Israel: Wie fest sitzt Netanyahu im Sattel?

Trotz eindeu­tiger Umfragen und massiver Proteste ist Premier Benjamin Netanyahu noch immer im Amt. Richard C. Schneider über die Erschöpfung der Menschen in Israel, mögliche Szenarien für ein Ende der Regie­rungs­ko­alition – und warum Netanyahu auf Zeit spielt.

Was ist nur los in Israel? Seit Monaten sagen die Umfragen das Gleiche: Mehr als 70 Prozent der Israelis wollen ihren Premier Benjamin Netanyahu loswerden. Seit Monaten schreiben inter­na­tionale Medien das Ende „Bibis“, wie Netanyahu genannt wird, herbei. Und seit Monaten demons­trieren Israelis gegen Netanyahu. Geschehen ist bislang: Nichts.

Wieso wird die israe­lische Gesell­schaft ihren verhassten Premier nicht los?

Nun hoffen Beobachter – zumindest jene, die von Israel keine wirkliche Ahnung haben – dass Netanyahu „jetzt aber wirklich gleich“ stürzen wird, weil doch Benny Gantz die „Notstands­re­gierung“ zusammen mit seinem Partei­freund und Ex-General­stabschef Gadi Eisenkot verlassen hat. Netanyahu jedoch sitzt nach wie vor im Prime Minister Office und plant den „totalen Krieg“ gegen die Hizbollah im Norden. Wieso wird die israe­lische Gesell­schaft ihren verhassten Premier nicht los?

Die Antwort ist vielschichtig – aber nicht wirklich kompli­ziert. Mehrere Faktoren führen zu einer Lähmung der Gesell­schaft gegenüber Netan­yahus Machtanspruch.

Da ist zum einen die totale Erschöpfung der Israelis. Denn ihr Kampf hat nicht erst am 7. Oktober mit dem Massaker der Hamas begonnen. Er begann am 4. Januar 2023, als Justiz­mi­nister Yariv Levin die Pläne für eine illiberale Justiz­reform bekannt gab, die die Gewal­ten­teilung im demokra­ti­schen Israel hätte aufheben sollen. Seitdem ist die israe­lische Gesell­schaft im perma­nenten Ausnah­me­zu­stand – sowohl die Anhänger Netan­yahus wie auch seine Gegner.

Größte innen­po­li­tische Krise in der Geschichte Israels

Die Demons­tra­tionen – aber mehr noch die Spaltung der Gesell­schaft, die den zionis­ti­schen Konsens zerstörte – kosteten die Menschen, frei nach Churchill, „Blut, Schweiß und Tränen“. Woche für Woche für Woche gingen Israelis gegen die Justiz­reform auf die Straße. Aber auch die Befür­worter mobili­sierten und kämpften für ihre Vorstellung eines anderen Israels. Der Hass aufein­ander wuchs, die Wirtschaft begann zu schwä­cheln, freiwillige Reser­visten wollten nicht zum Dienst antreten – Israel befand sich in der größten innen­po­li­ti­schen Krise seiner Geschichte.

Die Menschen in Israel sind erschöpft

Und dann kam das Massaker, das das Trauma der Pogrome und Shoah reakti­vierte. Und schließlich der Krieg, der nun schon seit achteinhalb Monaten andauert und kein Ende zu finden scheint. Die Israelis haben, um es neutral zu formu­lieren, kaum noch „Kapazi­täten“ für einen wirkungs­vollen Aufstand gegen ihren Premier.

Der Konsens der Regierungskoalition

Keine Frage, Bibis Likud, die rechts­extremen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich sowie die ultra­or­tho­doxen Parteien sind sich im Grunde spinne­feind. Sie mögen sich nicht, sie vertrauen einander nicht. Aber sie brauchen einander. Und sie wissen alle, solange sie an der Macht sind, selbst mit verhassten Partnern, sitzen sie an den Fleisch­töpfen des Staates. Sie können nicht nur finan­ziell alles für ihre Ziele und Zwecke heraus­holen, sondern den Staat auch allmählich nach ihren Vorstel­lungen umgestalten.

Die regel­mä­ßigen Drohungen des Natio­nalen Sicher­heits­mi­nisters Ben Gvir, die Koalition platzen zu lassen, wenn Netanyahu nicht tut, was er will, sind daher nur bedingt ernst zu nehmen. Es ist eher eine psycho­lo­gische Kriegs­führung, denn auch Ben Gvir weiß, dass er bei einem Ausstieg aus der Koalition wohl sehr lange auf der Opposi­ti­onsbank sitzen würde. Und diese Bänke sind bekanntlich hart und unbequem

Die Bedrohung als großer gemein­samer Nenner

Auch wenn diese Regierung verhasst ist – es herrscht Krieg. Und letzt­endlich gibt es eine Mehrheit, die nicht nur der Überzeugung ist, dass man die islamis­tische Hamas vernichten muss, sondern die auch daran glaubt, dass dies möglich sei. Und mehr noch: Der Konsens, dass man die Situation im Norden ganz grund­sätzlich verändern müsse, ist felsenfest.

