, sich bewahrheiten.
Die Zivilgesellschaft in Israel wird auch Hilfe von außen brauchen
Die Zivilgesellschaft in Israel wird wohl auch Hilfe von außen brauchen. Die Warnung vor einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes, die öffentlich ausgesprochene Ermahnung des US-Außenminister Antony Blinken in Jerusalem, dass Israel und die USA gemeinsame demokratische Grundwerte teilen und auch weiterhin teilen müssen – das sind erste Schritte, die die Gegner Netanyahus begrüßen. Und sie hoffen auf mehr.
Bis Ende März soll die Justizreform „durch“ sein, wenn es nach Justizminister Yariv Levin geht. Das Wort vom „Bürgerkrieg“ macht in Israel die Runde. Die Angst, dass es doch noch zu Gewalt zwischen Israelis kommen könnte, ist groß. Immerhin – von denjenigen, die die aktuelle Regierung gewählt haben, sind knapp 15 % nach letzten Umfragen mit den Plänen nicht einverstanden. Wenn man bedenkt, dass bei den letzten Wahlen beide Lager, die pro-Bibi und anti-Bibi Parteien nur ein paar Punkte hinter dem Komma auseinander waren, dann heißt das, dass es eine klare Mehrheit gegen das Regierungsvorhaben gibt. Doch wird das die neue Regierung Netanyahu interessieren?
Noch sind es acht Wochen bis Ende März. Noch kann viel geschehen. Noch.
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