Seit Beginn des Gaza-Krieges bekämpfen sich die schii­tische Hizbollah im Libanon und die israe­lische Armee. Die Kämpfe werden immer heftiger, seit Anfang des Krieges wurden im Norden Israels rund 80 000 Menschen aus ihren Städten und Dörfern evakuiert, sie können bis heute nicht nach Hause zurück­kehren, da die Drohnen, Raketen, Granaten und Panzer­fäuste der Hizbollah ihr Zuhause allmählich zerstören.

Sie wollen jedoch zurück­kehren, in ein sicheres Zuhause. Und sie wissen, dass es dafür wohl kaum eine andere Option gibt, als den Krieg mit der Hizbollah eskalieren zu lassen – auch auf die Gefahr hin, dass große Teile der israe­li­schen Infra­struktur vernichtet und sehr viele israe­lische Zivilisten getötet werden. Man weiß ja, dass dieser Preis früher oder später gezahlt werden muss, warum also nicht jetzt?

Wann müsste Netanyahu sein Amt räumen?

Angesichts all dieser Gründe ist es unwahr­scheinlich, dass Netanyahu sein Amt wird räumen müssen. Es gibt aus der heutigen Sicht nur zwei Möglich­keiten, wie das doch gelingen könnte.

Da wäre zum einen eine Kraft­an­strengung des Volkes. Nicht Zehntau­sende wie derzeit, nicht Hundert­tau­sende wie vor dem 7. Oktober. Eine oder gar zwei Millionen Israelis müssten auf die Straße gehen, um das Ende Netan­yahus zu fordern. Sie müssten das Land zum Erliegen bringen, am besten mit einem General­streik der Gewerk­schaft. Und das nicht nur an einem Tag, sondern an mehreren Tagen hinter­ein­ander, so lange bis Netanyahu abdanken muss, weil das Land nicht mehr regierbar wäre. Die Chancen, dass dies passiert, sind indes gering. Die Israelis sind zu erschöpft, haben ihre Söhne, Brüder und Väter in der Armee und sorgen sich um sie, mehr als um die Regierung.

Umstrit­tenes Gesetz zur Aufhebung der Befreiung der Ultra­or­tho­doxen vom Wehrdienst

„Ein Scheitern des neuen Gesetzes zur Befreiung der Ultra­or­tho­doxen vom Militär­dienst. Dieses Gesetz sollte eigentlich schon verab­schiedet sein, doch es gab Wider­stand. Bei einer ersten Abstimmung hatte Vertei­di­gungs­mi­nister Yoav Gallant dagegen gestimmt, mittler­weile gibt es im Likud weitere Politiker, die dieses Gesetz nicht gutheißen. In der Zwischenzeit hat das Oberste Gericht entschieden, dass ab sofort ultra­or­thodoxe Männer einge­zogen werden müssen. Das setzt die Regie­rungs­ko­alition noch weiter unter Druck. Sie hat nur noch bis Ende Juli Zeit, ihr neues Gesetz durch­zu­bringen. Denn Ende Juli geht die Knesset in die Sommer­pause. Gesucht wird also ein Kompromiss, der von allen mitge­tragen werden kann, doch im Prinzip soll auch weiterhin den Haredim Entge­gen­kommen gezeigt und ihre Söhne nicht einge­zogen werden. Sollte Premier Netanyahu das nicht gelingen, droht ihm die Koalition ausein­an­der­zu­brechen. Hinzu kommt: Wie will er eine Fortsetzung der Befreiung vom Militär­dienst der großen Mehrheit der Israelis verkaufen, deren Söhne, Brüder und Väter in Gaza und an der Nordfront kämpfen, dabei verletzt werden oder fallen? Alle Israelis müssen Opfer bringen, nur die Ultra­or­tho­doxen nicht? Und obendrein sieht eine neue Regelung gleich­zeitig vor, den Militär- und Reser­ve­dienst in allen Bereichen zu verlängern. Das ist fast schon zynisch.

Netanyahu spielt auf Zeit

Netanyahu wird auf alle Fälle versuchen, sich in die Sommer­pause Ende Juli zu retten. Die Knesset kommt dann erst wieder nach drei Monaten zusammen. Und was bis dahin geschieht, wissen sowieso nur die Götter. Mögli­cher­weise befindet sich Israel dann bereits in einem all-out-war mit der Hizbollah. Dann hätten die Israelis ganz andere Probleme. Denn dieser Krieg, der allmählich unaus­weichlich erscheint, würde eine Dimension der Zerstörung auf beiden Seiten bedeuten, die sich selbst die kriegs­er­probten Israelis nicht vorstellen können. Und Netanyahu, falls er diesen Krieg gewinnen würde, hätte dann sogar die Chance, als Kriegsheld wieder­ge­wählt zu werden. So verrückt kann israe­lische Politik sein. Es sollte also niemanden verwundern, falls Bibi tatsächlich auf diese Möglichkeit setzt, um seine Macht erneut zu konso­li­dieren. Der Preis aber wäre aber sehr hoch – für die israe­lische Bevölkerung.

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